Ein Kind verschwindet und weiß nichts davon. Ein Arzt wird getötet, zwei Physiker streiten, und ein Kommissar mit tödlichem Kopfweh glaubt nicht an das Prinzip Zufall. Juli Zeh, eine der aufregendsten Autorinnen ihrer Generation, entwirft in ihrem dritten Roman das Szenario eines Mordes, wie wir es uns bisher nicht vorstellen konnten. Virtuos, rasant und scharfsinnig treibt sie ihre Geschichte bis zum grotesken Finale und erklärt ganz nebenbei das physikalische Phänomen der Zeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2007Nicht alle Wecker lügen
Hochgepeitschtes Mittelmaß: „Schilf”, der neue Roman von Juli Zeh, kokettiert mit dem Kosmos und ist darum nicht mal ein guter Regionalkrimi
Ein Geheimnis kann das schlagende Herz eines Buchs sein. Manchmal aber wird ihm das Geheimnisvolle auch bloß von außen aufgedrängt wie ein starker Espresso bei Ermattungszuständen. Gleich zwei dieser Anregungsmittel braucht Juli Zeh für ihren neuen Roman „Schilf”; sie leiht sie sich vom Krimi und von den Rätseln der modernen Physik. „Ein Kommissar”, beginnt sie, „der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeimeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat – und doch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, sein Leben ist eine schräge Musik.”
Wer war der Mörder, und was hält die Welt im Innersten zusammen? Juli Zeh scheint der Ansicht zu sein, viel hilft viel. Daran, dass Interferenzen auftreten könnten, die ihrer Erzählabsicht schaden statt helfen, hat sie nicht gedacht. Denn wenn wir tatsächlich statt in einem Universum in einem Multiversum leben, in dem es keinen Unterschied gibt zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern jede Möglichkeit in einer Parallelwelt ihre eigene Wirklichkeit bekommt, dann leidet darunter natürlich der Reiz des Krimis, welcher darin besteht, dass dem Vieldeutigen Schleier um Schleier entrissen wird, bis zum Schluss die einzige Lösung erscheint.
Aus dem Prolog spricht ein Ehrgeiz, der gern zur Mystifikation greift, aber ersichtlich noch mehr will. „Die Ideen des Menschen”, drunter tut er es nicht – und verhebt sich augenblicklich. Ist dieser Satz, wenn man darüber nachdenkt, nicht ganz falsch? Sind denn das, was Menschen ihrem Leben zugrundelegen, Ideen? Und verhält sich die zustandekommende Praxis dazu wirklich wie die unzulängliche Aufführung zur Partitur? So geht es das ganze Buch hindurch weiter, mit lauter bedeutungsschwangeren Sätzen, die, wenn man näher hinsieht, auseinanderfallen. „Und hier, eine Reuse, die dem Leben ähnelt.” Leser, stutze! „Man kommt leicht hinein und nur schwer wieder heraus.” Aber das stimmt doch gar nicht! Es gibt die schweren Geburten und den Sekundentod. Und selbst wenn es, was ja auch geschieht, umgekehrt kommen sollte, was wäre damit bewiesen? Das Sterben, wenn es so weit war, haben noch alle hingekriegt, da hält uns keine Reuse auf der Erde fest.
Auf derselben Seite findet sich, über Stechmücken gesagt: „,Das sind die Ratten unter den Hexapoden. – Sechsfüßler‘, ergänzte er”. Schon die Behauptung, dass Tauben die Ratten der Lüfte seien, hatte keinen besonderen Erhellungswert gehabt; lästig sind sie halt, eklig vielleicht dazu, wie andere Tiere auch. Dass auch Mücken wie Ratten wären, kann man nur als einen lahmen Nachklapp bezeichnen, der zudem durch den Augenschein der Größenverhältnisse nicht gedeckt wird. Und wozu dienen die Hexapoden, deren fremdwörtlichem Charme die auf den Fuß folgende Erklärung auch noch allen Wind aus den Segeln nimmt?
