»Ein Meistererzähler.« Richard KämmerlingsVier Tage vor dem Höhepunkt des Sommers, dort, wo sich Louis Arthur Schongauer, einst düsterer Deutscher in Hollywood-Filmen, nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen hat. Jetzt will er nur noch mit seiner Hündin leben, inmitten alter Oliven oberhalb des Gardasees. Doch dann strandet eine Reisebloggerin beim Wenden in seiner Zufahrt, und am nächsten Tag erwartet er eine Autorin, die ihn mit einem Porträt aus der Vergessenheit holen will: zwei Frauen mit Gespür für die Wunden in seinem Leben. Umso wichtiger wird ihm nun sein Tier, für das es nur ein Hier und Jetzt gibt ... In Bodo Kirchhoffs neuem Roman geht es um die Sehnsucht nach dem Menschen, der uns erkennt, und die Abgründe, die sich auftun, wenn wir dieser Sehnsucht folgen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen gewissen Frauenüberschuss gibt es in Bodo Kirchhoffs Buch um die männliche Hauptfigur herum, führt Rezensent Matthias Alexander aus, was allerdings glücklicherweise nicht dazu führt, dass der Roman zu einem Stück Altherrenliteratur wird. Im Zentrum steht der 75 Jahre alte ehemalige Schauspieler Louis Arthur Schongauer, bei den Frauen handelt es sich um die junge Reisebloggerin Frida, die auf Schongauers Grundstück strandet und die mittelalte Journalistin Almut Stein, die ein Porträt über die Hauptfigur verfassen möchte. Außerdem gibt es noch zwei tote Frauen in Schongauers Vergangenheit, wodurch ein dichtes Gewebe aus sich ineinander spiegelnden Figuren entsteht, resümiert der Kritiker. Die Hauptfigur muss sich also ihrer Vergangenheit stellen, erläutert der Rezensent, aber auch die Frauen werden immer deutlicher und ziemlich differenziert gezeichnet, und dann wäre da noch das Tier des Titels, ein Hund, der in diesem klug konstruierten Buch übers Loslassen eine nicht unwichtige Rolle spielt. Wie sich das alles kunstvoll ineinander fügt, hat Alexander ausgesprochen gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2024Die Sache mit dem Herzen
Bodo Kirchhoff erzählt ohne faule Kompromisse. In seinem Roman „Seit er sein Leben
mit einem Tier teilt“ verabschiedet sich ein alternder Künstler von der Sexualität.
VON HILMAR KLUTE
Bodo Kirchhoffs Schreiben kreist um die Liebe, genauer gesagt, um den zerstörerischen Anteil in ihr. Dieser Anteil erfährt von Buch zu Buch wachsende Beachtung, zumal da Kirchhoff in seinem Roman „Dämmer und Aufruhr“ sowie in seinen Frankfurt Poetikvorlesungen „Bericht zur Lage des Glücks“ von seinen Missbrauchserfahrungen in seiner eigenen, den gewohnten Diskurs darüber torpedierenden Art geschrieben und gesprochen hat. Ein Erotomane also? Nein, das ist der Schriftsteller Kirchhoff nicht, eher ist er ein mit der Sexualität Hadernder, der auch die Leere und die Abgründe der Schuld in ihr sieht; darin, aber auch in vielen Momenten seiner Beschreibungskunst ist Kirchhoff dem katholischen Weltbürger Julien Green verwandt, der trotz oder besser wegen seiner seltsamen Angst vor der Ursünde die abgründigsten Liebesgeschichten erzählen könnte.
Mag sein, dass Kirchhoffs Helden weniger erhaben daherkommen als die bei Green, ihre Lebensbilanzen fallen zumeist durchwachsen aus, oft sind es große Leidende mit mittelmäßigen Biografien. Das ist auch in Kirchhoffs neuem Roman so, dessen Titel gleich eine neue Stufe der Einsamkeitseskalation andeutet: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“. Er heißt Louis Arthur Schongauer, L. A. abgekürzt, eine Initialzündung, die immer wieder angeworfen wird, denn Schongauer war in früheren Jahren Hollywoodschauspieler, allerdings keiner von den Großen, sondern ein sogenannter „Supporting Character“.
