Drei ganz normale Tage im Leben von Elizabeth Kiehl (Lavinia Wilson): Kindererziehung, Biokost und Therapie bei Frau Drescher (Juliane Köhler) gehören ebenso dazu wie gemeinsame Bordellbesuche mit ihrem Mann Georg (Jürgen Vogel). Doch Elizabeth, Anfang 30, ist hochneurotisch, ständig in Sorge und hat Angst vor allem - außer beim Sex ...
Schoßgebete erzählt von Ehe und Familie wie kein Filmzuvor. Radikal offen, selbstbewusst und voller grimmigem Humor ist es die Geschichte einer so unerschrockenen wie verletzlichen jungen Frau.
Schoßgebete erzählt von Ehe und Familie wie kein Filmzuvor. Radikal offen, selbstbewusst und voller grimmigem Humor ist es die Geschichte einer so unerschrockenen wie verletzlichen jungen Frau.
CD | |||
1 | Schoßgebete - Track 1 | ||
2 | Schoßgebete - Track 2 | ||
3 | Schoßgebete - Track 3 | ||
4 | Schoßgebete - Track 4 | ||
5 | Schoßgebete - Track 5 | ||
6 | Schoßgebete - Track 6 | ||
7 | Schoßgebete - Track 7 | ||
8 | Schoßgebete - Track 8 | ||
9 | Schoßgebete - Track 9 | ||
10 | Schoßgebete - Track 10 | ||
11 | Schoßgebete - Track 11 | ||
12 | Schoßgebete - Track 12 | ||
13 | Schoßgebete - Track 13 | ||
14 | Schoßgebete - Track 14 | ||
15 | Schoßgebete - Track 15 | ||
16 | Schoßgebete - Track 16 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2011Der Riss in der Decke
Ein irre indiskretes Buch hat Charlotte Roche geschrieben, sagen die Kritiker. Die einen feiern, die anderen hassen sie dafür. Dabei ist der Kern des Werks die Stille
Das ist kein Buch über Sex - was man schon daran merken kann, dass es mit Oralsex beginnt, sechzehn Seiten lang, sehr kühl und genau beschrieben, und mit Analsex hört es auf; kurz zuvor war der Text knapp zehn Seiten lang im Bordell, wo die Erzählerin ein paar stimmungsvolle Stunden mit ihrem Mann und einer Prostituierten hatte; und wenn "Schoßgebete", dieser knapp dreihundertseitige Monolog, gerade kein anderes Thema hat, geht es immer wieder um die Frage, ob das Ich des Textes sich demnächst endlich mal trauen werde, den eigenen Mann zu betrügen, obwohl doch dessen Kraft und Kompetenz als Liebhaber dauernd beschworen werden. Wer aber ständig vom Sex spricht, hat eher keinen: Das lehrt das sogenannte Leben. Und wer so viel und so genau über Sex schreibt (und dabei nicht bloß die Lust der Leser stimulieren will), der will anscheinend auf etwas ganz anderes hinaus.
Das ist auch kein Buch über Charlotte Roche - obwohl die Autorin in fast jedem Interview ganz offen und ohne einen großen Unterschied zu machen, über all die Dinge spricht, welche sie, Charlotte Roche, mit ihrer Heldin und Erzählerin Elizabeth Kiehl gemeinsam hat. Und das sind nicht nur Alter, Körperbau, Haarfarbe und die englische Herkunft; das sind auch die furchtbaren Unglücksfälle in der Familie, die das eigentliche Thema der Erzählung sind; und es ist der starke Hass, den beide, Frau Roche und Frau Kiehl, seitdem gegen die "Bild"-Zeitung (die im Buch ein Pseudonym hat) und den Vorstandsvorsitzenden des Springer-Konzerns empfinden, was an der Art liegt, wie "Bild" über diesen Unfall berichtet hat.
Wer die "Schoßgebete" aber als einen Bericht über das Leben und die Meinungen der Charlotte Roche lesen will, wirft damit sofort die Frage auf, wer diese Charlotte Roche eigentlich sei und was diese Autorin ihn kümmern müsse, und die Antwort ginge ungefähr so: Charlotte Roche war früher mal beim Fernsehen, wurde aber viel berühmter durch ihr erstes Buch "Feuchtgebiete", einen Roman über die Meinungen, Gefühle und den Körper einer Achtzehnjährigen, den die meisten Leser anscheinend auch als die Selbstauskunft der Autorin gelesen haben. Man müsste Charlotte Roche über Charlotte Roche also vor allem deshalb lesen, weil Charlotte Roche über Charlotte Roche schreibt.
Wem das zu tautologisch ist, der kann ja mal versuchen, den Text seiner Autorin zu entreißen, was schon deshalb ein grausamer Akt ist, weil Charlotte Roche anscheinend das Gegenteil will; sie krallt sich fest an diesem Buch, und in jedem Interview kämpft sie darum, die Deutungshoheit über ihren eigenen Text zu retten. Es hilft aber alles nichts, wenn die Werke sprechen, müssen deren Schöpfer die Klappe halten. Und der Text wird umso interessanter, je weniger man auf das Interviewgeplapper seiner Autorin hört. "Schoßgebete" ist nämlich ein Buch über den Tod - was man anfangs auch deshalb nicht merkt, weil man dauernd fürchtet, dass hier als allererstes die Sprache krepiert, so egal scheinen Charlotte Roche die eigenen Begriffe zu sein. Über die Therapeutin der Erzählerin heißt es einmal: "Sie hat mir psychisch ganz oft das Leben gerettet." Aha, möchte man da sagen: Wer rettet aber die deutsche Sprache vor solchen Labersätzen.
Und, kleine Stichprobe auf der gegenüberliegenden Seite: "Bei uns wird vor dem Kind aus Vorbildfunktion kein Alkohol getrunken, und alle Getränke aus Zucker sind bei uns verboten, zum einen aus ganz normaler Amerikafeindlichkeit und weil sie auch sehr ungesund sind." Ein paar Seiten vorher hat Elizabeth Kiehl davon erzählt, dass sie gern koche, aber niemals mit Glutamat, weil das Kind und der Mann sich nicht an geschmacksverstärktes Essen gewöhnen dürfen. Charlotte Roches Sprach-Glutamat ist aber das Wörtchen "ganz", das sie in jeden dritten oder vierten Satz hineinschreibt - wo immer eine Menge oder eine Intensität beschworen werden soll und die Autorin aber gerade keine Zeit oder keine Lust hatte, sich ein bisschen Mühe zu geben mit der Suche nach einem einigermaßen präzisen Begriff dafür.
