Ein Gerücht, dessen böse Kraft bis in die Gegenwart reicht
Eine russisch-jüdische Familie flieht von Ost nach West, von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich. Der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers wurde Opfer eines großen Verrats, einer Denunziation, und 1960 in der Sowjetunion hingerichtet. Unter Verdacht: die eigene Verwandtschaft. Eine Erzählung über sowjetische Geheimdienstakten, über das tschechische Kino der Nachkriegszeit, vergiftete Liebesbeziehungen und die Machenschaften sexsüchtiger Kultur-Apparatschiks - und zugleich über das Leben hier und heute, über unsere moderne, globalisierte Welt, in der fast niemand mehr dort zuhause ist, wo er geboren wurde und aufwuchs.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Eine russisch-jüdische Familie flieht von Ost nach West, von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich. Der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers wurde Opfer eines großen Verrats, einer Denunziation, und 1960 in der Sowjetunion hingerichtet. Unter Verdacht: die eigene Verwandtschaft. Eine Erzählung über sowjetische Geheimdienstakten, über das tschechische Kino der Nachkriegszeit, vergiftete Liebesbeziehungen und die Machenschaften sexsüchtiger Kultur-Apparatschiks - und zugleich über das Leben hier und heute, über unsere moderne, globalisierte Welt, in der fast niemand mehr dort zuhause ist, wo er geboren wurde und aufwuchs.
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Wie sich das Leben anfühlt
Über Maxim Billers neuen Roman "Sechs Koffer".
Von Clemens J. Setz
Manchmal reden die Leute über Maxim Biller, als hätten sie ihn erfunden. Das ist mir schon damals aufgefallen, als sein Roman "Biografie" erschien. Den erhielt ich eines Tages unerwartet in der Post und schlich einige Wochen unsicher um dieses dicke Buch herum, bevor ich es anfing. Das Lesegefühl konnte ich dann nur durch ungeschickte Vergleiche ausdrücken, "wie Cecil Taylor in der Badewanne" und Ähnliches, so ein prächtiger, strahlender Irrsinn war dieses Werk. Die deutsche Kritik gab sich "gespalten", whatever. Und alle redeten über den Autor, als wäre er ihre Figur. Der sei so, aber leider nicht so, er erlebe dies und dann das und habe diese und jene Rolle für uns inne.
Und nun ist ein neues Buch von ihm erschienen, das sich, zumindest in der Zusammenfassung, um Billers eigene Familiengeschichte dreht, genauer, um die Frage nach der Schuld von deren Mitgliedern an der Ermordung seines Großvaters durch den KGB in Moskau im Jahr 1960. Alle kommen einmal dran mit Verdächtigtwerden, der Vater, die Mutter, die Tante, die drei Onkel. Die ganze Familie bewegt sich zueinander wie in Sirup, nichts ist unverkrampft ansprechbar, alles ständig vollgesogen von dunkler und komplizierter Vergangenheit. Man sitzt exilschwer in verschiedenen Städten, verbirgt sich voreinander, ahnt Dunkles, schreibt einander Briefe und antwortet immer wieder auf Fragen des jungen Ich-Erzählers, dass man "darüber nicht sprechen" wolle oder dass der Junge "das nicht verstehen" könne. Natürlich züchtet man so nur Detektive.
Und genau in dieser zweifelhaften Rolle erleben wir den Jungen gleich von Anfang an. Er konfrontiert seinen Vater etwa mit der Frage, weshalb denn der Onkel Dima damals ins Gefängnis habe gehen müssen, habe der etwa den Großvater ermordet? Aber schon hier fällt etwas auf: die Erzählperspektive. Sie ist äußerst eigenartig, ja lässt überhaupt kein flüssiges Lesen zu. Der Junge sagt zwar dauernd "ich", aber die Innensicht liegt gar nicht bei ihm selbst, sondern bei anderen Figuren, mal bei der Mutter, beim Vater, bei einem seiner Onkel, dann kurz auch bei ihm selbst und ganz zuletzt bei seiner Schwester Jelena. Das heißt, wir erfahren etwa die von der Erzählstimme berichteten Gedanken und Gefühle des Vaters, während er sich mit dem Jungen unterhält. Wer in den Kopf einer Figur schauen kann, der kennt auch ihre Gedanken. Aber gerade das ist das Verrückte, das Teuflische dieser Anfangskapitel: Wir hören zwar die Gedanken, aber die Fragen auf die Geheimnisse werden nicht beantwortet. Und so findet sich der Leser in der Situation wieder, zugleich zu wissen, was diese Figuren empfinden, wahrnehmen und denken, aber dennoch aus ihren Köpfen keine relevanten Antworten zu erhalten.