Schongauer spielte konstant den Nazi-Deutschen, immerhin in großen Filmen wie „Der Soldat James Ryan“. Seine abwechslungslose Rekrutierung erklärt er sich so: „Man hat ihn geholt, weil er einen kalten Blick aus rehbraunen Augen hatte und eine Stimme, die wehtun konnte, aber auch schmeicheln, in der etwas Falsches und doch Wahrhaftiges lag.“ Kälte und Wärme, Schmerz und Zuneigung, Lüge und Wahrheit – Ambiguität ist der Treibstoff dieses Romans. Der Leser trifft Schongauer in seinem Landhaus über dem Gardasee an, die Landschaft um Torri de Benaco ist auch Kirchhoffs zweite Heimat. Ein paar Koordinaten im Roman – das Hotel, der Stadtteil Coi - reichen, um den Ort identifizieren zu können. In der Dunkelheit einer Augustnacht strandet die junge Reisebloggerin Frida Roth vor Schongauers Grundstück; der alte Mann tritt ihr mit einem Revolver entgegen, aus dem er vorsorglich die Patronen entfernt hat. Eine Autopanne, ein paar herausfordernde Dialogfetzen und der Alte gewährt der Jungen Logis, wenn auch nur in ihrem Wohnwagen vor seinem Haus, in dem er mit seiner Hündin Ascha lebt, einem eher promisken Tier, das die längst akzeptierte Verlorenheit des Alten wittert und rasch zur vierundzwanzigjährigen Frida überläuft.
Man ist ja verführt, immer wieder dem Handwerker Kirchhoff auf die Finger zu schauen, auch deshalb, weil der Schriftsteller in seinem Haus am Gardasee regelmäßig eine Schreibwerkstatt anbietet. Der Gedanke regt sich, dass Kirchhoff seinen – oft schon spät erwachsenen – Schülern jene Regel schmackhaft machen würde, nach der ein Revolver auch irgendwann benutzt werden müsse. Man verrät nicht zu viel von Kirchhoffs neuem, auch auf die Lockungen eines verführerischen Plots vertrauenden Roman, wenn man erleichtert Entwarnung gibt.
Trotzdem hat auch der Revolver eine Biografie; sie wird auf jener Beziehungsebene entfaltet, auf der Schongauer die Tragödie seines Lebens erzählt. Denn neben dem unerwarteten Besuch von Frida beginnt sich Schongauer auf die brieflich („mit ihrer irgendwie gegen sie gerichteten, fast männlichen Schrift“) und telefonisch („Ihre Stimme hat etwas wie von Leuten, die vorgeben, auf beiden Beinen zu stehen, obwohl sie am Boden liegen“) angekündigte Ankunft der Frankfurter Journalistin Almut Stein einzustellen.
Vielleicht ist Journalistin ein zu großes Wort für diese Frau Ende vierzig, die mit einem erfolgreichen Kardiologen verheiratet ist, aber eher flüchtige Kontakte zur Presselandschaft unterhält. Deshalb weiß sie auch noch nicht, wo das Porträt erscheinen soll, für das sie mit dem teuren Oldtimer ihres Mannes in Schongauers Eremitage fährt. Almut ist nicht nur mit mindestens zwei Aufnahmegeräten angereist, sondern mit der festen Absicht, die wunden Stellen in Schongauers Biografie aufzukratzen. So wie sie selbst eine kleine Wunde, die sie sich während eines großen Unwetters zugezogen hat, immer wieder zum Bluten bringt. Bodo Kirchhoff gehört zu den in Deutschland sehr seltenen Schriftstellern, die fesselnd erzählen können, ohne dabei faule Kompromisse mit der Sprache eingehen zu müssen. So ist jeder Höhepunkt in diesem Roman sorgsam vorbereitet. Schongauers Herzleiden, das als Entladung in Aussicht gestellte sommerliche Unwetter ebenso wie die von Tod und Schuld umflorten beiden Liebesverhältnisse.
Eines davon war die Ehe mit der Tierfotografin Magdalena Reinhart, die Schongauer aus dem Elend des Kleindarstellerdaseins in die weite Welt der Fotomotivsuche mitgenommen hatte. Magdalenas Vorliebe galt hässlichen und toten Tieren. Der wellenumspülte Kadaver eines Pferdes, Magdas letztes Werk, ist das zentrale Bild in Schongauers Wohnung. Kurz nach der Aufnahme ertrank Magdalena in einer Brandung vor Dakar.