Klar, das ist Rollenprosa, und die Rolle, welche das Ich hier spielt, ist die der Nervensäge, der Dauerüberforderten und, wenn man dann tiefer hineinhört in den Text, die Rolle einer Verzweifelten, die schon deshalb immerfort mit sich selber sprechen muss, weil, wenn es einen Moment lang still wäre in diesem Kopf, sofort die fürchterlichsten Bilder kämen, die Erinnerungen, mit denen Elizabeth Kiehl nicht fertig wird.
Was aber auch nichts daran ändert, dass dieser Text, gerade auf den ersten vierzig, fünfzig Seiten, dort, wo Charlotte Roche sich gewissermaßen warm zu schreiben und in Schwung zu bringen versucht, so häufig läppisch, unkonzentriert, geschwätzig klingt. Und damit dieser Befund nicht mit dem Genörgel der notorischen Abendlandsverteidiger verwechselt wird, mit dem Hohn jener Kritiker, die Charlotte Roche nicht hereinlassen wollen in die deutsche Literatur und die dauernd den hohen Ton fordern, ohne ihn selbst je zu treffen: Damit solche Missverständnisse gar nicht erst entstehen, muss hier auf den wunderbaren Autor Wolfgang Herrndorf verwiesen werden, auf den (im vergangenen Herbst erschienenen) Roman "Tschick", dessen ganze Schönheit und poetische Kraft daher rührte, dass Herrndorf den beschränkten Wortschatz und den pubertären Jargon eines 14-Jährigen zum Rohstoff nahm und daraus seine präzise Prosa formte. Selbst Helene Hegemann rang, in den besseren Passagen von "Axolotl Roadkill", den mauligen und redundanten Dialogen des Berliner Nachtlebens etwas ab, das man wohl ihren Stil nennen muss.
Nein, einen Stil hat Charlotte Roches Prosa nicht, es ist mehr so, wie man halt plappert, wenn einem keiner widerspricht - und womöglich ist ja genau das, diese Formlosigkeit und Ungeschliffenheit der Sprache, vielleicht ist das die wichtigste Ursache des Erfolgs. Es sind barrierefreie Sätze, man kommt da ohne Schwierigkeiten hinein, weiß sofort, was gemeint ist, hat hundert Referenzen aus dem eigenen Alltag, man kann, wo der Text endet, problemlos im gleichen Tonfall weitersprechen, weiterschreiben - und vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass in den vielen Interviews von Sprache, Stil, von Literatur eigentlich nie die Rede ist. Und umso mehr von Sex und Nicht-Sex, von Männern, Kindern und natürlich von Charlotte Roche. Es ist, als würden die "Schoßgebete" auf Magazinseiten und vor Fernsehkameras immer weitergeschrieben. Der Kritiker der "Zeit" bekannte, er habe den Anfang des Buchs wie eine Gebrauchsanleitung gelesen (und seine Sätze kicherten dabei). Der Kritiker der "Süddeutschen Zeitung" gab zu, dass er sich von so viel Sex belästigt fühle, einmal im Monat sei doch genug; und im Übrigen solle man mehr Aufhebens vom Essen und dem Wohnen und weniger von der körperlichen Liebe machen. Oje, möchte man da stöhnen, so genau wollte ich es aber gar nicht wissen, mir reichen schon Ihre Geschmacksurteile. Und zugleich spricht es eher für als gegen Charlotte Roche, dass selbst die Verrisse gewissermaßen Fortschreibungen ihrer Prosa sind, Indiskretionen von Leuten, die ihr einen Mangel an Diskretion und Delikatesse vorwerfen.
Es scheint da eine Kraft zu wirken, es findet sich, wenn man an der Oberfläche der Floskeln kratzt, eine Substanz: Es ist, wenn man ein wenig Distanz zu all den Beschreibungen und Behauptungen gewinnt, als schaute man dem Text dabei zu, wie er langsam zu sich selber kommt - und den Anfangsverdacht, dass dieses Buch nur einen selbstbewussteren Lektor hätte brauchen können, einen, der den Anfang verknappt und manchen Absatz der Autorin zum Nochmalschreiben zurückgegeben hätte, diesen Anfangsverdacht möchte man auch nicht aufrechterhalten, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, schon weil zum Schluss hin der Verdacht aufkommt, dass der Text womöglich klüger als seine Autorin sei. Es ist evident, dass da viel Geschwätz ist. Und es ist extrem schwer zu unterscheiden, wo das Geschwätz nur Geschwätz bleibt - und wo es die poetische Strategie bedeutet.
Man darf dieser Erzählerin kaum ein Wort glauben, nicht, dass sie ihren Mann so sehr liebt, dass sie immer weiter an der Vervollkommnung ihrer Oralsextechnik arbeite; nicht dass sie sich um ihr Kind sorge, noch nicht einmal dass sie, wenn sie Lust empfinde, den Schmerz, der ihr Leben ist, vergessen könne. Jeder dieser Sätze wird ein paar Seiten später relativiert, vergessen, aufgehoben durch sein Gegenteil, und die einzige Behauptung, die man diesem Ich tatsächlich glauben möchte, ist das immer wiederkehrende Motiv, dass Elizabeth nachts, wenn sie im Bett liegt und nach oben schaut, einen Riss in der Decke sieht, und nur sie kann ihn sehen, und die Furcht, dass die Decke einstürzen und alles begraben könnte, die bleibt die ganze Nacht.
Elizabeth, das ist die Erinnerung, die nicht verblassen will, Elizabeth war gerade gelandet in England, wo sie heiraten wollte, und dann rief der Vater an und erzählte von dem Verkehrsunfall, den die Mutter, schwer verletzt, überlebt hatte, die Schwägerin auch, und die drei Brüder hatten nicht überlebt, und das Schlimmste daran, erzählt Elizabeth, ist, dass sie nicht weiß, ob sie sich beim Aufprall das Genick gebrochen haben. Oder ob sie erst verbrannt sind, als das Auto explodierte. Von so einem Unglück kann man nicht in Floskeln erzählen, das ist so knapp beschrieben, dass nur schweigen knapper wäre.
Und später, wenn Elizabeth von ihrem immer wiederkehrenden Wunschtraum erzählt, wonach die Brüder vor der Explosion entkommen sind; dass sie sich in den Wald geflüchtet haben, wo sie jetzt leben, wie glückliche, unbewusste Tiere, da ist dieser Text so zart und diskret, wie man es seiner Autorin bis dahin nicht zugetraut hätte.