Und das alles in ruhigem präzisem Erzählton.
Der Junge sieht sogar an einigen Stellen "sich selbst" durch die Augen anderer, etwa wenn er schläft: "Sie betrachtete kurz wütend mein kleines, strenges, vielleicht etwas zu jüdisches Gesicht und wunderte sich, dass sie es in der Dunkelheit so gut sah."
In jedem Schreibworkshop wäre diese paradoxe Perspektive heftig kritisiert worden. Darum sind Schreibworkshops ja auch so gefährlich.
Denn in Wahrheit vermittelt dieser Perspektivensprung eine maßvolle Menschenkenntnis, eine gütige und kühlstirnige Weisheit. Überhaupt ist das ein bemerkenswert weiser Roman, vor allem in seinen nebensächlichen Details. Er verzichtet zum Beispiel ganz auf das, womit viele Autoren meinen, auf das Extreme des Lebens an sich reagieren zu müssen: extreme Figuren.
Die einzige extreme Figur ist die Vergangenheit. Sie büschelt uns entgegen, sie lauert in Mappen, in Briefen, in Gesprächen, in beim Badeurlaub aufgeschnappten Details. Nur widerwillig nimmt der Erzähler, inzwischen zum Mann herangewachsen, ihr wiederholtes Erscheinen zur Kenntnis. Einmal wird ihm eine ganze Wagenladung von Antworten in Form zweier seitenlanger Briefe geliefert, die seine Tante Natalia an seinen Vater Semjon schrieb. Lange Briefe in Romanen sind meist ein ähnliches erzähltechnisches Problem wie das unvermutet "wiederentdeckte Tagebuch". Denn dass alte Tagebücher und Briefe verwertbare Informationsquellen abgeben, ist ein bedauerliches Hirngespinst realistischer Literatur. In Wirklichkeit stehen in alten Briefen immer nur unverständliche und rätselhafte Anspielungen auf irgendwas. Die Vergangenheit spricht die meiste Zeit zu uns wie - man verzeihe mir den Angebervergleich - der Wittgensteinsche Löwe, über den gesagt wird, dass wir ihn, könnte er sprechen, dennoch nicht verstehen würden; seine Referenzrahmen wären zu weit entfernt, zu außerirdisch für unsere Gehirne.
Biller verwendet sogar explizit einige Schreibworkshop-Todsünden in diesen Briefen: "Den Rest der Geschichte kennst du", sagt die Verfasserin, oder "Wie du bestimmt noch weißt" und so weiter, diese ganzen Formeln, die nur für den Leser gedacht sind, aber die doch kein realer Briefeschreiber jemals verwenden würde. Normalerweise lege ich so ziemlich jedes Buch, in dem nach mehr als der Hälfte ein umfangreiches Tagebuch oder ein Brief aufgefunden wird, in welchem lange Antworten auf tiefe Fragen stehen, sofort in mein Aquarium. Da gehört so Zeug hin, da kann es sich auflösen.
Aber "Sechs Koffer" landete nicht im Aquarium. Ich bin zwar, wie gesagt, im dritten Teil, wo die zwei Briefe von Natalia allerhand neue Informationen in die komplizierte Familienvergangenheit bringen (noch dazu in einem viel zu sehr an Billers eigenen präzisen Erzählstil erinnernden Stil), etwas aus dem Roman gekippt, aber, dachte ich mir dann, was, wenn einer tatsächlich seit Jahrzehnten in so einer Familie existiert, in der allen Ernstes solche Briefe geschrieben werden? Was, wenn das alles zwar eindeutig für die Zwecke romanhafter Mitteilbarkeit erfunden, aber eben nicht im geringsten erlogen ist?