Die Frage, ob er sie habe retten können, kreist als ewige Schuldvermutung über dem sich nun anbahnenden Leben zu dritt im italienischen Landhaus. Die Hündin Ascha ging anstelle eines Kindes aus der Beziehung hervor. In Erinnerungen blitzt diese Geschichte einer schmerzlichen, von Eifersucht und Unverbindlichkeiten wund geschlagenen Liebe immer wieder auf, konterkariert von der früheren, ungleich tragischeren Beziehung Schongauers mit der jungen Kostümbildnerin Lynn. Der Revolver, den Schongauer im Nachtschränkchen aufbewahrt, ist jene Waffe, mit der sich Lynn vor seinen Augen erschossen hatte – ein bitteres Souvenir, das immer die Möglichkeit des gewaltsamen Endes bereithält.
Man könnte einwenden, dass es ein bisschen zu viel tragische Konstellationen in Schongauers Leben gab, die Figur ist überversorgt mit Schicksal. Gegen Ende erreicht den Jubilar an seinem 75. Geburtstag zudem noch eine absonderliche Nachricht aus der Vergangenheit. Kirchhoff hat seinen lebensüberdrüssigen Alten zudem mit einer eigenartigen Willfährigkeit ausgestattet, die ihn immer wieder in die Hände anderer Menschen, vorzugsweise Frauen, gleiten lässt. Auch Almut versieht Kirchhoff mit einer Biografie des Scheiterns; ihr Mann hat sich bei einem Hilfseinsatz in der Ukraine in eine junge Frau verliebt, seine regelmäßigen Anrufe gelten aber weniger dem verletzten Herzen seiner Gattin als der Sorge um das Cabrio.
Nach einer Fehlgeburt habe er ihr Magdalenas Buch mit Hundefotos geschenkt, gesteht sie Schongauer, der sich selbst auch als eine Art Fehlgeburt betrachtet. Sein Vater, ein GI, hat ihn verlassen, seine Mutter gab ihn in ein Heim – die Motivlage kennt man aus „Dämmer und Aufruhr“, die Verletzung der Kinderseele als dunkler Sehnsuchtstrieb gehört zum Seelenkern von Kirchhoffs Büchern.
Nichts ist billig gemacht an diesem eindrucksvollen Roman, keine Erwartung, die geweckt wird, erleidet das triste Schicksal der Erfüllung. Kirchhoffs Erzählkunst verlässt nie die früh gewonnene Höhe und verwaltet klug und angemessen die vielen, in Kirchhoffs Werk stets wiederkehrenden Motive. Eines davon ist das der Tiefe, in der man verloren gehen kann und andererseits das wiederzufinden sucht, was möglicherweise der Schlüssel zum eigenen Lebenselend sein könnte.
Wenn Schongauer mit Almut im Gardasee schwimmt, dann gibt es keine seichte Stelle für den Fuß, der See könnte ihn jederzeit runterziehen. Wenn sich Schongauer an seine frühe Theaterzeit erinnert, dann an seine Rolle „in dem Debütstück eines jungen Autors“, in welchem ein Junge aus Sehnsucht ein Loch in die Erde gräbt, in der Hoffnung, in Neuseeland herauszukommen. Der junge Autor, so viel Eigenphilologie gönnt Kirchhoff sich, hieß Bodo Kirchhoff. Sein Stück „Das Kind oder Die Vernichtung von Neuseeland“ wurde allerdings in Saarbrücken uraufgeführt, aber ein bisschen Verfremdung gehört sich halt.
Lesend verfällt man dem Sog von Kirchhoffs Erzählen, das kennt man eigentlich eher von der Lektüre amerikanischer Autorinnen oder mancher Franzosen. Aber auch Kirchhoff selbst treibt sein dramatisches Kammerspiel recht zügellos in immer neue Konstellationen. Warum Fridas nervtötende Mutter Lilly, eine bekannte Fernsehmoderatorin („Der reine Tisch“), die ihre Gäste seelisch entkleidet, auch noch ins Landhaus kommen muss, um sich zu betrinken und ihr Leid über die undankbare Tochter zu klagen, könnte man fragen. Auch, dass Bernhard Stein, der Ehemann der um vieles betrogenen Almut, ausgerechnet Kardiologe ist (in einem absurden Telefonat stellt er Schongauer sogar eine Ferndiagnose), mag man als motivische Überbuchung empfinden.