Überall kommt das Fahrlässige als das Tiefe daher; am unverzeihlichsten dort, wo es die Dialoge bestimmt. Denn die Figuren reden so: „,Ich bin auch Zeitforscher. Früher lag ich oft im Bett und habe versucht, einen Augenblick zu fangen. Ich habe gelauert und dann auf einmal jetzt geflüstert, aber der Augenblick war immer entweder noch nicht da oder schon vorbei. Heute weiß ich natürlich, dass die Zeit ganz anders ist. Und dass die da‘, er zeigt auf einen tickenden Wecker neben dem Bett, ‚alle lügen.‘”
So spricht ein Zehnjähriger, dessen Aufgewecktheit es verdeutlichen soll. Aber weder ist das besonders aufgeweckt (banal ist es vielmehr), noch möchte man diesem Zehnjährigen Glauben schenken. Die Autorin hat kein Vertrauen zu ihren Figuren und haucht ihnen darum kein Leben ein. Stattdessen müssen, wie bei Kasperle-Puppen, krasse Attribute des Interessanten herhalten.
Die beiden Hauptakteure, die antagonistischen Physiker Sebastian und Oskar, müssen sich wie Faust und Mephisto gebärden und natürlich die beiden wichtigsten Nachwuchsphysiker überhaupt sein. (Drunter tut es Juli Zeh nun einmal nicht, obwohl ihre esoterisch gefärbte Physik selbst einem Laien den Laien verrät.) Persönlich sind sie, mit homoerotischen Anklängen, innigst befreundet, in ihrer Theoriebildung verfeindet aufs Äußerste. Beides, das Äußerste und das Innige, gelangt indes über die Behauptung nicht hinaus. Sebastian hat an der Freundschaft durch die Familiengründung sozusagen Verrat begangen, die Frau allerdings ist wunderschön, genauer: „Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau, die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Sonnenuntergang zu reiten.” Ist das denn eine bestimmte Sorte, die sich durch den Zug aufs Pferd von anderen Sorten unterscheiden lässt? So aber geht Charakterisierung bei Juli Zeh.
Das gilt selbst und gerade vom titelgebenden Kommissar Schilf, der als ganz und gar eigenwilliger, unverwechselbarer Charakter figurieren soll. Um das Besondere dieses Falls über allen Zweifel zu stellen, muss es auch noch sein letzter sein, denn der Kommissar leidet an einem rapide voranschreitenden Hirntumor. Sein Ermittlungsverfahren besteht in der träumerischen Aufgeschlossenheit für den Zufall. „Zufälle versteht er als Metaphern, in Widersprüchen erkennt er Oxymora, das wiederholte Auftreten von Details liest er als Leitmotiv. Wenn sich ein hohles Gefühl in der Magengrube einstellt, als befände sich Schilf auf einer Flugbahn am Scheitelpunkt der Parabel, greift er instinktiv nach dem nächstbesten Halt (Tischkante, Türrahmen, Waschbeckenrand) und erntet die Früchte seiner Anstrengungen: Ahnungen, Wachträume, Déjà-Vus.” Dass solche Fahndungsmethoden den Spannungsbogen eher flach halten, versteht sich.
Der Plot schließlich wird mit derartiger Gewolltheit und Gewaltsamkeit zusammenkonstruiert, dass kaum etwas anderes als das strenge Urteil „albern” am Platz ist. Die Handlung spielt in Freiburg und Umgebung. Sebastians Sohn wird entführt; der Entführer verlangt am Telefon „Dabbeling muss weg”. Der Leser kann die Situation nicht wirklich ernst nehmen, weil die Autorin es auch nicht tut. Dabbeling, das ist der Radsportfreund von Sebastians Ehefrau Maike und von Beruf Oberarzt. An seiner Klinik in Freiburg treibt ein dubioser Professor sein Wesen, der nicht davor zurückschreckt, seine Beziehungen spielen zu lassen(vergebens freilich).
