Nach Stationen in New York und Burundi arbeitet Mira Wendler für die Vereinten Nationen in Genf. Tagsüber schreibt sie Berichte über Krisenregionen, abends eilt sie durch die Gänge der Luxushotels, um zwischen verfeindeten Staatsvertretern zu vermitteln. Bei einem Empfang begegnet sie Milan wieder, dessen Familie einst für sie ein Zuhause war. Die Konfrontation mit ihrer Kindheit, aber auch Milans Spiel mit Nähe und Distanz überrumpeln und faszinieren sie zugleich. Als seine Ehe zu zerbrechen droht und ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermords in Burundi hinterfragt wird, gerät Miras Leben ins Wanken.Ungekürzte Lesung mit Constanze Becker8 CDs ca. 9 h 37 min
buecher-magazin.de„Es sind die Grenzen, die Einteilungen, die uns beruhigen, die Aufteilung zwischen Schlafen und Wachsein, in Wahrheit und Lüge, in heimlich und legitim, und auch wenn diese Grenzen willkürlich gezogen werden, glauben wir ihnen doch.“ Dieser Roman ist ein einziger innerer Monolog, sprunghaft, schmerzvoll, desillusioniert. Mira arbeitet für die Vereinten Nationen, sie leitet in Genf Verhandlungen zum Zypernkonflikt. Durch ein Wiedersehen mit Milan, bei dessen Familie sie als Kind während der Trennung ihrer Eltern einige Monate wohnte, wandern ihre Gedanken auch immer wieder dorthin zurück. Und während sie in ihrer Affäre mit Milan Grenzen überschreitet, wird auch ihre Rolle bei der Aufarbeitung des Völkermordes in Burundi hinterfragt. Ihre innere und äußere Welt gerät ins Wanken, sie muss sich der Frage stellen, wer sie in allem ist. Wie Bossong die Grenzen zwischen persönlichen und politischen Beziehungen in Miras Gedankenwelt verschränkt und ineinandergreifen lässt, ist eine große Kunst. Es ist die assoziative und poetische Sprache, die diesen hypnotischen Sog erzeugt, der den zutiefst menschlichen Bürokratiesumpf hinter der großen Bühne der Weltfriedenspolitik ergründet.
Bossong sprengt sprachgewaltig die Schutzzone zwischen persönlichen und politischen Grenzüberschreitungen.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Bossong sprengt sprachgewaltig die Schutzzone zwischen persönlichen und politischen Grenzüberschreitungen.
© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2019Die Leerstelle zwischen Mission und Leben
Idee und Wirklichkeit der Vereinten Nationen: Nora Bossongs Roman "Schutzzone"
"Ihr wisst, dass ich Lügen hasse", sagt Marlow in Conrads "Herz der Finsternis", "dass ich sie verabscheue, nicht ausstehen kann. Nicht weil ich anständiger bin als andere, sondern einfach weil sie mir Angst machen. Es ist ein Hauch von Tod, ein Geschmack von Sterblichkeit an Lügen - und das ist ja genau das, was ich an der Welt hasse und verabscheue -, was ich vergessen will." Es ist anzunehmen, dass auch Mira, die Heldin von Nora Bossongs Roman, nicht viel von Lügen hält. Beruflich ist sie aber gezwungen, die Erfahrungen, die sie in den Krisengebieten dieser Welt sammelt, in eine sauerstoffarme Behördenprosa zu überführen, in der sich alles Leben in Prozesse, Statistiken, Strategiepläne auflöst, die wiederum nur ein Zögern verschleiert: die Ohnmacht der großen Bürokratie.
Mira ist zu bedauern. Sie arbeitet bei den Vereinten Nationen, was als toller Job gilt, doch sie fremdelt mit ihrer Arbeit, hat sich anders als ihre Kollegen keine professionelle Schutzhaut zugelegt. Sie hat kein Leben, wie man so sagt, wenn jemand allein ist, eingesperrt in einem Apartment mit höhnend weißem Mobiliar. Miras Aufgabe ist es, Frieden zu stiften zwischen Leuten, die von der höheren Wahrheit der Vereinten Nationen nichts wissen wollen, und Potentaten, die das nackte Überlebensinteresse antreibt. Wie ihre Kollegen ist Mira ortlos, getrieben, doch nicht flüchtig. Sie nimmt ihre Sache viel zu ernst.
