Eine Begegnung, die alles in Frage stellt - meisterlich erzählt von Zeruya Shalev
Atara ist zum zweiten Mal verheiratet, doch neuerdings scheint Alex sich immer weiter von ihr zu entfernen. Noch größere Sorgen macht ihr der gemeinsame Sohn, ein Elitesoldat, der nach dem letzten Einsatz kaum das Haus verlässt. Vielleicht um ihre Familie besser zu verstehen, vielleicht um ihr zu entkommen, sucht Atara Rachel auf, die erste Frau ihres Vaters, das große Tabu in Ataras Kindheit. Rachel scheint die Vergangenheit zu verkörpern - sie kämpfte mit dem Vater in der Untergrundmiliz gegen die Engländer und für einen israelischen Staat. Doch die Begegnung der beiden Frauen mündet in einer Katastrophe ...
Atara ist zum zweiten Mal verheiratet, doch neuerdings scheint Alex sich immer weiter von ihr zu entfernen. Noch größere Sorgen macht ihr der gemeinsame Sohn, ein Elitesoldat, der nach dem letzten Einsatz kaum das Haus verlässt. Vielleicht um ihre Familie besser zu verstehen, vielleicht um ihr zu entkommen, sucht Atara Rachel auf, die erste Frau ihres Vaters, das große Tabu in Ataras Kindheit. Rachel scheint die Vergangenheit zu verkörpern - sie kämpfte mit dem Vater in der Untergrundmiliz gegen die Engländer und für einen israelischen Staat. Doch die Begegnung der beiden Frauen mündet in einer Katastrophe ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2021Bücher sollte man nicht planen
FRANKFURT Israels Freiheit: Zeruya Shalev stellt in der Jüdischen Gemeinde ihren Roman "Schicksal" vor
Neulich hat ein Bekannter ihr gesagt, sie hätte ihr neues Buch ebenso gut "Schuld" nennen können. Er habe ganz recht, sagt Zeruya Shalev im ausverkauften Saal des Ignatz-Bubis-Gemeindezentrums an der Savignystraße. Darum gehe es in der Tat: "Noch mehr als sonst." Die Autorin der in knapp zwei Dutzend Sprachen erfolgreichen "Trilogie über die moderne Liebe", ("Liebesleben", "Mann und Frau" und "Späte Familie") ist nach Frankfurt gekommen, um "Schicksal" vorzustellen, ihren sechsten Roman.
Im Berlin Verlag ist er schon im Mai auf Deutsch erschienen, im Gemeindezentrum liest Heidi Ecks vom Schauspiel Frankfurt aus der Übersetzung von Anne Birkenhauer. Erst jetzt gestattet die pandemische Lage Shalev eine kurze Lesereise durch Deutschland. Die Anreise von Ravensburg nach Frankfurt hat länger gedauert als gedacht, rund sieben Stunden im Auto. "Ich bin so froh, dass wir's geschafft haben", sagt die 1959 am See Genezareth geborene Autorin im Gespräch mit Ariella Chmiel, Geschäftsführerin der Münchner Literaturhandlung.
Es geht um Haifa, die Stadt, in der Shalev lebt. "Es gibt so viele Filter zwischen dem Leben und der Literatur. Aber manches findet den Weg hindurch." Wie dieser in Israel immer ungewöhnlichere Ort friedlicher Koexistenz: "Man weiß nicht, wer Jude und Araber ist. Es ist nicht wichtig." Die Rede ist aber auch von der Weisheit des Rabbi Nachman von Brazlaw, radikalzionistischem Terror und dem zerrissenen Land von heute. Und dem Roman, in dem die Architektin Atara die 90 Jahre alte erste Frau ihres Vaters kennenlernt, Rachel, die vor der israelischen Staatsgründung der Untergrundorganisation Lechi angehörte, die Anschläge auf die britische Mandatsmacht verübte.
Auch Shalevs Vater wirkte kurze Zeit in der 1948 verbotenen Gruppierung mit, deren voller Name auf Deutsch "Kämpfer der Freiheit Israels" bedeutet. Allerdings ohne zur Waffe zu greifen oder an Sabotageakten und Attentaten beteiligt gewesen zu sein. Vielleicht gerade deswegen erzählte er seinen Kindern gerne davon. Hätte seine Tochter bloß zugehört: "Ich habe mich, wie viele Kinder, nie dafür interessiert." Nach seinem Tod stellte sie fest, sich an fast nichts zu erinnern.
Was sei übrig von den Träumen von damals, fragt Chmiel. "Zunächst einmal gibt es da einen Staat", antwortet Shalev. Den man kritisieren dürfe. "Aber wir wissen, warum es ihn geben muss." Er sei alles andere als der "safe space", als den Chmiel ihn gerade bezeichnet habe: "Aber wir können alles tun, um ihn sicher zu machen. Denn die existentielle Bedrohung ist noch immer da." Jetzt gehe es darum, den israelischen Rechtsstaat zu bewahren und auf jüdischer Seite gegenüber Arabern und Palästinensern so viel Empathie wie möglich zu entwickeln und dann gefälligst auch zu empfinden. "Ich hoffe, die neue Regierung ist besser als die alte." Gelegentlich scheine es ihr so: "Ich weiß nicht, ob sie gut genug ist." Aber der Staat Israel müsse existieren. "Wir müssen uns noch immer verteidigen. Auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Aber darum geht es."