In der einzigen Szene des Buchs, die frische Erfindungs- und Gestaltungskraft besitzt, spannt Sebastian ein Stahlseil über die Straße, wo Dabbeling auf seinem Rennrad vorbeikommt, und überlässt es dem Opfer selbst, sich beim Sprint bergab damit zu köpfen. Dabbeling, diesem Namen begegnet der Leser von Anfang an mit Argwohn – zurecht, wie sich erweist. Es steckt darin ein sozusagen physikalisches Missverständnis, und dahinter zuletzt die Rivalität von Sebastian und Oskar. Man soll bei Krimis fairerweise die Lösung nicht ausplaudern, auch wenn man sie schlecht findet. Aber man darf doch sagen: Sie werden enttäuscht sein.
Dieses Buch stellt einen eher traurigen als ärgerlichen Fall dar. Hätte es seine Ansprüche weniger hoch geschraubt und sich damit begnügt, z.B. ein deutscher Regionalkrimi zu sein, so wäre möglicherweise etwas Passables herausgekommen (obwohl selbst dann die Schwäche der Figurenbehandlung fortbestünde). So aber lebt es über seine poetischen und intellektuellen Verhältnisse und unternimmt verzweifelte Versuche, das sehr wohl empfundene Defizit zu decken. Es resultiert etwas, das im Einzelnen naseweis ist und überdreht als Ganzes. BURKHARD MÜLLER
JULI ZEH: Schilf. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2007. 383 Seiten, 19,90 Euro.
Juli Zeh Foto: dpa
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Hochgepeitschtes Mittelmaß: „Schilf”, der neue Roman von Juli Zeh, kokettiert mit dem Kosmos und ist darum nicht mal ein guter Regionalkrimi
Ein Geheimnis kann das schlagende Herz eines Buchs sein. Manchmal aber wird ihm das Geheimnisvolle auch bloß von außen aufgedrängt wie ein starker Espresso bei Ermattungszuständen. Gleich zwei dieser Anregungsmittel braucht Juli Zeh für ihren neuen Roman „Schilf”; sie leiht sie sich vom Krimi und von den Rätseln der modernen Physik. „Ein Kommissar”, beginnt sie, „der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeimeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders, als der Kommissar gedacht hat – und doch genau so. Die Ideen des Menschen sind die Partitur, sein Leben ist eine schräge Musik.”
Wer war der Mörder, und was hält die Welt im Innersten zusammen? Juli Zeh scheint der Ansicht zu sein, viel hilft viel. Daran, dass Interferenzen auftreten könnten, die ihrer Erzählabsicht schaden statt helfen, hat sie nicht gedacht. Denn wenn wir tatsächlich statt in einem Universum in einem Multiversum leben, in dem es keinen Unterschied gibt zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern jede Möglichkeit in einer Parallelwelt ihre eigene Wirklichkeit bekommt, dann leidet darunter natürlich der Reiz des Krimis, welcher darin besteht, dass dem Vieldeutigen Schleier um Schleier entrissen wird, bis zum Schluss die einzige Lösung erscheint.
Aus dem Prolog spricht ein Ehrgeiz, der gern zur Mystifikation greift, aber ersichtlich noch mehr will. „Die Ideen des Menschen”, drunter tut er es nicht – und verhebt sich augenblicklich. Ist dieser Satz, wenn man darüber nachdenkt, nicht ganz falsch? Sind denn das, was Menschen ihrem Leben zugrundelegen, Ideen? Und verhält sich die zustandekommende Praxis dazu wirklich wie die unzulängliche Aufführung zur Partitur? So geht es das ganze Buch hindurch weiter, mit lauter bedeutungsschwangeren Sätzen, die, wenn man näher hinsieht, auseinanderfallen. „Und hier, eine Reuse, die dem Leben ähnelt.” Leser, stutze! „Man kommt leicht hinein und nur schwer wieder heraus.” Aber das stimmt doch gar nicht! Es gibt die schweren Geburten und den Sekundentod. Und selbst wenn es, was ja auch geschieht, umgekehrt kommen sollte, was wäre damit bewiesen? Das Sterben, wenn es so weit war, haben noch alle hingekriegt, da hält uns keine Reuse auf der Erde fest.