Vielleicht mussten ja nur diese beiden Dinge geschrieben werden, und alles andere ist bloß sprachliches Verpackungsmaterial, was irgendwie verständlich wäre - auch wenn es trivial und ein bisschen dämlich klingt, wie Charlotte Roche fröhlich grinsend in Interviews erzählt, dass sie jetzt, da sie es hingeschrieben habe, von diesen Dingen befreit sei. Jetzt sollen die Leser weinen, und sie könne wieder lachen.
Vielleicht ist es ja so, dass, neben dieser Erinnerung und der wunderbaren Rettungsvision, alles andere, was Elizabeth so tut und zu fühlen und meinen und denken behauptet, so ungeheuer unwichtig und banal ist, dass es nur in der Form des Geschwätzes beschrieben werden kann.
Und vielleicht sind die "Schoßgebete" tatsächlich ein Werk der allerschwärzesten Ironie, in welchem man kein Wort beim Nennwert nehmen kann. Und alles nur der Lärm ist, der die Stille vertreiben, die Lüge, welche die Wahrheit erträglich machen, der Text, der das Gefühl betäuben soll.
Ein schreckliches Buch. Man muss es lesen.
CLAUDIUS SEIDL
Charlotte Roche: "Schoßgebete". Piper-Verlag, 283 Seiten, 16,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein irre indiskretes Buch hat Charlotte Roche geschrieben, sagen die Kritiker. Die einen feiern, die anderen hassen sie dafür. Dabei ist der Kern des Werks die Stille
Das ist kein Buch über Sex - was man schon daran merken kann, dass es mit Oralsex beginnt, sechzehn Seiten lang, sehr kühl und genau beschrieben, und mit Analsex hört es auf; kurz zuvor war der Text knapp zehn Seiten lang im Bordell, wo die Erzählerin ein paar stimmungsvolle Stunden mit ihrem Mann und einer Prostituierten hatte; und wenn "Schoßgebete", dieser knapp dreihundertseitige Monolog, gerade kein anderes Thema hat, geht es immer wieder um die Frage, ob das Ich des Textes sich demnächst endlich mal trauen werde, den eigenen Mann zu betrügen, obwohl doch dessen Kraft und Kompetenz als Liebhaber dauernd beschworen werden. Wer aber ständig vom Sex spricht, hat eher keinen: Das lehrt das sogenannte Leben. Und wer so viel und so genau über Sex schreibt (und dabei nicht bloß die Lust der Leser stimulieren will), der will anscheinend auf etwas ganz anderes hinaus.
Das ist auch kein Buch über Charlotte Roche - obwohl die Autorin in fast jedem Interview ganz offen und ohne einen großen Unterschied zu machen, über all die Dinge spricht, welche sie, Charlotte Roche, mit ihrer Heldin und Erzählerin Elizabeth Kiehl gemeinsam hat. Und das sind nicht nur Alter, Körperbau, Haarfarbe und die englische Herkunft; das sind auch die furchtbaren Unglücksfälle in der Familie, die das eigentliche Thema der Erzählung sind; und es ist der starke Hass, den beide, Frau Roche und Frau Kiehl, seitdem gegen die "Bild"-Zeitung (die im Buch ein Pseudonym hat) und den Vorstandsvorsitzenden des Springer-Konzerns empfinden, was an der Art liegt, wie "Bild" über diesen Unfall berichtet hat.
Wer die "Schoßgebete" aber als einen Bericht über das Leben und die Meinungen der Charlotte Roche lesen will, wirft damit sofort die Frage auf, wer diese Charlotte Roche eigentlich sei und was diese Autorin ihn kümmern müsse, und die Antwort ginge ungefähr so: Charlotte Roche war früher mal beim Fernsehen, wurde aber viel berühmter durch ihr erstes Buch "Feuchtgebiete", einen Roman über die Meinungen, Gefühle und den Körper einer Achtzehnjährigen, den die meisten Leser anscheinend auch als die Selbstauskunft der Autorin gelesen haben. Man müsste Charlotte Roche über Charlotte Roche also vor allem deshalb lesen, weil Charlotte Roche über Charlotte Roche schreibt.
Wem das zu tautologisch ist, der kann ja mal versuchen, den Text seiner Autorin zu entreißen, was schon deshalb ein grausamer Akt ist, weil Charlotte Roche anscheinend das Gegenteil will; sie krallt sich fest an diesem Buch, und in jedem Interview kämpft sie darum, die Deutungshoheit über ihren eigenen Text zu retten. Es hilft aber alles nichts, wenn die Werke sprechen, müssen deren Schöpfer die Klappe halten. Und der Text wird umso interessanter, je weniger man auf das Interviewgeplapper seiner Autorin hört. "Schoßgebete" ist nämlich ein Buch über den Tod - was man anfangs auch deshalb nicht merkt, weil man dauernd fürchtet, dass hier als allererstes die Sprache krepiert, so egal scheinen Charlotte Roche die eigenen Begriffe zu sein. Über die Therapeutin der Erzählerin heißt es einmal: "Sie hat mir psychisch ganz oft das Leben gerettet." Aha, möchte man da sagen: Wer rettet aber die deutsche Sprache vor solchen Labersätzen.
Und, kleine Stichprobe auf der gegenüberliegenden Seite: "Bei uns wird vor dem Kind aus Vorbildfunktion kein Alkohol getrunken, und alle Getränke aus Zucker sind bei uns verboten, zum einen aus ganz normaler Amerikafeindlichkeit und weil sie auch sehr ungesund sind." Ein paar Seiten vorher hat Elizabeth Kiehl davon erzählt, dass sie gern koche, aber niemals mit Glutamat, weil das Kind und der Mann sich nicht an geschmacksverstärktes Essen gewöhnen dürfen. Charlotte Roches Sprach-Glutamat ist aber das Wörtchen "ganz", das sie in jeden dritten oder vierten Satz hineinschreibt - wo immer eine Menge oder eine Intensität beschworen werden soll und die Autorin aber gerade keine Zeit oder keine Lust hatte, sich ein bisschen Mühe zu geben mit der Suche nach einem einigermaßen präzisen Begriff dafür.
Klar, das ist Rollenprosa, und die Rolle, welche das Ich hier spielt, ist die der Nervensäge, der Dauerüberforderten und, wenn man dann tiefer hineinhört in den Text, die Rolle einer Verzweifelten, die schon deshalb immerfort mit sich selber sprechen muss, weil, wenn es einen Moment lang still wäre in diesem Kopf, sofort die fürchterlichsten Bilder kämen, die Erinnerungen, mit denen Elizabeth Kiehl nicht fertig wird.