"Und plötzlich war mir das alles egal", sagt der Erzähler. Immer wieder verpufft von einer Sekunde auf die nächste seine eigene Entflammbarkeit für die Geheimnisse der Vergangenheit. Er empfindet großen Ekel vor ihrer Zudringlichkeit und der Rolle, in die er durch sie gedrängt wird, und es waren gerade diese Stellen, die mich an diesem Roman am meisten fasziniert haben. Denn sie wirken wie Meldungen eines geistigen Immunsystems, über das gerade in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur äußerst selten und wenn, dann nur äußerst inkompetent, berichtet wird: der konsequenten Abkehr vom Glauben, man sei durch und durch ein Produkt, ein Opfer, eine Folge familiär-geschichtlicher Druckverhältnisse. "Und dann, angewidert und beschämt, machte ich - obwohl ich noch immer nicht alles durchgesehen hatte - Dimas harte, traurige, graue Geheimmappe wieder zu."
An einer Stelle trifft der Junge in Zürich seinen Onkel Lev, zu dem er, bis auf ein verstocktes und folgenloses Telefonat, nie gesprochen hat und den auch der Rest der Familie zu meiden scheint (wofür natürlich niemand einen vernünftigen Grund auszusprechen vermag), zufällig auf der Straße, später steht er vor dessen Haus und blickt hinauf. Und dann, schon gegen Ende des Romans, wird ein Kapitel aus der Sicht dieses unbekannten Lev erzählt. Und was macht Biller? Er lässt den alten Mann bereuen, damals auf seinen Neffen nicht reagiert zu haben: "Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er sich hinterher für seine Kaltherzigkeit geschämt hatte, und zwar so sehr, dass er, als er mich auf der Limmatbrücke erkannte, hektisch weitergegangen und fast gegen die Fußgängerampel gelaufen war". Was für ein gütiger, freundlicher Zug. Es erinnert mich sogar, obwohl der Vergleich etwas absurd ist, an das Wort des Jesuitengründers Ignatius von Loyola, die Aufgabe des guten Christen sei es, "das Wort seines Nächsten zu retten". In gewisser Weise wird auch etwas gerettet. Es wird für uns ins Menschliche, ins Nachvollziehbare gezogen. Vielleicht empfand der Onkel Lev wie wir, wie ich, sagt der Roman. Vielleicht sind es alle am Ende gute Menschen.
Einige wenige Teile des Buches sind mir zu karg und freudlos erzählt, mit wenig Magie. Da werden Sachverhalte dargestellt, Probleme mitgeteilt und festgehalten, mögliche Gründe für vergangenes Verhalten aufgelistet. Man spürt nicht auf jeder Seite den großen Rückenwind epischer Dichtkunst. Aber der humane Akt, sich bei Wahrung der eigenen Identität die intime Innensicht aller Nahverwandten zu erlauben, ihnen Seelenschärfe und Verstehbarkeit zu unterstellen, aber ihnen zugleich ihre, wenn man so sagen will, gottgegebene Unbetretbarkeit nicht wegzunehmen, hatte eine unwiderstehliche Wirkung auf mich - vor allem im berührenden und zarten letzten Kapitel, das ich, da man das Buch selbst lesen muss, nur kurz seiner Wirkung, aber weniger seinem Inhalt nach beschreiben werde.
Es ist aus der Sicht der Schwester erzählt, die im Roman wie auch im wahren Leben Journalistin ist und in Großbritannien lebt. In ihrem Beispiel gespiegelt sehen wir den Erzähler am Ende selbst an seinem Schreibtisch und begreifen, dass es sehr wohl einen dritten Weg gibt neben dem gewissenhaft detektivischen Rekonstruieren der Wahrheit einerseits und dem peinlich paralysierten Nichtwissenwollen andererseits, nämlich das (leider klingt das sehr nach Rezensionsdeutsch:) Aufspannen eines Erzählraumes, in dem all die Widersprüche eben nicht mehr die Rolle haben, die sie etwa vor Gericht, in Sachbüchern oder in mittelguten Kriminalromanen hätten. Sie bilden nicht das Unkraut, sondern den Nährbereich des Lebens.
Ja, in diesem letzten Kapitel, in diesem Achsensprung zur Perspektive der Schwester und dem dadurch unerhört sanft über sich selbst zu Gericht sitzenden Erzähler, ist Biller das gelungen, was es selten zu lesen gibt: eine Darstellung des Lebens, wie es sich wirklich anfühlt.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 19 Euro
Clemens J. Setz ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Bot: Gespräch ohne Autor" im Suhrkamp-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über Maxim Billers neuen Roman "Sechs Koffer".