Auf derselben Seite findet sich, über Stechmücken gesagt: „,Das sind die Ratten unter den Hexapoden. – Sechsfüßler‘, ergänzte er”. Schon die Behauptung, dass Tauben die Ratten der Lüfte seien, hatte keinen besonderen Erhellungswert gehabt; lästig sind sie halt, eklig vielleicht dazu, wie andere Tiere auch. Dass auch Mücken wie Ratten wären, kann man nur als einen lahmen Nachklapp bezeichnen, der zudem durch den Augenschein der Größenverhältnisse nicht gedeckt wird. Und wozu dienen die Hexapoden, deren fremdwörtlichem Charme die auf den Fuß folgende Erklärung auch noch allen Wind aus den Segeln nimmt?
Überall kommt das Fahrlässige als das Tiefe daher; am unverzeihlichsten dort, wo es die Dialoge bestimmt. Denn die Figuren reden so: „,Ich bin auch Zeitforscher. Früher lag ich oft im Bett und habe versucht, einen Augenblick zu fangen. Ich habe gelauert und dann auf einmal jetzt geflüstert, aber der Augenblick war immer entweder noch nicht da oder schon vorbei. Heute weiß ich natürlich, dass die Zeit ganz anders ist. Und dass die da‘, er zeigt auf einen tickenden Wecker neben dem Bett, ‚alle lügen.‘”
So spricht ein Zehnjähriger, dessen Aufgewecktheit es verdeutlichen soll. Aber weder ist das besonders aufgeweckt (banal ist es vielmehr), noch möchte man diesem Zehnjährigen Glauben schenken. Die Autorin hat kein Vertrauen zu ihren Figuren und haucht ihnen darum kein Leben ein. Stattdessen müssen, wie bei Kasperle-Puppen, krasse Attribute des Interessanten herhalten.
Die beiden Hauptakteure, die antagonistischen Physiker Sebastian und Oskar, müssen sich wie Faust und Mephisto gebärden und natürlich die beiden wichtigsten Nachwuchsphysiker überhaupt sein. (Drunter tut es Juli Zeh nun einmal nicht, obwohl ihre esoterisch gefärbte Physik selbst einem Laien den Laien verrät.) Persönlich sind sie, mit homoerotischen Anklängen, innigst befreundet, in ihrer Theoriebildung verfeindet aufs Äußerste. Beides, das Äußerste und das Innige, gelangt indes über die Behauptung nicht hinaus. Sebastian hat an der Freundschaft durch die Familiengründung sozusagen Verrat begangen, die Frau allerdings ist wunderschön, genauer: „Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau, die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Sonnenuntergang zu reiten.” Ist das denn eine bestimmte Sorte, die sich durch den Zug aufs Pferd von anderen Sorten unterscheiden lässt? So aber geht Charakterisierung bei Juli Zeh.
Das gilt selbst und gerade vom titelgebenden Kommissar Schilf, der als ganz und gar eigenwilliger, unverwechselbarer Charakter figurieren soll. Um das Besondere dieses Falls über allen Zweifel zu stellen, muss es auch noch sein letzter sein, denn der Kommissar leidet an einem rapide voranschreitenden Hirntumor. Sein Ermittlungsverfahren besteht in der träumerischen Aufgeschlossenheit für den Zufall. „Zufälle versteht er als Metaphern, in Widersprüchen erkennt er Oxymora, das wiederholte Auftreten von Details liest er als Leitmotiv. Wenn sich ein hohles Gefühl in der Magengrube einstellt, als befände sich Schilf auf einer Flugbahn am Scheitelpunkt der Parabel, greift er instinktiv nach dem nächstbesten Halt (Tischkante, Türrahmen, Waschbeckenrand) und erntet die Früchte seiner Anstrengungen: Ahnungen, Wachträume, Déjà-Vus.” Dass solche Fahndungsmethoden den Spannungsbogen eher flach halten, versteht sich.
Der Plot schließlich wird mit derartiger Gewolltheit und Gewaltsamkeit zusammenkonstruiert, dass kaum etwas anderes als das strenge Urteil „albern” am Platz ist. Die Handlung spielt in Freiburg und Umgebung. Sebastians Sohn wird entführt; der Entführer verlangt am Telefon „Dabbeling muss weg”. Der Leser kann die Situation nicht wirklich ernst nehmen, weil die Autorin es auch nicht tut. Dabbeling, das ist der Radsportfreund von Sebastians Ehefrau Maike und von Beruf Oberarzt. An seiner Klinik in Freiburg treibt ein dubioser Professor sein Wesen, der nicht davor zurückschreckt, seine Beziehungen spielen zu lassen(vergebens freilich).