Was aber auch nichts daran ändert, dass dieser Text, gerade auf den ersten vierzig, fünfzig Seiten, dort, wo Charlotte Roche sich gewissermaßen warm zu schreiben und in Schwung zu bringen versucht, so häufig läppisch, unkonzentriert, geschwätzig klingt. Und damit dieser Befund nicht mit dem Genörgel der notorischen Abendlandsverteidiger verwechselt wird, mit dem Hohn jener Kritiker, die Charlotte Roche nicht hereinlassen wollen in die deutsche Literatur und die dauernd den hohen Ton fordern, ohne ihn selbst je zu treffen: Damit solche Missverständnisse gar nicht erst entstehen, muss hier auf den wunderbaren Autor Wolfgang Herrndorf verwiesen werden, auf den (im vergangenen Herbst erschienenen) Roman "Tschick", dessen ganze Schönheit und poetische Kraft daher rührte, dass Herrndorf den beschränkten Wortschatz und den pubertären Jargon eines 14-Jährigen zum Rohstoff nahm und daraus seine präzise Prosa formte. Selbst Helene Hegemann rang, in den besseren Passagen von "Axolotl Roadkill", den mauligen und redundanten Dialogen des Berliner Nachtlebens etwas ab, das man wohl ihren Stil nennen muss.
Nein, einen Stil hat Charlotte Roches Prosa nicht, es ist mehr so, wie man halt plappert, wenn einem keiner widerspricht - und womöglich ist ja genau das, diese Formlosigkeit und Ungeschliffenheit der Sprache, vielleicht ist das die wichtigste Ursache des Erfolgs. Es sind barrierefreie Sätze, man kommt da ohne Schwierigkeiten hinein, weiß sofort, was gemeint ist, hat hundert Referenzen aus dem eigenen Alltag, man kann, wo der Text endet, problemlos im gleichen Tonfall weitersprechen, weiterschreiben - und vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass in den vielen Interviews von Sprache, Stil, von Literatur eigentlich nie die Rede ist. Und umso mehr von Sex und Nicht-Sex, von Männern, Kindern und natürlich von Charlotte Roche. Es ist, als würden die "Schoßgebete" auf Magazinseiten und vor Fernsehkameras immer weitergeschrieben. Der Kritiker der "Zeit" bekannte, er habe den Anfang des Buchs wie eine Gebrauchsanleitung gelesen (und seine Sätze kicherten dabei). Der Kritiker der "Süddeutschen Zeitung" gab zu, dass er sich von so viel Sex belästigt fühle, einmal im Monat sei doch genug; und im Übrigen solle man mehr Aufhebens vom Essen und dem Wohnen und weniger von der körperlichen Liebe machen. Oje, möchte man da stöhnen, so genau wollte ich es aber gar nicht wissen, mir reichen schon Ihre Geschmacksurteile. Und zugleich spricht es eher für als gegen Charlotte Roche, dass selbst die Verrisse gewissermaßen Fortschreibungen ihrer Prosa sind, Indiskretionen von Leuten, die ihr einen Mangel an Diskretion und Delikatesse vorwerfen.
Es scheint da eine Kraft zu wirken, es findet sich, wenn man an der Oberfläche der Floskeln kratzt, eine Substanz: Es ist, wenn man ein wenig Distanz zu all den Beschreibungen und Behauptungen gewinnt, als schaute man dem Text dabei zu, wie er langsam zu sich selber kommt - und den Anfangsverdacht, dass dieses Buch nur einen selbstbewussteren Lektor hätte brauchen können, einen, der den Anfang verknappt und manchen Absatz der Autorin zum Nochmalschreiben zurückgegeben hätte, diesen Anfangsverdacht möchte man auch nicht aufrechterhalten, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, schon weil zum Schluss hin der Verdacht aufkommt, dass der Text womöglich klüger als seine Autorin sei. Es ist evident, dass da viel Geschwätz ist. Und es ist extrem schwer zu unterscheiden, wo das Geschwätz nur Geschwätz bleibt - und wo es die poetische Strategie bedeutet.
Man darf dieser Erzählerin kaum ein Wort glauben, nicht, dass sie ihren Mann so sehr liebt, dass sie immer weiter an der Vervollkommnung ihrer Oralsextechnik arbeite; nicht dass sie sich um ihr Kind sorge, noch nicht einmal dass sie, wenn sie Lust empfinde, den Schmerz, der ihr Leben ist, vergessen könne. Jeder dieser Sätze wird ein paar Seiten später relativiert, vergessen, aufgehoben durch sein Gegenteil, und die einzige Behauptung, die man diesem Ich tatsächlich glauben möchte, ist das immer wiederkehrende Motiv, dass Elizabeth nachts, wenn sie im Bett liegt und nach oben schaut, einen Riss in der Decke sieht, und nur sie kann ihn sehen, und die Furcht, dass die Decke einstürzen und alles begraben könnte, die bleibt die ganze Nacht.
Elizabeth, das ist die Erinnerung, die nicht verblassen will, Elizabeth war gerade gelandet in England, wo sie heiraten wollte, und dann rief der Vater an und erzählte von dem Verkehrsunfall, den die Mutter, schwer verletzt, überlebt hatte, die Schwägerin auch, und die drei Brüder hatten nicht überlebt, und das Schlimmste daran, erzählt Elizabeth, ist, dass sie nicht weiß, ob sie sich beim Aufprall das Genick gebrochen haben. Oder ob sie erst verbrannt sind, als das Auto explodierte. Von so einem Unglück kann man nicht in Floskeln erzählen, das ist so knapp beschrieben, dass nur schweigen knapper wäre.
Und später, wenn Elizabeth von ihrem immer wiederkehrenden Wunschtraum erzählt, wonach die Brüder vor der Explosion entkommen sind; dass sie sich in den Wald geflüchtet haben, wo sie jetzt leben, wie glückliche, unbewusste Tiere, da ist dieser Text so zart und diskret, wie man es seiner Autorin bis dahin nicht zugetraut hätte.
Vielleicht mussten ja nur diese beiden Dinge geschrieben werden, und alles andere ist bloß sprachliches Verpackungsmaterial, was irgendwie verständlich wäre - auch wenn es trivial und ein bisschen dämlich klingt, wie Charlotte Roche fröhlich grinsend in Interviews erzählt, dass sie jetzt, da sie es hingeschrieben habe, von diesen Dingen befreit sei. Jetzt sollen die Leser weinen, und sie könne wieder lachen.