Von Clemens J. Setz
Manchmal reden die Leute über Maxim Biller, als hätten sie ihn erfunden. Das ist mir schon damals aufgefallen, als sein Roman "Biografie" erschien. Den erhielt ich eines Tages unerwartet in der Post und schlich einige Wochen unsicher um dieses dicke Buch herum, bevor ich es anfing. Das Lesegefühl konnte ich dann nur durch ungeschickte Vergleiche ausdrücken, "wie Cecil Taylor in der Badewanne" und Ähnliches, so ein prächtiger, strahlender Irrsinn war dieses Werk. Die deutsche Kritik gab sich "gespalten", whatever. Und alle redeten über den Autor, als wäre er ihre Figur. Der sei so, aber leider nicht so, er erlebe dies und dann das und habe diese und jene Rolle für uns inne.
Und nun ist ein neues Buch von ihm erschienen, das sich, zumindest in der Zusammenfassung, um Billers eigene Familiengeschichte dreht, genauer, um die Frage nach der Schuld von deren Mitgliedern an der Ermordung seines Großvaters durch den KGB in Moskau im Jahr 1960. Alle kommen einmal dran mit Verdächtigtwerden, der Vater, die Mutter, die Tante, die drei Onkel. Die ganze Familie bewegt sich zueinander wie in Sirup, nichts ist unverkrampft ansprechbar, alles ständig vollgesogen von dunkler und komplizierter Vergangenheit. Man sitzt exilschwer in verschiedenen Städten, verbirgt sich voreinander, ahnt Dunkles, schreibt einander Briefe und antwortet immer wieder auf Fragen des jungen Ich-Erzählers, dass man "darüber nicht sprechen" wolle oder dass der Junge "das nicht verstehen" könne. Natürlich züchtet man so nur Detektive.
Und genau in dieser zweifelhaften Rolle erleben wir den Jungen gleich von Anfang an. Er konfrontiert seinen Vater etwa mit der Frage, weshalb denn der Onkel Dima damals ins Gefängnis habe gehen müssen, habe der etwa den Großvater ermordet? Aber schon hier fällt etwas auf: die Erzählperspektive. Sie ist äußerst eigenartig, ja lässt überhaupt kein flüssiges Lesen zu. Der Junge sagt zwar dauernd "ich", aber die Innensicht liegt gar nicht bei ihm selbst, sondern bei anderen Figuren, mal bei der Mutter, beim Vater, bei einem seiner Onkel, dann kurz auch bei ihm selbst und ganz zuletzt bei seiner Schwester Jelena. Das heißt, wir erfahren etwa die von der Erzählstimme berichteten Gedanken und Gefühle des Vaters, während er sich mit dem Jungen unterhält. Wer in den Kopf einer Figur schauen kann, der kennt auch ihre Gedanken. Aber gerade das ist das Verrückte, das Teuflische dieser Anfangskapitel: Wir hören zwar die Gedanken, aber die Fragen auf die Geheimnisse werden nicht beantwortet. Und so findet sich der Leser in der Situation wieder, zugleich zu wissen, was diese Figuren empfinden, wahrnehmen und denken, aber dennoch aus ihren Köpfen keine relevanten Antworten zu erhalten.
Und das alles in ruhigem präzisem Erzählton.
Der Junge sieht sogar an einigen Stellen "sich selbst" durch die Augen anderer, etwa wenn er schläft: "Sie betrachtete kurz wütend mein kleines, strenges, vielleicht etwas zu jüdisches Gesicht und wunderte sich, dass sie es in der Dunkelheit so gut sah."
In jedem Schreibworkshop wäre diese paradoxe Perspektive heftig kritisiert worden. Darum sind Schreibworkshops ja auch so gefährlich.
Denn in Wahrheit vermittelt dieser Perspektivensprung eine maßvolle Menschenkenntnis, eine gütige und kühlstirnige Weisheit. Überhaupt ist das ein bemerkenswert weiser Roman, vor allem in seinen nebensächlichen Details. Er verzichtet zum Beispiel ganz auf das, womit viele Autoren meinen, auf das Extreme des Lebens an sich reagieren zu müssen: extreme Figuren.