In der einzigen Szene des Buchs, die frische Erfindungs- und Gestaltungskraft besitzt, spannt Sebastian ein Stahlseil über die Straße, wo Dabbeling auf seinem Rennrad vorbeikommt, und überlässt es dem Opfer selbst, sich beim Sprint bergab damit zu köpfen. Dabbeling, diesem Namen begegnet der Leser von Anfang an mit Argwohn – zurecht, wie sich erweist. Es steckt darin ein sozusagen physikalisches Missverständnis, und dahinter zuletzt die Rivalität von Sebastian und Oskar. Man soll bei Krimis fairerweise die Lösung nicht ausplaudern, auch wenn man sie schlecht findet. Aber man darf doch sagen: Sie werden enttäuscht sein.
Dieses Buch stellt einen eher traurigen als ärgerlichen Fall dar. Hätte es seine Ansprüche weniger hoch geschraubt und sich damit begnügt, z.B. ein deutscher Regionalkrimi zu sein, so wäre möglicherweise etwas Passables herausgekommen (obwohl selbst dann die Schwäche der Figurenbehandlung fortbestünde). So aber lebt es über seine poetischen und intellektuellen Verhältnisse und unternimmt verzweifelte Versuche, das sehr wohl empfundene Defizit zu decken. Es resultiert etwas, das im Einzelnen naseweis ist und überdreht als Ganzes. BURKHARD MÜLLER
JULI ZEH: Schilf. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2007. 383 Seiten, 19,90 Euro.
Juli Zeh Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Überall Vögel, aber wo ist Hitchcock?
Vom Adler zum Papagei: Juli Zeh spannt auf die Krimi-Folter / Von Tilmann Lahme
Zuerst das Gute: Der neue Roman von Juli Zeh ist weniger lang als seine Vorgänger. Mit knapp vierhundert Seiten kommt sie in "Schilf" aus.
Und nun zum anderen.
Juli Zeh, 33 Jahre alt, beladen mit Preisen und Stipendien, Lob ("ein Roman von Juli Zeh ist immer ein Abenteuer" - "Brigitte") und Ablehnung ("annähernd apokalyptisch altkluge Angeberin und Schwallmadame" - "Titanic"), hat noch in jedem ihrer drei Romane aufs Große geschielt. Bedeutungsschwer, tiefschürfend und theoriebefrachtet sollen sie sein, und so geht es nach Rechtsphilosophischem ("Adler und Engel"), Spieltheoretischem ("Spieltrieb") jetzt um Zeit und Raum.
Oskar und Sebastian sind physikalische Genies, arrogant und um sich selbst kreisend, vor denen schon im Studium alle ehrerbietig auf die Knie sanken. Jahre später haben sich ihre Wege getrennt, persönlich und wissenschaftlich. Sebastian ist verheiratet und Vater eines zehnjährigen Jungen, Liam, und vertritt als Professor in Freiburg die "Viele-Welten-Interpretation", nach der es parallele Welten neben der von uns wahrgenommenen gibt. "Alles, was möglich ist, geschieht", überschreibt er einen populärwissenschaftlichen Artikel hierzu. Oskar hingegen hält die Welt für ein "Feingespinst aus Kausalität" und strebt danach, die Quantenmechanik mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen.
Juli Zeh zwingt ihre Leser in ein Proseminar über das Wesen der Zeit und lässt die beiden ihre Ansichten in hölzernen Dialogen vortragen. Dann kommt die Praxis. Sebastians Sohn wird entführt, er selbst muss, um Liams Leben zu retten, einen Mord begehen. Ein Kommissar namens Schilf, der an Columbo erinnert und todkrank ist, betritt die Bühne, beteiligt sich am Schwadronieren über Kausalität und Zeit und löst schließlich den Fall, der sich als großes Missverständnis herausstellt. Und nicht nur das, Schilf rettet auch den armen Mörder, indem er dessen "Nötigungsnotstand" nachweist. Warum er das tut? Weil die "Vielen Welten" ihm Trost im Angesicht des Todes spenden.