Vielleicht ist es ja so, dass, neben dieser Erinnerung und der wunderbaren Rettungsvision, alles andere, was Elizabeth so tut und zu fühlen und meinen und denken behauptet, so ungeheuer unwichtig und banal ist, dass es nur in der Form des Geschwätzes beschrieben werden kann.
Und vielleicht sind die "Schoßgebete" tatsächlich ein Werk der allerschwärzesten Ironie, in welchem man kein Wort beim Nennwert nehmen kann. Und alles nur der Lärm ist, der die Stille vertreiben, die Lüge, welche die Wahrheit erträglich machen, der Text, der das Gefühl betäuben soll.
Ein schreckliches Buch. Man muss es lesen.
CLAUDIUS SEIDL
Charlotte Roche: "Schoßgebete". Piper-Verlag, 283 Seiten, 16,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2011Puh!
Was hat eine Blähung mit einem Buch zu tun? Charlotte Roches zweiter Roman „Schoßgebete“ lebt von der Lüge der rettenden Sexualität
In einem der großen literarischen Werke des 19. Jahrhunderts gibt es einen Bericht von einem geselligen Abend, in dem die dabei anwesenden Herren ihre sexuellen Bedürfnisse vergleichen. Den einen drängt es sehr zu den Frauen, mindestens täglich, den anderen weniger. Und einer aus der Runde – es kommt hier nicht darauf an, wer das ist – gibt offen zu: ein Beischlaf im Monat, das sei ihm genug. Gewiss, die Herren sitzen in vertrauter Runde und meinen, sich auf die Diskretion der anderen verlassen zu können. Und doch ist ihre Gelassenheit bemerkenswert. Sie spüren keinen Druck. Niemand bedrängt sie – und schon gar nicht den einen, der einfach nur feststellt, auf dem Markt der Begierden allenfalls ein seltener Besucher zu sein.
Diese Freiheit ging, im westlichen Teil der Welt, im 20. Jahrhundert verloren. Das liegt nicht nur daran, dass der Geist des Wettbewerbs bis in die hintersten Winkel des Privatlebens vorgedrungen ist. Es geht auch nicht nur darauf zurück, dass die Liebe in derselben Zeit zur größten aller Verheißungen geworden ist und im Beischlaf ihre höchste Erfüllung finden sollte. Nein, dem sexuellen Akt selbst wird seither eine Bedeutung zugeschrieben, wie er sie nie zuvor besaß, eine Bedeutung, die viel größer ist, als sie dem Essen oder dem Wohnen oder sonst einer praktischen Beschäftigung je zugemessen wurde. Und wenn man lange meinen konnte, in dieser Bedeutung spiegele sich vor allem die Unterdrückung der Sexualität, so wie sie über die Jahrtausende hinweg betrieben wurde, so ist es doch seit geraumer Zeit mit den Tadeln und Verboten ebenso vorbei wie mit dem Bedürfnis nach noch mehr Aufklärung. Es ist, hierzulande, nichts mehr übrig, was aufgeklärt werden müsste. Warum also muss der Beischlaf dennoch immer wieder beschworen werden, tausend und noch einmal hunderttausend Mal, auch wenn er so leicht zu haben ist, wenn sich nichts darin bestätigt und gar nichts daraus folgt?
Das Buch „Schoßgebete“ ( Piper Verlag, 284 Seiten, 16,99 Euro ), der zweite Roman von Charlotte Roche, ist schon weit vorangeschritten, und der Leser hat schon lange Schilderungen sexueller Akte verfolgt, als die Erzählerin über ihren Gatten verrät: „Er hat mir gnadenlos alles über seine Sexualität gesagt.“ Und dann, ein paar Zeilen tiefer, heißt es: „Jetzt bin ich bald dran, ihn mit meiner wahren Sexualität zu konfrontieren.“ Wobei diese, wie sich wenig später herausstellt, im Wesentlichen darin bestehen soll, dem vorhandenen Repertoire zu zweit und zu dritt, im Bordell, mit pornographischen Filmen und einer Vielfalt von erotischem Hilfswerkzeug, einen zweiten oder dritten oder vierten Mann hinzuzufügen – angeblich, um, nicht zuletzt, auch die Ehe zu bereichern. Wozu das alles gut sein soll, wäre da die falsche Frage. Denn hier schreitet, zur Unterhaltung breiter Leserschichten, eine methodisch operierende Sinnlichkeit voran, die sich fest verbunden glaubt mit dem Leben als solchem. Da mag, was sie tut, auch noch so sehr der Arbeit gleichen: Der „Wahrheit“ gilt es auf den Grund zu gehen. Sie soll, ausgerechnet, zwischen den Beinen liegen.
Die „Schoßgebete“ sind also eine Art Forschungsprojekt, genauso wie die vor drei Jahren erschienenen „Feuchtgebiete“, Charlotte Roches erster (und in 1,8 Millionen Exemplaren verkaufter) Roman eine Art Forschungsprojekt war. Doch wenn letzterer vor allem den fließenden Übergängen zwischen sexueller Erregung und Ekel auf der Spur war, soll es dieses Mal um die höhere Biologie (oder Chemie) des ehelichen Zusammenlebens gehen, unter besonderer Berücksichtigung eines Urintropfens unter der Vorhaut des Mannes oder von vier Fadenwürmern am After. Die Form dieser Forschungsarbeit ist der Bericht, und das heißt hier, weil es ja um die Wahrheit von Gefühlen und Begierden geht, das rückhaltlos offene Bekenntnis.
Deswegen tritt in diesem Buch eine Psychotherapeutin auf, der, aus existentieller Notwendigkeit, alles erzählt werden muss – denn es gilt, angeblich tiefe Traumata zu überwinden. Hinter (und über) der Psychotherapeutin aber befindet sich der Leser: Er ist der eigentliche Adressat dieser Bekenntnisse, an ihn wendet sich die Erzählerin mit ihrem schlichten, intimen, manchmal flapsigen Ton, er ist die scheinbar überlegene Macht, der auch das Privateste anvertraut wird, um – ja, warum geschieht das? Was hat der Wunsch der Erzählerin, nicht nur mit Georg (dem Gatten) und Lumi (einer Prostituierten), sondern auch mit dem netten Jochen zu schlafen, mit der Selbstoffenbarung gegenüber Millionen fremden Menschen zu tun, was eine Blähung des Bettnachbarn mit einem Buch?