Denn die Lügen braucht man ja, um die Lücken zu stopfen, die sich zwischen der Weltmission der Vereinten Nationen und dem eigenen und fremden Leben auftun, zwischen den Erfahrungen vor Ort und den Zahlenwerken, die sie operabel machen im Verkehr zwischen den Hierarchien. Und so liegt in den Leerstellen der Berichte, die Mira erstellt, eine sanfte, kompromittierende Grausamkeit.
Nora Bossong hat sich mit den Vereinten Nationen, jenem schwerfälligen, schief gewachsenen Gebilde, das wie keine zweite Institution dieser Erde für die Hoffnung steht, die Welt von einem Punkt aus zu regieren, einen uferlosen Stoff vorgelegt. Die Last, die sie ihrer Heldin damit auf die Schultern legt, wächst noch einmal mit der missionarischen Rhetorik der Vereinten Nationen, die weltweit nichts weniger als Frieden und Gerechtigkeit stiften will. Können Miras Schultern so viel Gewicht tragen? Die Personen in ihrem Umfeld sind jedenfalls nicht bereit, die Last mit ihrer zu teilen. Es sind Friedenslegionäre, die einen abenteuerlichen Reiz daran empfinden, von Brennpunkt zu Brennpunkt zu jetten, oder ernüchterte Idealisten, die sich arrangiert haben. Zwischen ihnen steht Mira, allein mit ihrer Skepsis.
Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert. Bossong hat ein besonderes Interesse daran, wie sich die globalisierte Welt in Personen begegnet. Wenn sie sich begegnet: Die UN-Mitarbeiter leben in Camps, die von Mossul bis Abidjan einander gleichen. Man lässt die Wirklichkeit nur so weit eindringen, wie sie operabel ist und wartet auf die nächste Karrierestation. Luftdicht abgeschlossen ist auch diese Existenzform nicht. Gemeinsam ist allen Personen, dass sie nicht vergessen können, was sie vor Ort gesehen haben. Das erlebte Elend zeichnet Risse in ihr Leben und setzt private Beziehungen bis an die Belastungsgrenze unter Druck, aber die Bereitschaft zum strategischen Handeln ist groß.
Milan, den Mira aus der Kindheit kennt, gehört zu jenen jederzeit absprungbereiten Kollegen, die alle Widersprüche an sich abperlen lassen. Das Spiel von Nähe und Distanz, das sich zwischen Mira und Milan entwickelt, ist vom Bewusstsein des Provisorischen bestimmt. Es ist eine Romantik, die nur im Augenblick Erfüllung findet, und weil Mira das alles schon weiß, hat das kurze Glück der Gegenwart eine besondere Intensität.
Anders als Mira hat Milan hat das Geschick, seinem Sagen und Tun die Aura von Bedeutung zu verleihen. Und er hat eine Schutzzone: seine Familie, die zwar löchrig ist, aber von Mira trotzdem nicht aus den Angeln gehoben werden kann. Beim Zufallstreffen im Genfer UN-Quartier flackern alte Gefühle noch mal auf, bevor die Wege wieder auseinanderführen.
Trotz des illusionslosen Blicks hat Bossong kein Schwarzbuch der Vereinten Nationen geschrieben. Sie trifft einen ausgewogenen Ton in der von Idealisierung und Abwehr bestimmten Debatte um koloniale Schuld und globale Gerechtigkeit. Es ist ja etwas dran an der Behauptung, dass sich fremde Wirklichkeit nicht mit den eigenen Begriffen einfangen lässt. Aber es ist auch selbstsüchtig, die Bewohner dieser Weltgegenden als Ikonen eines reinen Bewusstseins zu feiern, in dem man sich selbst spiegeln will, und ihnen auf diese Weise die Menschlichkeit zu nehmen, zu der auch das Böse gehört. Diese Doppelmoral macht sich besonders in Ruanda bemerkbar, einem zentralen Schauplatz in dem Roman, der wie kein zweiter für den Vorwurf an die UN-Friedensmission steht, sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staub zu machen und dem Morden in schützender Distanz seinen Lauf zu lassen. Mit wenigen Strichen setzt Bossong Orte wie das ruandische Bujumbura so auf die Weltkarte, dass sie ein Eigengewicht haben gegenüber der großen Bürokratie. Wie bleich wirkt dagegen das mondäne Genf mit seinen sprühenden Fontänen.