Dabei ist ja Kirchhoffs Erzählen selbst wie Operieren am offenen Herzen. Die je körperlicher, umso trauriger werdende Zuneigung Almuts zu Schongauer ist eine einzige Fluchtbewegung in die Innerlichkeit, denn am äußeren Leben stimmt bei beiden so gut wie gar nichts mehr. Die Aussicht, mit einer jüngeren Frau zu schlafen, ist für Schongauer weniger Verführung als später Sündenfall.
Das Badezimmer ist in diesem Buch ein Ort, in den sich alle regelmäßig flüchten wie in eine Kapelle. Kein Wunder, denn vis-à-vis vom Klo hängt ein Bild des Renaissance-Malers Martin Schongauer, von dem L.A. Schongauer eine Verwandtschaftslinie zu sich glaubt herleiten zu können. „Der Stich zeigt die Versuchung des Heiligen Antonius durch weibliche Schauderwesen und ist so gehängt, dass man ihn, auf dem Klo sitzend, vor sich hat.“ Ein Altar für alle, die ein verletztes Gewissen haben. Seit er sein Leben mit einem Tier teilt – Schongauer nennt Ascha „Tier“, nicht Hund –, wähnt sich der Schauspieler einigermaßen sicher vor den Zerstörungen durch die menschliche Liebe. Der Sommerorkan verwüstet seinen Garten und ordnet die Figuren allmählich wieder ihren Bestimmungen zu. Almut reist zu ihrem Mann zurück ins Graue, Frida und Ascha fahren ins Blaue, und Schongauer wartet auf die Nacht. Nur die Sache mit dem Herzen wird sich wohl nicht mehr endgültig klären lassen.
Jeder Höhepunkt
in diesem Roman ist
sorgsam vorbereitet
Kirchhoffs Erzählen
ist wie Operieren
am offenen Herzen
Aus einer früheren Beziehung blieb zwar kein Kind, aber eine Hündin zurück. Gemälde aus dem 19. Jahrhundert.
Foto: Tschanz-Hofmann / Imago
Bodo Kirchhoff: Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. Roman. Dtv, München 2023. 384 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bodo Kirchhoff erzählt ohne faule Kompromisse. In seinem Roman „Seit er sein Leben
mit einem Tier teilt“ verabschiedet sich ein alternder Künstler von der Sexualität.
VON HILMAR KLUTE
Bodo Kirchhoffs Schreiben kreist um die Liebe, genauer gesagt, um den zerstörerischen Anteil in ihr. Dieser Anteil erfährt von Buch zu Buch wachsende Beachtung, zumal da Kirchhoff in seinem Roman „Dämmer und Aufruhr“ sowie in seinen Frankfurt Poetikvorlesungen „Bericht zur Lage des Glücks“ von seinen Missbrauchserfahrungen in seiner eigenen, den gewohnten Diskurs darüber torpedierenden Art geschrieben und gesprochen hat. Ein Erotomane also? Nein, das ist der Schriftsteller Kirchhoff nicht, eher ist er ein mit der Sexualität Hadernder, der auch die Leere und die Abgründe der Schuld in ihr sieht; darin, aber auch in vielen Momenten seiner Beschreibungskunst ist Kirchhoff dem katholischen Weltbürger Julien Green verwandt, der trotz oder besser wegen seiner seltsamen Angst vor der Ursünde die abgründigsten Liebesgeschichten erzählen könnte.
Mag sein, dass Kirchhoffs Helden weniger erhaben daherkommen als die bei Green, ihre Lebensbilanzen fallen zumeist durchwachsen aus, oft sind es große Leidende mit mittelmäßigen Biografien. Das ist auch in Kirchhoffs neuem Roman so, dessen Titel gleich eine neue Stufe der Einsamkeitseskalation andeutet: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“. Er heißt Louis Arthur Schongauer, L. A. abgekürzt, eine Initialzündung, die immer wieder angeworfen wird, denn Schongauer war in früheren Jahren Hollywoodschauspieler, allerdings keiner von den Großen, sondern ein sogenannter „Supporting Character“.