Die einzige extreme Figur ist die Vergangenheit. Sie büschelt uns entgegen, sie lauert in Mappen, in Briefen, in Gesprächen, in beim Badeurlaub aufgeschnappten Details. Nur widerwillig nimmt der Erzähler, inzwischen zum Mann herangewachsen, ihr wiederholtes Erscheinen zur Kenntnis. Einmal wird ihm eine ganze Wagenladung von Antworten in Form zweier seitenlanger Briefe geliefert, die seine Tante Natalia an seinen Vater Semjon schrieb. Lange Briefe in Romanen sind meist ein ähnliches erzähltechnisches Problem wie das unvermutet "wiederentdeckte Tagebuch". Denn dass alte Tagebücher und Briefe verwertbare Informationsquellen abgeben, ist ein bedauerliches Hirngespinst realistischer Literatur. In Wirklichkeit stehen in alten Briefen immer nur unverständliche und rätselhafte Anspielungen auf irgendwas. Die Vergangenheit spricht die meiste Zeit zu uns wie - man verzeihe mir den Angebervergleich - der Wittgensteinsche Löwe, über den gesagt wird, dass wir ihn, könnte er sprechen, dennoch nicht verstehen würden; seine Referenzrahmen wären zu weit entfernt, zu außerirdisch für unsere Gehirne.
Biller verwendet sogar explizit einige Schreibworkshop-Todsünden in diesen Briefen: "Den Rest der Geschichte kennst du", sagt die Verfasserin, oder "Wie du bestimmt noch weißt" und so weiter, diese ganzen Formeln, die nur für den Leser gedacht sind, aber die doch kein realer Briefeschreiber jemals verwenden würde. Normalerweise lege ich so ziemlich jedes Buch, in dem nach mehr als der Hälfte ein umfangreiches Tagebuch oder ein Brief aufgefunden wird, in welchem lange Antworten auf tiefe Fragen stehen, sofort in mein Aquarium. Da gehört so Zeug hin, da kann es sich auflösen.
Aber "Sechs Koffer" landete nicht im Aquarium. Ich bin zwar, wie gesagt, im dritten Teil, wo die zwei Briefe von Natalia allerhand neue Informationen in die komplizierte Familienvergangenheit bringen (noch dazu in einem viel zu sehr an Billers eigenen präzisen Erzählstil erinnernden Stil), etwas aus dem Roman gekippt, aber, dachte ich mir dann, was, wenn einer tatsächlich seit Jahrzehnten in so einer Familie existiert, in der allen Ernstes solche Briefe geschrieben werden? Was, wenn das alles zwar eindeutig für die Zwecke romanhafter Mitteilbarkeit erfunden, aber eben nicht im geringsten erlogen ist?
"Und plötzlich war mir das alles egal", sagt der Erzähler. Immer wieder verpufft von einer Sekunde auf die nächste seine eigene Entflammbarkeit für die Geheimnisse der Vergangenheit. Er empfindet großen Ekel vor ihrer Zudringlichkeit und der Rolle, in die er durch sie gedrängt wird, und es waren gerade diese Stellen, die mich an diesem Roman am meisten fasziniert haben. Denn sie wirken wie Meldungen eines geistigen Immunsystems, über das gerade in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur äußerst selten und wenn, dann nur äußerst inkompetent, berichtet wird: der konsequenten Abkehr vom Glauben, man sei durch und durch ein Produkt, ein Opfer, eine Folge familiär-geschichtlicher Druckverhältnisse. "Und dann, angewidert und beschämt, machte ich - obwohl ich noch immer nicht alles durchgesehen hatte - Dimas harte, traurige, graue Geheimmappe wieder zu."
An einer Stelle trifft der Junge in Zürich seinen Onkel Lev, zu dem er, bis auf ein verstocktes und folgenloses Telefonat, nie gesprochen hat und den auch der Rest der Familie zu meiden scheint (wofür natürlich niemand einen vernünftigen Grund auszusprechen vermag), zufällig auf der Straße, später steht er vor dessen Haus und blickt hinauf. Und dann, schon gegen Ende des Romans, wird ein Kapitel aus der Sicht dieses unbekannten Lev erzählt. Und was macht Biller? Er lässt den alten Mann bereuen, damals auf seinen Neffen nicht reagiert zu haben: "Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er sich hinterher für seine Kaltherzigkeit geschämt hatte, und zwar so sehr, dass er, als er mich auf der Limmatbrücke erkannte, hektisch weitergegangen und fast gegen die Fußgängerampel gelaufen war". Was für ein gütiger, freundlicher Zug. Es erinnert mich sogar, obwohl der Vergleich etwas absurd ist, an das Wort des Jesuitengründers Ignatius von Loyola, die Aufgabe des guten Christen sei es, "das Wort seines Nächsten zu retten". In gewisser Weise wird auch etwas gerettet. Es wird für uns ins Menschliche, ins Nachvollziehbare gezogen. Vielleicht empfand der Onkel Lev wie wir, wie ich, sagt der Roman. Vielleicht sind es alle am Ende gute Menschen.