Bossong spannt den Gegensatz zwischen Außen- und Innenwelt aufs äußerste. Die Welt schnellt immer wieder ins Bewusstsein der Heldin zurück. Der desillusionierte Blick mündet aber nicht in Klagelied oder Nabelschau, sondern in eine spannungsreiche Balance von Ästhetik und Politik. Mira wird aus dem Kosmos der Vereinten Nationen hinausgetrieben, der das Ganze sein will und nur ein Schattenwurf ist, hat in Gedanken aber schon jene Freiheit gefunden, nach der sich das alles begründende Denken sehnt.
THOMAS THIEL
Nora Bossong:
"Schutzzone". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 332 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Idee und Wirklichkeit der Vereinten Nationen: Nora Bossongs Roman "Schutzzone"
"Ihr wisst, dass ich Lügen hasse", sagt Marlow in Conrads "Herz der Finsternis", "dass ich sie verabscheue, nicht ausstehen kann. Nicht weil ich anständiger bin als andere, sondern einfach weil sie mir Angst machen. Es ist ein Hauch von Tod, ein Geschmack von Sterblichkeit an Lügen - und das ist ja genau das, was ich an der Welt hasse und verabscheue -, was ich vergessen will." Es ist anzunehmen, dass auch Mira, die Heldin von Nora Bossongs Roman, nicht viel von Lügen hält. Beruflich ist sie aber gezwungen, die Erfahrungen, die sie in den Krisengebieten dieser Welt sammelt, in eine sauerstoffarme Behördenprosa zu überführen, in der sich alles Leben in Prozesse, Statistiken, Strategiepläne auflöst, die wiederum nur ein Zögern verschleiert: die Ohnmacht der großen Bürokratie.
Mira ist zu bedauern. Sie arbeitet bei den Vereinten Nationen, was als toller Job gilt, doch sie fremdelt mit ihrer Arbeit, hat sich anders als ihre Kollegen keine professionelle Schutzhaut zugelegt. Sie hat kein Leben, wie man so sagt, wenn jemand allein ist, eingesperrt in einem Apartment mit höhnend weißem Mobiliar. Miras Aufgabe ist es, Frieden zu stiften zwischen Leuten, die von der höheren Wahrheit der Vereinten Nationen nichts wissen wollen, und Potentaten, die das nackte Überlebensinteresse antreibt. Wie ihre Kollegen ist Mira ortlos, getrieben, doch nicht flüchtig. Sie nimmt ihre Sache viel zu ernst.
Denn die Lügen braucht man ja, um die Lücken zu stopfen, die sich zwischen der Weltmission der Vereinten Nationen und dem eigenen und fremden Leben auftun, zwischen den Erfahrungen vor Ort und den Zahlenwerken, die sie operabel machen im Verkehr zwischen den Hierarchien. Und so liegt in den Leerstellen der Berichte, die Mira erstellt, eine sanfte, kompromittierende Grausamkeit.
Nora Bossong hat sich mit den Vereinten Nationen, jenem schwerfälligen, schief gewachsenen Gebilde, das wie keine zweite Institution dieser Erde für die Hoffnung steht, die Welt von einem Punkt aus zu regieren, einen uferlosen Stoff vorgelegt. Die Last, die sie ihrer Heldin damit auf die Schultern legt, wächst noch einmal mit der missionarischen Rhetorik der Vereinten Nationen, die weltweit nichts weniger als Frieden und Gerechtigkeit stiften will. Können Miras Schultern so viel Gewicht tragen? Die Personen in ihrem Umfeld sind jedenfalls nicht bereit, die Last mit ihrer zu teilen. Es sind Friedenslegionäre, die einen abenteuerlichen Reiz daran empfinden, von Brennpunkt zu Brennpunkt zu jetten, oder ernüchterte Idealisten, die sich arrangiert haben. Zwischen ihnen steht Mira, allein mit ihrer Skepsis.
Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert. Bossong hat ein besonderes Interesse daran, wie sich die globalisierte Welt in Personen begegnet. Wenn sie sich begegnet: Die UN-Mitarbeiter leben in Camps, die von Mossul bis Abidjan einander gleichen. Man lässt die Wirklichkeit nur so weit eindringen, wie sie operabel ist und wartet auf die nächste Karrierestation. Luftdicht abgeschlossen ist auch diese Existenzform nicht. Gemeinsam ist allen Personen, dass sie nicht vergessen können, was sie vor Ort gesehen haben. Das erlebte Elend zeichnet Risse in ihr Leben und setzt private Beziehungen bis an die Belastungsgrenze unter Druck, aber die Bereitschaft zum strategischen Handeln ist groß.
Milan, den Mira aus der Kindheit kennt, gehört zu jenen jederzeit absprungbereiten Kollegen, die alle Widersprüche an sich abperlen lassen. Das Spiel von Nähe und Distanz, das sich zwischen Mira und Milan entwickelt, ist vom Bewusstsein des Provisorischen bestimmt. Es ist eine Romantik, die nur im Augenblick Erfüllung findet, und weil Mira das alles schon weiß, hat das kurze Glück der Gegenwart eine besondere Intensität.
Anders als Mira hat Milan hat das Geschick, seinem Sagen und Tun die Aura von Bedeutung zu verleihen. Und er hat eine Schutzzone: seine Familie, die zwar löchrig ist, aber von Mira trotzdem nicht aus den Angeln gehoben werden kann. Beim Zufallstreffen im Genfer UN-Quartier flackern alte Gefühle noch mal auf, bevor die Wege wieder auseinanderführen.
Trotz des illusionslosen Blicks hat Bossong kein Schwarzbuch der Vereinten Nationen geschrieben. Sie trifft einen ausgewogenen Ton in der von Idealisierung und Abwehr bestimmten Debatte um koloniale Schuld und globale Gerechtigkeit. Es ist ja etwas dran an der Behauptung, dass sich fremde Wirklichkeit nicht mit den eigenen Begriffen einfangen lässt. Aber es ist auch selbstsüchtig, die Bewohner dieser Weltgegenden als Ikonen eines reinen Bewusstseins zu feiern, in dem man sich selbst spiegeln will, und ihnen auf diese Weise die Menschlichkeit zu nehmen, zu der auch das Böse gehört. Diese Doppelmoral macht sich besonders in Ruanda bemerkbar, einem zentralen Schauplatz in dem Roman, der wie kein zweiter für den Vorwurf an die UN-Friedensmission steht, sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staub zu machen und dem Morden in schützender Distanz seinen Lauf zu lassen. Mit wenigen Strichen setzt Bossong Orte wie das ruandische Bujumbura so auf die Weltkarte, dass sie ein Eigengewicht haben gegenüber der großen Bürokratie. Wie bleich wirkt dagegen das mondäne Genf mit seinen sprühenden Fontänen.
Bossong spannt den Gegensatz zwischen Außen- und Innenwelt aufs äußerste. Die Welt schnellt immer wieder ins Bewusstsein der Heldin zurück. Der desillusionierte Blick mündet aber nicht in Klagelied oder Nabelschau, sondern in eine spannungsreiche Balance von Ästhetik und Politik. Mira wird aus dem Kosmos der Vereinten Nationen hinausgetrieben, der das Ganze sein will und nur ein Schattenwurf ist, hat in Gedanken aber schon jene Freiheit gefunden, nach der sich das alles begründende Denken sehnt.
THOMAS THIEL
Nora Bossong:
"Schutzzone". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 332 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Nora Bossong findet poetische Bilder für die Dilemmata unserer Zeit.« Frankfurter Rundschau »Und wir denken, dass wir unbeteiligt wären, dass uns keine Schuld träfe. Aber vielleicht trifft sie uns gerade deshalb, weil wir unbeteiligt sind, arrogant, erhaben und scheinbar unangreifbar.« Aus »Schutzzone«
»Man kann die Beweglichkeit nur bewundern, mit der Nora Bossong ihr Thema ausfaltet, den Sinn für das bezeichnende Detail und die schlanken Pointen, mit der sie die innere Welt ihrer Heldin gegen alle Zumutungen der Globalität abfedert.« Thomas Thiel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191024