Schongauer spielte konstant den Nazi-Deutschen, immerhin in großen Filmen wie „Der Soldat James Ryan“. Seine abwechslungslose Rekrutierung erklärt er sich so: „Man hat ihn geholt, weil er einen kalten Blick aus rehbraunen Augen hatte und eine Stimme, die wehtun konnte, aber auch schmeicheln, in der etwas Falsches und doch Wahrhaftiges lag.“ Kälte und Wärme, Schmerz und Zuneigung, Lüge und Wahrheit – Ambiguität ist der Treibstoff dieses Romans. Der Leser trifft Schongauer in seinem Landhaus über dem Gardasee an, die Landschaft um Torri de Benaco ist auch Kirchhoffs zweite Heimat. Ein paar Koordinaten im Roman – das Hotel, der Stadtteil Coi - reichen, um den Ort identifizieren zu können. In der Dunkelheit einer Augustnacht strandet die junge Reisebloggerin Frida Roth vor Schongauers Grundstück; der alte Mann tritt ihr mit einem Revolver entgegen, aus dem er vorsorglich die Patronen entfernt hat. Eine Autopanne, ein paar herausfordernde Dialogfetzen und der Alte gewährt der Jungen Logis, wenn auch nur in ihrem Wohnwagen vor seinem Haus, in dem er mit seiner Hündin Ascha lebt, einem eher promisken Tier, das die längst akzeptierte Verlorenheit des Alten wittert und rasch zur vierundzwanzigjährigen Frida überläuft.
Man ist ja verführt, immer wieder dem Handwerker Kirchhoff auf die Finger zu schauen, auch deshalb, weil der Schriftsteller in seinem Haus am Gardasee regelmäßig eine Schreibwerkstatt anbietet. Der Gedanke regt sich, dass Kirchhoff seinen – oft schon spät erwachsenen – Schülern jene Regel schmackhaft machen würde, nach der ein Revolver auch irgendwann benutzt werden müsse. Man verrät nicht zu viel von Kirchhoffs neuem, auch auf die Lockungen eines verführerischen Plots vertrauenden Roman, wenn man erleichtert Entwarnung gibt.
Trotzdem hat auch der Revolver eine Biografie; sie wird auf jener Beziehungsebene entfaltet, auf der Schongauer die Tragödie seines Lebens erzählt. Denn neben dem unerwarteten Besuch von Frida beginnt sich Schongauer auf die brieflich („mit ihrer irgendwie gegen sie gerichteten, fast männlichen Schrift“) und telefonisch („Ihre Stimme hat etwas wie von Leuten, die vorgeben, auf beiden Beinen zu stehen, obwohl sie am Boden liegen“) angekündigte Ankunft der Frankfurter Journalistin Almut Stein einzustellen.
Vielleicht ist Journalistin ein zu großes Wort für diese Frau Ende vierzig, die mit einem erfolgreichen Kardiologen verheiratet ist, aber eher flüchtige Kontakte zur Presselandschaft unterhält. Deshalb weiß sie auch noch nicht, wo das Porträt erscheinen soll, für das sie mit dem teuren Oldtimer ihres Mannes in Schongauers Eremitage fährt. Almut ist nicht nur mit mindestens zwei Aufnahmegeräten angereist, sondern mit der festen Absicht, die wunden Stellen in Schongauers Biografie aufzukratzen. So wie sie selbst eine kleine Wunde, die sie sich während eines großen Unwetters zugezogen hat, immer wieder zum Bluten bringt. Bodo Kirchhoff gehört zu den in Deutschland sehr seltenen Schriftstellern, die fesselnd erzählen können, ohne dabei faule Kompromisse mit der Sprache eingehen zu müssen. So ist jeder Höhepunkt in diesem Roman sorgsam vorbereitet. Schongauers Herzleiden, das als Entladung in Aussicht gestellte sommerliche Unwetter ebenso wie die von Tod und Schuld umflorten beiden Liebesverhältnisse.
Eines davon war die Ehe mit der Tierfotografin Magdalena Reinhart, die Schongauer aus dem Elend des Kleindarstellerdaseins in die weite Welt der Fotomotivsuche mitgenommen hatte. Magdalenas Vorliebe galt hässlichen und toten Tieren. Der wellenumspülte Kadaver eines Pferdes, Magdas letztes Werk, ist das zentrale Bild in Schongauers Wohnung. Kurz nach der Aufnahme ertrank Magdalena in einer Brandung vor Dakar.
Die Frage, ob er sie habe retten können, kreist als ewige Schuldvermutung über dem sich nun anbahnenden Leben zu dritt im italienischen Landhaus. Die Hündin Ascha ging anstelle eines Kindes aus der Beziehung hervor. In Erinnerungen blitzt diese Geschichte einer schmerzlichen, von Eifersucht und Unverbindlichkeiten wund geschlagenen Liebe immer wieder auf, konterkariert von der früheren, ungleich tragischeren Beziehung Schongauers mit der jungen Kostümbildnerin Lynn. Der Revolver, den Schongauer im Nachtschränkchen aufbewahrt, ist jene Waffe, mit der sich Lynn vor seinen Augen erschossen hatte – ein bitteres Souvenir, das immer die Möglichkeit des gewaltsamen Endes bereithält.