Und doch gibt es diese Verbindungen. Nie wurden, an einem Tag, von einem in deutscher Sprache geschriebenen Buch mehr Exemplare ausgeliefert als von den „Schoßgebeten“. An der Zahl der mit der Erstveröffentlichung ausgelieferten Bücher gemessen, ist dieses Werk größer als die „Blechtrommel“, größer als „Ansichten eines Clowns“, größer als „Ein fliehendes Pferd“. Das liegt auch, aber nicht nur, am Gegenstand, am Fundamentalismus des Geschlechtslebens. Es liegt aber ebenso sehr an der konsequenten Verwirrung der Verhältnisse zwischen Autorin und Erzählerin. Denn selbstverständlich ist Charlotte Roche zu einem großen Teil identisch mit „Elizabeth Kiehl“ – nicht ganz, gewiss (das verleiht dem Bekenntnis einen zusätzlichen Reiz), aber doch genug, um einen reibungslosen Übergang zwischen Wirklichkeit und Roman zu gewährleisten. Und dieser Übergang ist notwendig, damit die Erzählerin ihren Lesern zurufen kann: „Das war aber mal eine Überforderung für mich! Für die kleine Elizabeth. Puh.“
Anders gesagt: Was sich hier zur Schau stellt, ist Prominenz. Sie funktioniert nach dem Prinzip, dass sich ein gewöhnlicher Mensch dadurch in einen absolut ungewöhnlichen Menschen verwandelt, dass er anderen Menschen offenbart, wie gewöhnlich er ist – sie lebt von der Professionalisierung des Laienhaften, von der Lüge, dass einer, dem die Aufmerksamkeit der Massen gilt, nichts anderes sei als einer in der Masse, oder von dem ebenso idiotischen wie unterwürfigen Gedanken, dass einem berühmten Menschen, der öffentlich so tut, als wäre er gewöhnlich, mitsamt Familienleben, Verdauungsschwierigkeiten und Magenkrebskaffee, eine ganz besondere Bewunderung gebührt.
Aus diesem Grund bestehen die „Schoßgebete“ im Übrigen auch nicht aus lauter pornographischen Videos – selbst wenn die Vorlagen genannt werden: „Er bleibt mit dem Kopf zwischen meinen Beinen und guckt ganz genau zu, wie ich alles abrufe, was ich je über Selbstbefriedigung im Internet und auf DVD gesehen habe.“ Nein, das Unvermögen, sich sprachlich angemessen auszudrücken, wird hier – „jetzt mal laienhaft formuliert“ – zu einem Mittel der literarischen Selbstinszenierung. So kommt auch das mittlerweile gesellschaftlich eher randständige Medium Buch zu Ehren: als systematisches Unterlaufen von Literatur in der Literatur.
Doch noch ist die Frage unbeantwortet, warum sich, in einer weitgehend libertären Gesellschaft, immer noch so viele Energien auf die Sexualität werfen können. Sie ist eng verwandt mit der Frage, welche Gründe es dafür geben kann, dass Charlotte Roche den Tod ihrer drei Halbbrüder und die schwere Verletzung ihrer Mutter bei einem Autounfall in das ansonsten weitgehend von Sexualität beherrschte Tagebuch ihrer Ehe einfügt – zusammen waren sie im Sommer 2001 unterwegs zu der Hochzeit, die Charlotte Roche mit ihrem damaligen Lebensgefährten in England feiern wollte. Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe. Sie lautet: „Fick mich ins Leben zurück!“ Sexualität ist das Leben, lautet der Gedanke. Sie ist die beste, wenn nicht die einzige Überwindung des Todes. Und wenn die „Schoßgebete“ eine Art Forschungsprojekt bilden, so ist dieser schlichte romantische Gedanke die Idee, die dem ganzen Vorhaben zugrunde liegt: Zwei Prinzipien stehen einander gegenüber, zwei einander ausschließende, aber gleichermaßen Totalität fordernde Lebensmomente, zwei Erfahrungen, zu denen jeder etwas zu sagen hat.
Für den Tod gilt das zweifellos. Bei der Sexualität ist das anders. Sie muss als gesellschaftliche Erfahrung erst isoliert und dann verdichtet werden, damit man öffentlich und ungeniert von ihr handeln kann. „Kein Autor aus den Blütezeiten des Romans bis zum 20. Jahrhundert hat seine Protagonisten denken, fühlen, glauben, zweifeln und unverhüllt vögeln lassen“, heißt es in einem Aufsatz, in dem Roger Willemsen vor Jahren einmal eine Anthologie erotischer Literatur einleitete. „Sollten sie das tun, so begann der Autor einen neuen Text, in dem sie nun kaum etwas anderes trieben.“ Das liegt daran, dass Sexualität bis noch vor wenigen Jahrzehnten eingebettet war in ein dichtes Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen, in soziale Hierarchien, Sitten und Rituale, in unerbittliche moralische Forderungen und feste Traditionen. Wollte man ihnen entkommen, musste man gleichsam die Flucht in den Giftschrank antreten.
Die Befreiung der Sexualität hat zwei Konsequenzen: Zum einen wird sie banal, zum „alten Rein-Raus-Spiel“, wie sie Anthony Burgess in seinem Roman „Uhrwerk Orange“ nannte. Zum anderen aber fordert sie, selbständig geworden, erst recht alle höheren Erwartungen heraus, die zuvor ein über Jahrhunderte eingespielter kultureller, bis in die Sakralsphäre reichender Zusammenhang aufgefangen hatte. Sie wird absolut, sie wird zum Fetisch, zum Gegenstand eines eigenen Fundamentalismus: „Der Trip beginnt“, lautet der letzte Satz in diesem unerheblichen, trivialen, ja verlogenen Buch, das also gar nicht zufällig das Wort „Gebete“ im Titel trägt. Denn es huldigt dem Glauben an eine rettende Erfahrung. Und weiß doch, dass es sie nicht gibt.