Einige wenige Teile des Buches sind mir zu karg und freudlos erzählt, mit wenig Magie. Da werden Sachverhalte dargestellt, Probleme mitgeteilt und festgehalten, mögliche Gründe für vergangenes Verhalten aufgelistet. Man spürt nicht auf jeder Seite den großen Rückenwind epischer Dichtkunst. Aber der humane Akt, sich bei Wahrung der eigenen Identität die intime Innensicht aller Nahverwandten zu erlauben, ihnen Seelenschärfe und Verstehbarkeit zu unterstellen, aber ihnen zugleich ihre, wenn man so sagen will, gottgegebene Unbetretbarkeit nicht wegzunehmen, hatte eine unwiderstehliche Wirkung auf mich - vor allem im berührenden und zarten letzten Kapitel, das ich, da man das Buch selbst lesen muss, nur kurz seiner Wirkung, aber weniger seinem Inhalt nach beschreiben werde.
Es ist aus der Sicht der Schwester erzählt, die im Roman wie auch im wahren Leben Journalistin ist und in Großbritannien lebt. In ihrem Beispiel gespiegelt sehen wir den Erzähler am Ende selbst an seinem Schreibtisch und begreifen, dass es sehr wohl einen dritten Weg gibt neben dem gewissenhaft detektivischen Rekonstruieren der Wahrheit einerseits und dem peinlich paralysierten Nichtwissenwollen andererseits, nämlich das (leider klingt das sehr nach Rezensionsdeutsch:) Aufspannen eines Erzählraumes, in dem all die Widersprüche eben nicht mehr die Rolle haben, die sie etwa vor Gericht, in Sachbüchern oder in mittelguten Kriminalromanen hätten. Sie bilden nicht das Unkraut, sondern den Nährbereich des Lebens.
Ja, in diesem letzten Kapitel, in diesem Achsensprung zur Perspektive der Schwester und dem dadurch unerhört sanft über sich selbst zu Gericht sitzenden Erzähler, ist Biller das gelungen, was es selten zu lesen gibt: eine Darstellung des Lebens, wie es sich wirklich anfühlt.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 19 Euro
Clemens J. Setz ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Bot: Gespräch ohne Autor" im Suhrkamp-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2018Verhüllt in einer Wehmutswolke
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Biller hat unerwartet einen zärtlichen, fast kuscheligen jüdischen Schelmen- und Familienroman vorgelegt, wie es ihn so in deutscher Sprache noch nie gab. Für Vergleichbares müsste man schon auf die jiddische Literatur zurückgreifen. Dort sind Billers Figuren etwa in Familienromanen wie "Die Familie Karnovski", "Die Familie Moskat" oder die "Brüder Aschkenasi" der Brüder Singer vorgebildet, allerdings mit größerer Plastizität und beunruhigendem emotionalen Tiefgang.
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Biller hat unerwartet einen zärtlichen, fast kuscheligen jüdischen Schelmen- und Familienroman vorgelegt, wie es ihn so in deutscher Sprache noch nie gab. Für Vergleichbares müsste man schon auf die jiddische Literatur zurückgreifen. Dort sind Billers Figuren etwa in Familienromanen wie "Die Familie Karnovski", "Die Familie Moskat" oder die "Brüder Aschkenasi" der Brüder Singer vorgebildet, allerdings mit größerer Plastizität und beunruhigendem emotionalen Tiefgang.
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geißler scheint Maxim Billers neues Buch zu mögen. Vor allem, wie der Autor Wahrheit und Zweifel mischt, sodass der Leser beides gleich überzeugend findet, ohne aber das Geheimnis hinter der erzählten Familiengeschichte zu erfahren, hat ihr gefallen. Warum musste der Großvater sterben? Wer hat ihn in den sechziger Jahren in Moskau an den KGB verraten? Auch die schiere Dichte des Erzählten, Flucht, familiärer Neid, Verwandtschaft und Liebe, findet Geißler staunenswert. Kunstvoll erscheint ihr des Weiteren Billers schachtelartiges Wechseln der mannigfachen Perspektiven, für die der Autor laut Rezensentin immer den richtigen Ton findet, mal pathetisch, mal melancholisch, aber immer intensiv.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Große Literatur« David Baum stern 20180809