Man könnte einwenden, dass es ein bisschen zu viel tragische Konstellationen in Schongauers Leben gab, die Figur ist überversorgt mit Schicksal. Gegen Ende erreicht den Jubilar an seinem 75. Geburtstag zudem noch eine absonderliche Nachricht aus der Vergangenheit. Kirchhoff hat seinen lebensüberdrüssigen Alten zudem mit einer eigenartigen Willfährigkeit ausgestattet, die ihn immer wieder in die Hände anderer Menschen, vorzugsweise Frauen, gleiten lässt. Auch Almut versieht Kirchhoff mit einer Biografie des Scheiterns; ihr Mann hat sich bei einem Hilfseinsatz in der Ukraine in eine junge Frau verliebt, seine regelmäßigen Anrufe gelten aber weniger dem verletzten Herzen seiner Gattin als der Sorge um das Cabrio.
Nach einer Fehlgeburt habe er ihr Magdalenas Buch mit Hundefotos geschenkt, gesteht sie Schongauer, der sich selbst auch als eine Art Fehlgeburt betrachtet. Sein Vater, ein GI, hat ihn verlassen, seine Mutter gab ihn in ein Heim – die Motivlage kennt man aus „Dämmer und Aufruhr“, die Verletzung der Kinderseele als dunkler Sehnsuchtstrieb gehört zum Seelenkern von Kirchhoffs Büchern.
Nichts ist billig gemacht an diesem eindrucksvollen Roman, keine Erwartung, die geweckt wird, erleidet das triste Schicksal der Erfüllung. Kirchhoffs Erzählkunst verlässt nie die früh gewonnene Höhe und verwaltet klug und angemessen die vielen, in Kirchhoffs Werk stets wiederkehrenden Motive. Eines davon ist das der Tiefe, in der man verloren gehen kann und andererseits das wiederzufinden sucht, was möglicherweise der Schlüssel zum eigenen Lebenselend sein könnte.
Wenn Schongauer mit Almut im Gardasee schwimmt, dann gibt es keine seichte Stelle für den Fuß, der See könnte ihn jederzeit runterziehen. Wenn sich Schongauer an seine frühe Theaterzeit erinnert, dann an seine Rolle „in dem Debütstück eines jungen Autors“, in welchem ein Junge aus Sehnsucht ein Loch in die Erde gräbt, in der Hoffnung, in Neuseeland herauszukommen. Der junge Autor, so viel Eigenphilologie gönnt Kirchhoff sich, hieß Bodo Kirchhoff. Sein Stück „Das Kind oder Die Vernichtung von Neuseeland“ wurde allerdings in Saarbrücken uraufgeführt, aber ein bisschen Verfremdung gehört sich halt.
Lesend verfällt man dem Sog von Kirchhoffs Erzählen, das kennt man eigentlich eher von der Lektüre amerikanischer Autorinnen oder mancher Franzosen. Aber auch Kirchhoff selbst treibt sein dramatisches Kammerspiel recht zügellos in immer neue Konstellationen. Warum Fridas nervtötende Mutter Lilly, eine bekannte Fernsehmoderatorin („Der reine Tisch“), die ihre Gäste seelisch entkleidet, auch noch ins Landhaus kommen muss, um sich zu betrinken und ihr Leid über die undankbare Tochter zu klagen, könnte man fragen. Auch, dass Bernhard Stein, der Ehemann der um vieles betrogenen Almut, ausgerechnet Kardiologe ist (in einem absurden Telefonat stellt er Schongauer sogar eine Ferndiagnose), mag man als motivische Überbuchung empfinden.
Dabei ist ja Kirchhoffs Erzählen selbst wie Operieren am offenen Herzen. Die je körperlicher, umso trauriger werdende Zuneigung Almuts zu Schongauer ist eine einzige Fluchtbewegung in die Innerlichkeit, denn am äußeren Leben stimmt bei beiden so gut wie gar nichts mehr. Die Aussicht, mit einer jüngeren Frau zu schlafen, ist für Schongauer weniger Verführung als später Sündenfall.