THOMAS STEINFELD
Die befreiende Wahrheit
– sie soll, ausgerechnet,
zwischen den Beinen liegen
Die Professionalisierung
des Laienhaften ist die
Strategie dieser Erzählerin
Das „alte Rein-Raus-Spiel“
muss immer noch herhalten
für den Glauben an Erlösung
Roches Erzählerin begibt sich im Dienste der Ehehygiene ins Rotlichtmilieu. Foto: Meisterstein/Voller Ernst
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Was hat eine Blähung mit einem Buch zu tun? Charlotte Roches zweiter Roman „Schoßgebete“ lebt von der Lüge der rettenden Sexualität
In einem der großen literarischen Werke des 19. Jahrhunderts gibt es einen Bericht von einem geselligen Abend, in dem die dabei anwesenden Herren ihre sexuellen Bedürfnisse vergleichen. Den einen drängt es sehr zu den Frauen, mindestens täglich, den anderen weniger. Und einer aus der Runde – es kommt hier nicht darauf an, wer das ist – gibt offen zu: ein Beischlaf im Monat, das sei ihm genug. Gewiss, die Herren sitzen in vertrauter Runde und meinen, sich auf die Diskretion der anderen verlassen zu können. Und doch ist ihre Gelassenheit bemerkenswert. Sie spüren keinen Druck. Niemand bedrängt sie – und schon gar nicht den einen, der einfach nur feststellt, auf dem Markt der Begierden allenfalls ein seltener Besucher zu sein.
Diese Freiheit ging, im westlichen Teil der Welt, im 20. Jahrhundert verloren. Das liegt nicht nur daran, dass der Geist des Wettbewerbs bis in die hintersten Winkel des Privatlebens vorgedrungen ist. Es geht auch nicht nur darauf zurück, dass die Liebe in derselben Zeit zur größten aller Verheißungen geworden ist und im Beischlaf ihre höchste Erfüllung finden sollte. Nein, dem sexuellen Akt selbst wird seither eine Bedeutung zugeschrieben, wie er sie nie zuvor besaß, eine Bedeutung, die viel größer ist, als sie dem Essen oder dem Wohnen oder sonst einer praktischen Beschäftigung je zugemessen wurde. Und wenn man lange meinen konnte, in dieser Bedeutung spiegele sich vor allem die Unterdrückung der Sexualität, so wie sie über die Jahrtausende hinweg betrieben wurde, so ist es doch seit geraumer Zeit mit den Tadeln und Verboten ebenso vorbei wie mit dem Bedürfnis nach noch mehr Aufklärung. Es ist, hierzulande, nichts mehr übrig, was aufgeklärt werden müsste. Warum also muss der Beischlaf dennoch immer wieder beschworen werden, tausend und noch einmal hunderttausend Mal, auch wenn er so leicht zu haben ist, wenn sich nichts darin bestätigt und gar nichts daraus folgt?
Das Buch „Schoßgebete“ ( Piper Verlag, 284 Seiten, 16,99 Euro ), der zweite Roman von Charlotte Roche, ist schon weit vorangeschritten, und der Leser hat schon lange Schilderungen sexueller Akte verfolgt, als die Erzählerin über ihren Gatten verrät: „Er hat mir gnadenlos alles über seine Sexualität gesagt.“ Und dann, ein paar Zeilen tiefer, heißt es: „Jetzt bin ich bald dran, ihn mit meiner wahren Sexualität zu konfrontieren.“ Wobei diese, wie sich wenig später herausstellt, im Wesentlichen darin bestehen soll, dem vorhandenen Repertoire zu zweit und zu dritt, im Bordell, mit pornographischen Filmen und einer Vielfalt von erotischem Hilfswerkzeug, einen zweiten oder dritten oder vierten Mann hinzuzufügen – angeblich, um, nicht zuletzt, auch die Ehe zu bereichern. Wozu das alles gut sein soll, wäre da die falsche Frage. Denn hier schreitet, zur Unterhaltung breiter Leserschichten, eine methodisch operierende Sinnlichkeit voran, die sich fest verbunden glaubt mit dem Leben als solchem. Da mag, was sie tut, auch noch so sehr der Arbeit gleichen: Der „Wahrheit“ gilt es auf den Grund zu gehen. Sie soll, ausgerechnet, zwischen den Beinen liegen.
Die „Schoßgebete“ sind also eine Art Forschungsprojekt, genauso wie die vor drei Jahren erschienenen „Feuchtgebiete“, Charlotte Roches erster (und in 1,8 Millionen Exemplaren verkaufter) Roman eine Art Forschungsprojekt war. Doch wenn letzterer vor allem den fließenden Übergängen zwischen sexueller Erregung und Ekel auf der Spur war, soll es dieses Mal um die höhere Biologie (oder Chemie) des ehelichen Zusammenlebens gehen, unter besonderer Berücksichtigung eines Urintropfens unter der Vorhaut des Mannes oder von vier Fadenwürmern am After. Die Form dieser Forschungsarbeit ist der Bericht, und das heißt hier, weil es ja um die Wahrheit von Gefühlen und Begierden geht, das rückhaltlos offene Bekenntnis.
Deswegen tritt in diesem Buch eine Psychotherapeutin auf, der, aus existentieller Notwendigkeit, alles erzählt werden muss – denn es gilt, angeblich tiefe Traumata zu überwinden. Hinter (und über) der Psychotherapeutin aber befindet sich der Leser: Er ist der eigentliche Adressat dieser Bekenntnisse, an ihn wendet sich die Erzählerin mit ihrem schlichten, intimen, manchmal flapsigen Ton, er ist die scheinbar überlegene Macht, der auch das Privateste anvertraut wird, um – ja, warum geschieht das? Was hat der Wunsch der Erzählerin, nicht nur mit Georg (dem Gatten) und Lumi (einer Prostituierten), sondern auch mit dem netten Jochen zu schlafen, mit der Selbstoffenbarung gegenüber Millionen fremden Menschen zu tun, was eine Blähung des Bettnachbarn mit einem Buch?
Und doch gibt es diese Verbindungen. Nie wurden, an einem Tag, von einem in deutscher Sprache geschriebenen Buch mehr Exemplare ausgeliefert als von den „Schoßgebeten“. An der Zahl der mit der Erstveröffentlichung ausgelieferten Bücher gemessen, ist dieses Werk größer als die „Blechtrommel“, größer als „Ansichten eines Clowns“, größer als „Ein fliehendes Pferd“. Das liegt auch, aber nicht nur, am Gegenstand, am Fundamentalismus des Geschlechtslebens. Es liegt aber ebenso sehr an der konsequenten Verwirrung der Verhältnisse zwischen Autorin und Erzählerin. Denn selbstverständlich ist Charlotte Roche zu einem großen Teil identisch mit „Elizabeth Kiehl“ – nicht ganz, gewiss (das verleiht dem Bekenntnis einen zusätzlichen Reiz), aber doch genug, um einen reibungslosen Übergang zwischen Wirklichkeit und Roman zu gewährleisten. Und dieser Übergang ist notwendig, damit die Erzählerin ihren Lesern zurufen kann: „Das war aber mal eine Überforderung für mich! Für die kleine Elizabeth. Puh.“
Anders gesagt: Was sich hier zur Schau stellt, ist Prominenz. Sie funktioniert nach dem Prinzip, dass sich ein gewöhnlicher Mensch dadurch in einen absolut ungewöhnlichen Menschen verwandelt, dass er anderen Menschen offenbart, wie gewöhnlich er ist – sie lebt von der Professionalisierung des Laienhaften, von der Lüge, dass einer, dem die Aufmerksamkeit der Massen gilt, nichts anderes sei als einer in der Masse, oder von dem ebenso idiotischen wie unterwürfigen Gedanken, dass einem berühmten Menschen, der öffentlich so tut, als wäre er gewöhnlich, mitsamt Familienleben, Verdauungsschwierigkeiten und Magenkrebskaffee, eine ganz besondere Bewunderung gebührt.