Das ist alles so fürchterlich, wie es klingt, und matt der Trost, dass das Geschehen gar nicht im Zentrum des Romans steht. Die Figuren, die allesamt blass und blutleer bleiben, sind lediglich Thesenträger. Und Juli Zeh führt vor, wie sie ihr angelesenes Wissen vorzutragen weiß. Der mühsam konstruierte Kriminalfall interessiert sie wenig. Ja, sie signalisiert laufend: Dies ist nicht leichte U-Kost, sondern schwere E-Speise. "Höchste Zeit für den Mord" heißt es in der Kapitelüberschrift vor der Tat, krampfhaft selbstironisch. Und Schilf, der erst nach hundertfünfzig Seiten auftaucht, wird so angekündigt: "Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel."
Dann verteilt Juli Zeh noch ein paar Hiebe aufs Krimigenre, etwa auf die "vom deutschen Realismus zu Tode bürokratisierten Fernsehkrimis". Wobei das mit dem Bürokratismus seltsam ist angesichts einer Autorin, die ihren Protagonisten, die Nase in den Waldboden gedrückt, darüber sinnieren lässt, ob er "einen Aufnahmeantrag bei den Ameisen" stellen solle. Oder der die Wirklichkeit als "Vertrag zwischen sechs Milliarden Menschen" definiert, den er einseitig habe kündigen müssen, so dass sein Tag nun kein "Echtheitszertifikat" mehr aufweise.
Hinzu kommt Juli Zehs unerwiderte Liebe zur Metapher. Laternen tragen "weite Röcke aus Licht", Strommasten stehen "neben ihren langgezogenen Schatten stramm", der Wind "jongliert am Himmel mit Schwalben" und immer so weiter. Zudem wimmelt es von literarischen Kratzfüßen und von Tieren - es ist ein bemühtes Spiel mit allerlei, der Erzählperspektive etwa. Überall Vögel, aber von Hitchcock keine Spur.
Die "Viele Welten"-Debatte verkommt schließlich, nach so viel spickzettelraschelnder Mühe und marternder Geschwätzigkeit, zum Anlass für eine Beziehungstat. Kurios, wie genretypisch das ist. Während Sebastian sich nicht für eine seiner Welten entscheiden kann, die der Familie oder die seiner Homo-Beziehung zu Oskar, bleibt von all den physikalisch-philosophischen Debatten nur ein lauer Hauch von Eskapismus übrig.
Juli Zeh will sich nun, hört man, ihrer juristischen Doktorarbeit zuwenden. Da kann sie weiter Thesenklappriges stapeln. Und das Beste: Lesen muss es nur einer.
Juli Zeh: "Schilf". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007. 383 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Adler zum Papagei: Juli Zeh spannt auf die Krimi-Folter / Von Tilmann Lahme
Zuerst das Gute: Der neue Roman von Juli Zeh ist weniger lang als seine Vorgänger. Mit knapp vierhundert Seiten kommt sie in "Schilf" aus.
Und nun zum anderen.
Juli Zeh, 33 Jahre alt, beladen mit Preisen und Stipendien, Lob ("ein Roman von Juli Zeh ist immer ein Abenteuer" - "Brigitte") und Ablehnung ("annähernd apokalyptisch altkluge Angeberin und Schwallmadame" - "Titanic"), hat noch in jedem ihrer drei Romane aufs Große geschielt. Bedeutungsschwer, tiefschürfend und theoriebefrachtet sollen sie sein, und so geht es nach Rechtsphilosophischem ("Adler und Engel"), Spieltheoretischem ("Spieltrieb") jetzt um Zeit und Raum.