Das Badezimmer ist in diesem Buch ein Ort, in den sich alle regelmäßig flüchten wie in eine Kapelle. Kein Wunder, denn vis-à-vis vom Klo hängt ein Bild des Renaissance-Malers Martin Schongauer, von dem L.A. Schongauer eine Verwandtschaftslinie zu sich glaubt herleiten zu können. „Der Stich zeigt die Versuchung des Heiligen Antonius durch weibliche Schauderwesen und ist so gehängt, dass man ihn, auf dem Klo sitzend, vor sich hat.“ Ein Altar für alle, die ein verletztes Gewissen haben. Seit er sein Leben mit einem Tier teilt – Schongauer nennt Ascha „Tier“, nicht Hund –, wähnt sich der Schauspieler einigermaßen sicher vor den Zerstörungen durch die menschliche Liebe. Der Sommerorkan verwüstet seinen Garten und ordnet die Figuren allmählich wieder ihren Bestimmungen zu. Almut reist zu ihrem Mann zurück ins Graue, Frida und Ascha fahren ins Blaue, und Schongauer wartet auf die Nacht. Nur die Sache mit dem Herzen wird sich wohl nicht mehr endgültig klären lassen.
Jeder Höhepunkt
in diesem Roman ist
sorgsam vorbereitet
Kirchhoffs Erzählen
ist wie Operieren
am offenen Herzen
Aus einer früheren Beziehung blieb zwar kein Kind, aber eine Hündin zurück. Gemälde aus dem 19. Jahrhundert.
Foto: Tschanz-Hofmann / Imago
Bodo Kirchhoff: Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. Roman. Dtv, München 2023. 384 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ich bin von diesem Roman hellauf begeistert. Er erinnert mich an etwas gut Destilliertes, das lange im Eichenfass gereift ist. Thea Dorn ZDF, Das Literarische Quartett 20240202
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2024Die Austreibung der Dämonen
Vier Frauen und zwei Todesfälle: In Bodo Kirchhoffs neuem
Roman "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" sucht ein alter Held während einiger schwüler Augusttage Erlösung und stellt sich einer Reifeprüfung in der Kunst des Loslassens.
Das Haus hoch über dem Ostufer des Gardasees, in dem Louis Arthur Schongauer wohnt, ist klein und idyllisch gelegen. Doch die Dämonen, die dort mit dem einstigen Schauspieler hausen, sind groß: Gleich zwei Frauen sind vor seinen Augen gestorben, nachdem es zuvor jeweils zum Beziehungsstreit gekommen ist. Die erste hat sich erschossen, die zweite ging schwimmen in einer Brandung, in die niemand gestiegen wäre, dem das eigene Leben lieb ist. Die eine hat Schongauer in Verkennung der Lage mit einem "Go ahead" noch ermuntert, die andere hat er gewähren lassen, die Verstimmung vom Vorabend wirkte offenbar noch nach.
Fünf Jahre ist der Tod im Meer nun her, und seitdem lebt Schongauer wie ein Einsiedler über dem See, nur eine Hündin leistet ihm und seinen Schuldgefühlen Gesellschaft. Das ändert sich an dem Tag, mit dem die Handlung von Bodo Kirchhoffs neuem Roman einsetzt. Eine freie Journalistin aus dem Taunus hat sich angemeldet, die ein Porträt über Schongauer, den weitgehend vergessenen einstigen Darsteller von Nebenrollen-Nazis in Hollywood, schreiben möchte. Und kurz bevor die Endvierzigerin im Oldtimer, einem Lancia Flavia Cabrio, eintrifft, strandet eine junge Reisebloggerin aus Heidelberg auf Schongauers Grundstück; ihr klappriges Wohnmobil, in dem einst Prostituierte ihrer Arbeit nachgingen, gibt beim Wenden in der Einfahrt den Geist auf.
Mit zwei toten und zwei sehr lebendigen Frauen hat es Schongauer nun also während schwüler Augusttage, die in einem gewaltigen Gewitter kulminieren werden, zu tun; da Männer sonst nur in geringer Zahl und nur als schemenhafte Gestalten auftreten, ist die Frauenquote in dem Kammerspiel, als das Kirchhoff "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" angelegt hat, ziemlich hoch.