Herrscht das Schicksal? Oder sind Entscheidungen wichtiger? Shalev ist sich da nicht einmal literarisch sicher. Als beim Schreiben im zweiten Kapitel plötzlich ein chassidischer Mann um die Ecke bog und sich als Sohn Rachels herausstellte, wollte sie ihn zunächst wieder rauswerfen: "Geh weg." Sein Milieu sagte ihr nichts. Aber sie behalte sich beim Schreiben stets Überraschungen vor: "Ich möchte nicht zu viel wissen oder planen." Also blieb der Sohn drin und enthüllte nach und nach seine Bedeutung. Vom Handhaben des Werks geht es zu dem des Lebens: "Wie man es führt, wie man interpretiert, was in ihm vorgeht" - darum kreise der neue Roman. Sie wünschte, sie hätte neben diesen Fragen auch Antworten. Man könne etwas tun, könne handeln. Aber das heiße nicht, dass es funktioniere. "Wir können nur unser Bestes versuchen." Am Schreibtisch, im Leben, im Staat.
FLORIAN BALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
FRANKFURT Israels Freiheit: Zeruya Shalev stellt in der Jüdischen Gemeinde ihren Roman "Schicksal" vor
Neulich hat ein Bekannter ihr gesagt, sie hätte ihr neues Buch ebenso gut "Schuld" nennen können. Er habe ganz recht, sagt Zeruya Shalev im ausverkauften Saal des Ignatz-Bubis-Gemeindezentrums an der Savignystraße. Darum gehe es in der Tat: "Noch mehr als sonst." Die Autorin der in knapp zwei Dutzend Sprachen erfolgreichen "Trilogie über die moderne Liebe", ("Liebesleben", "Mann und Frau" und "Späte Familie") ist nach Frankfurt gekommen, um "Schicksal" vorzustellen, ihren sechsten Roman.
Im Berlin Verlag ist er schon im Mai auf Deutsch erschienen, im Gemeindezentrum liest Heidi Ecks vom Schauspiel Frankfurt aus der Übersetzung von Anne Birkenhauer. Erst jetzt gestattet die pandemische Lage Shalev eine kurze Lesereise durch Deutschland. Die Anreise von Ravensburg nach Frankfurt hat länger gedauert als gedacht, rund sieben Stunden im Auto. "Ich bin so froh, dass wir's geschafft haben", sagt die 1959 am See Genezareth geborene Autorin im Gespräch mit Ariella Chmiel, Geschäftsführerin der Münchner Literaturhandlung.
Es geht um Haifa, die Stadt, in der Shalev lebt. "Es gibt so viele Filter zwischen dem Leben und der Literatur. Aber manches findet den Weg hindurch." Wie dieser in Israel immer ungewöhnlichere Ort friedlicher Koexistenz: "Man weiß nicht, wer Jude und Araber ist. Es ist nicht wichtig." Die Rede ist aber auch von der Weisheit des Rabbi Nachman von Brazlaw, radikalzionistischem Terror und dem zerrissenen Land von heute. Und dem Roman, in dem die Architektin Atara die 90 Jahre alte erste Frau ihres Vaters kennenlernt, Rachel, die vor der israelischen Staatsgründung der Untergrundorganisation Lechi angehörte, die Anschläge auf die britische Mandatsmacht verübte.
Auch Shalevs Vater wirkte kurze Zeit in der 1948 verbotenen Gruppierung mit, deren voller Name auf Deutsch "Kämpfer der Freiheit Israels" bedeutet. Allerdings ohne zur Waffe zu greifen oder an Sabotageakten und Attentaten beteiligt gewesen zu sein. Vielleicht gerade deswegen erzählte er seinen Kindern gerne davon. Hätte seine Tochter bloß zugehört: "Ich habe mich, wie viele Kinder, nie dafür interessiert." Nach seinem Tod stellte sie fest, sich an fast nichts zu erinnern.
Was sei übrig von den Träumen von damals, fragt Chmiel. "Zunächst einmal gibt es da einen Staat", antwortet Shalev. Den man kritisieren dürfe. "Aber wir wissen, warum es ihn geben muss." Er sei alles andere als der "safe space", als den Chmiel ihn gerade bezeichnet habe: "Aber wir können alles tun, um ihn sicher zu machen. Denn die existentielle Bedrohung ist noch immer da." Jetzt gehe es darum, den israelischen Rechtsstaat zu bewahren und auf jüdischer Seite gegenüber Arabern und Palästinensern so viel Empathie wie möglich zu entwickeln und dann gefälligst auch zu empfinden. "Ich hoffe, die neue Regierung ist besser als die alte." Gelegentlich scheine es ihr so: "Ich weiß nicht, ob sie gut genug ist." Aber der Staat Israel müsse existieren. "Wir müssen uns noch immer verteidigen. Auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Aber darum geht es."
Herrscht das Schicksal? Oder sind Entscheidungen wichtiger? Shalev ist sich da nicht einmal literarisch sicher. Als beim Schreiben im zweiten Kapitel plötzlich ein chassidischer Mann um die Ecke bog und sich als Sohn Rachels herausstellte, wollte sie ihn zunächst wieder rauswerfen: "Geh weg." Sein Milieu sagte ihr nichts. Aber sie behalte sich beim Schreiben stets Überraschungen vor: "Ich möchte nicht zu viel wissen oder planen." Also blieb der Sohn drin und enthüllte nach und nach seine Bedeutung. Vom Handhaben des Werks geht es zu dem des Lebens: "Wie man es führt, wie man interpretiert, was in ihm vorgeht" - darum kreise der neue Roman. Sie wünschte, sie hätte neben diesen Fragen auch Antworten. Man könne etwas tun, könne handeln. Aber das heiße nicht, dass es funktioniere. "Wir können nur unser Bestes versuchen." Am Schreibtisch, im Leben, im Staat.
FLORIAN BALKE
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