Aus diesem Grund bestehen die „Schoßgebete“ im Übrigen auch nicht aus lauter pornographischen Videos – selbst wenn die Vorlagen genannt werden: „Er bleibt mit dem Kopf zwischen meinen Beinen und guckt ganz genau zu, wie ich alles abrufe, was ich je über Selbstbefriedigung im Internet und auf DVD gesehen habe.“ Nein, das Unvermögen, sich sprachlich angemessen auszudrücken, wird hier – „jetzt mal laienhaft formuliert“ – zu einem Mittel der literarischen Selbstinszenierung. So kommt auch das mittlerweile gesellschaftlich eher randständige Medium Buch zu Ehren: als systematisches Unterlaufen von Literatur in der Literatur.
Doch noch ist die Frage unbeantwortet, warum sich, in einer weitgehend libertären Gesellschaft, immer noch so viele Energien auf die Sexualität werfen können. Sie ist eng verwandt mit der Frage, welche Gründe es dafür geben kann, dass Charlotte Roche den Tod ihrer drei Halbbrüder und die schwere Verletzung ihrer Mutter bei einem Autounfall in das ansonsten weitgehend von Sexualität beherrschte Tagebuch ihrer Ehe einfügt – zusammen waren sie im Sommer 2001 unterwegs zu der Hochzeit, die Charlotte Roche mit ihrem damaligen Lebensgefährten in England feiern wollte. Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe. Sie lautet: „Fick mich ins Leben zurück!“ Sexualität ist das Leben, lautet der Gedanke. Sie ist die beste, wenn nicht die einzige Überwindung des Todes. Und wenn die „Schoßgebete“ eine Art Forschungsprojekt bilden, so ist dieser schlichte romantische Gedanke die Idee, die dem ganzen Vorhaben zugrunde liegt: Zwei Prinzipien stehen einander gegenüber, zwei einander ausschließende, aber gleichermaßen Totalität fordernde Lebensmomente, zwei Erfahrungen, zu denen jeder etwas zu sagen hat.
Für den Tod gilt das zweifellos. Bei der Sexualität ist das anders. Sie muss als gesellschaftliche Erfahrung erst isoliert und dann verdichtet werden, damit man öffentlich und ungeniert von ihr handeln kann. „Kein Autor aus den Blütezeiten des Romans bis zum 20. Jahrhundert hat seine Protagonisten denken, fühlen, glauben, zweifeln und unverhüllt vögeln lassen“, heißt es in einem Aufsatz, in dem Roger Willemsen vor Jahren einmal eine Anthologie erotischer Literatur einleitete. „Sollten sie das tun, so begann der Autor einen neuen Text, in dem sie nun kaum etwas anderes trieben.“ Das liegt daran, dass Sexualität bis noch vor wenigen Jahrzehnten eingebettet war in ein dichtes Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen, in soziale Hierarchien, Sitten und Rituale, in unerbittliche moralische Forderungen und feste Traditionen. Wollte man ihnen entkommen, musste man gleichsam die Flucht in den Giftschrank antreten.
Die Befreiung der Sexualität hat zwei Konsequenzen: Zum einen wird sie banal, zum „alten Rein-Raus-Spiel“, wie sie Anthony Burgess in seinem Roman „Uhrwerk Orange“ nannte. Zum anderen aber fordert sie, selbständig geworden, erst recht alle höheren Erwartungen heraus, die zuvor ein über Jahrhunderte eingespielter kultureller, bis in die Sakralsphäre reichender Zusammenhang aufgefangen hatte. Sie wird absolut, sie wird zum Fetisch, zum Gegenstand eines eigenen Fundamentalismus: „Der Trip beginnt“, lautet der letzte Satz in diesem unerheblichen, trivialen, ja verlogenen Buch, das also gar nicht zufällig das Wort „Gebete“ im Titel trägt. Denn es huldigt dem Glauben an eine rettende Erfahrung. Und weiß doch, dass es sie nicht gibt.
THOMAS STEINFELD
Die befreiende Wahrheit
– sie soll, ausgerechnet,
zwischen den Beinen liegen
Die Professionalisierung
des Laienhaften ist die
Strategie dieser Erzählerin
Das „alte Rein-Raus-Spiel“
muss immer noch herhalten
für den Glauben an Erlösung
Roches Erzählerin begibt sich im Dienste der Ehehygiene ins Rotlichtmilieu. Foto: Meisterstein/Voller Ernst
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Eher nach Sport als nach Sex hören sich für Sabine Vogel Charlotte Roches "Schoßgebete"an, deren erwartungsgemäß detailreichen Sexschilderungen sie allerdings nicht vom Hocker rissen. Laut Vogels Schilderungen kann man sie zwischen neuer sexueller Sachlichkeit und Ratgeberliteratur verorten. So therapeutisch wie neurotisch ist nach Vogel aber nicht nur das Verhältnis zwischen Sex und Text; zwischen Bekenntnis und Beratung schwankt auch die Haltung des schreibenden Selbst. Anstelle von Handlung gibt es deshalb Lebenssituation - diesmal im kratzigen Nervenkostüm der Hauptfigur Elisabeth, die an ihrer Rolle als erfolgreiche Supermutter natürlich glanzvoll zu Grunde gehen muss. Für Sabine Vogel sind die "Schoßgebete" alles in allem eher Beschwörungsformeln, überspannt wie immer, aber ein wenig humorlos.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... ein verstörend schonungsloses Buch. (...) Das Buch der erst 33- Jährigen ist überraschend lebensweise. Bittere Wahrheiten und saftige Stellen im Wechsel. Manchmal könnte man das Buch sogar für den Beginn einer neuen sexuellen Revolution halten.« Stern 20110818