Oskar und Sebastian sind physikalische Genies, arrogant und um sich selbst kreisend, vor denen schon im Studium alle ehrerbietig auf die Knie sanken. Jahre später haben sich ihre Wege getrennt, persönlich und wissenschaftlich. Sebastian ist verheiratet und Vater eines zehnjährigen Jungen, Liam, und vertritt als Professor in Freiburg die "Viele-Welten-Interpretation", nach der es parallele Welten neben der von uns wahrgenommenen gibt. "Alles, was möglich ist, geschieht", überschreibt er einen populärwissenschaftlichen Artikel hierzu. Oskar hingegen hält die Welt für ein "Feingespinst aus Kausalität" und strebt danach, die Quantenmechanik mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen.
Juli Zeh zwingt ihre Leser in ein Proseminar über das Wesen der Zeit und lässt die beiden ihre Ansichten in hölzernen Dialogen vortragen. Dann kommt die Praxis. Sebastians Sohn wird entführt, er selbst muss, um Liams Leben zu retten, einen Mord begehen. Ein Kommissar namens Schilf, der an Columbo erinnert und todkrank ist, betritt die Bühne, beteiligt sich am Schwadronieren über Kausalität und Zeit und löst schließlich den Fall, der sich als großes Missverständnis herausstellt. Und nicht nur das, Schilf rettet auch den armen Mörder, indem er dessen "Nötigungsnotstand" nachweist. Warum er das tut? Weil die "Vielen Welten" ihm Trost im Angesicht des Todes spenden.
Das ist alles so fürchterlich, wie es klingt, und matt der Trost, dass das Geschehen gar nicht im Zentrum des Romans steht. Die Figuren, die allesamt blass und blutleer bleiben, sind lediglich Thesenträger. Und Juli Zeh führt vor, wie sie ihr angelesenes Wissen vorzutragen weiß. Der mühsam konstruierte Kriminalfall interessiert sie wenig. Ja, sie signalisiert laufend: Dies ist nicht leichte U-Kost, sondern schwere E-Speise. "Höchste Zeit für den Mord" heißt es in der Kapitelüberschrift vor der Tat, krampfhaft selbstironisch. Und Schilf, der erst nach hundertfünfzig Seiten auftaucht, wird so angekündigt: "Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel."
Dann verteilt Juli Zeh noch ein paar Hiebe aufs Krimigenre, etwa auf die "vom deutschen Realismus zu Tode bürokratisierten Fernsehkrimis". Wobei das mit dem Bürokratismus seltsam ist angesichts einer Autorin, die ihren Protagonisten, die Nase in den Waldboden gedrückt, darüber sinnieren lässt, ob er "einen Aufnahmeantrag bei den Ameisen" stellen solle. Oder der die Wirklichkeit als "Vertrag zwischen sechs Milliarden Menschen" definiert, den er einseitig habe kündigen müssen, so dass sein Tag nun kein "Echtheitszertifikat" mehr aufweise.
Hinzu kommt Juli Zehs unerwiderte Liebe zur Metapher. Laternen tragen "weite Röcke aus Licht", Strommasten stehen "neben ihren langgezogenen Schatten stramm", der Wind "jongliert am Himmel mit Schwalben" und immer so weiter. Zudem wimmelt es von literarischen Kratzfüßen und von Tieren - es ist ein bemühtes Spiel mit allerlei, der Erzählperspektive etwa. Überall Vögel, aber von Hitchcock keine Spur.
Die "Viele Welten"-Debatte verkommt schließlich, nach so viel spickzettelraschelnder Mühe und marternder Geschwätzigkeit, zum Anlass für eine Beziehungstat. Kurios, wie genretypisch das ist. Während Sebastian sich nicht für eine seiner Welten entscheiden kann, die der Familie oder die seiner Homo-Beziehung zu Oskar, bleibt von all den physikalisch-philosophischen Debatten nur ein lauer Hauch von Eskapismus übrig.
Juli Zeh will sich nun, hört man, ihrer juristischen Doktorarbeit zuwenden. Da kann sie weiter Thesenklappriges stapeln. Und das Beste: Lesen muss es nur einer.
Juli Zeh: "Schilf". Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007. 383 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Man hält das Buch in den Händen wie ein kostbares Kleinod, so prall gefüllt ist es mit überraschenden Erkenntnissen, schönen Sätzen, poetischen Bildern und kunstvollen Dialogen. Kein Zweifel: Juli Zeh schreibt ganz wunderbar." Amelie Fried