Wer das bisherige Werk des Autors auch in seinen schwächeren Figuren kennt, könnte befürchten, dass diese Konstellation dazu dient, den Phantasien eines altgewordenen erotomanen Narzissten Raum zu geben, zumal Schongauer bald 75 Jahre alt ist und die Besucherinnen der Klause am Gardasee Tochter oder Enkelin sein könnten. Doch die Sorge ist unbegründet: Nicht, dass Begehren und Liebe keine Rolle in diesem Roman spielten, aber sie tun das in der Annäherung zwischen der Journalistin und Schongauer in einer zurückhaltenden, tastenden, gebrochenen Form. Da ist auch auf seiner Seite nichts Unangemessenes, sondern die Unsicherheit verschütteter Erfahrung.
Die Alterserscheinungen des Protagonisten werden auch sonst ziemlich schonungslos beschrieben. Auch er selbst gibt sich über seinen Zustand keinen Illusionen hin: die Hand zittert, die Haut ist dünn, der Atem aufgrund einer schweren Herzerkrankung kurz; nur der Mund ist jung geblieben, heißt es an einer Stelle. Die Anziehungskraft, über die er offenbar immer noch verfügt, ist vor allem seiner Schauspielerstimme zu verdanken und womöglich der Aura von Tragik, die ihn umgibt.
Der Besuch der jüngeren Frauen wird für Schongauer, der es in seiner Passivität zu beträchtlicher Menschenkenntnis gebracht hat, zur Prüfung, die ihn anstrengt und die er als mögliche Erlösung zugleich ersehnt. Almut Stein, die Journalistin, und Frida, die Bloggerin, halten sich nicht mit Small Talk auf. Ihre bohrenden Fragen zielen mitten ins Trauma. Ihnen und sich selbst gibt Schongauer nach und nach Rechenschaft ab, wie es zur Verzweiflungstat der labilen Lynn kam, der jungen begabten Kostümbildnerin, die dafür gesorgt hatte, dass er endlich eine Hauptrolle spielen sollte, wenn auch in einer Off-Produktion. Und zum Gang ins Wasser von Magda, einer selbstbewussten und auf Autonomie bedachten Tierfotografin, für die er seine bescheidene Filmkarriere aufgegeben hatte, um sie auf ihren Reisen um die Welt zu begleiten, was ihm am Ende wohl doch nicht reichte.
Schongauer reagiert, wie nicht nur Männer auf schwierige persönliche Fragen reagieren: Bekenntnisse wechseln sich ab mit Ablenkungsmanövern in Form von Gegenfragen. Auch wenn der personale Erzähler immer bei Schongauer bleibt, gewinnen darüber die Stein, wie Schongauer sie innerlich manchmal nennt, und Frida nach und nach Gestalt. Die Ältere ist in einer unglücklichen kinderlosen Ehe mit einem wohlhabenden Arzt gefangen, die Jüngere flieht vor den Erwartungen der erfolgreichen Eltern, ihrerseits einen respektablen bürgerlichen Beruf zu ergreifen.
Was in dieser Verdichtung nach Klischee klingt, wird in der Erzählung durch individuelle Züge zur glaubwürdigen Schilderung von klugen Frauen mit vielen inneren Widersprüchen und Verletzungen. Das komplizierte Verhältnis von Frida zu ihrer Mutter Lilly Roth, einer Fernsehmoderatorin, wird in wenigen Strichen meisterhaft skizziert. Mit einem fulminanten Kurzauftritt während eines Abendessens präsentiert sie ihr großes, aber eben auch kluges und klarsichtiges Ego, das Fridas Provokationen als solche durchschaut, was diese wiederum durchaus anerkennend registriert. Und Almut hat es sich im Unglück mit ihrem Kardiologen - der sich um Herzen kümmert, aber nicht um das seiner Frau - bequem gemacht.
Überhaupt stimmt an der Komposition dieses gewissermaßen zwiegenähten und zugleich konzentrierten Buches so beglückend vieles, dass es zum Pageturner wird: Die Konstellation der Frauen-Figuren-Paare, die sich ineinander spiegeln, die Toten und die Lebenden jeweils untereinander, aber auch diese wechselseitig in jenen. Der Erzählton, der über das Verhandeln vieler letzter Dinge das komische Element nicht vergisst. Die Dialoge, die fließend in die Erzählerrede übergehen, ohne dass es zu Unklarheiten kommt. Die bildreichen, aber ungemein präzisen Beschreibungen der Wechselfälle von Licht, Luft, Wasser und Felsen, die die betörende Wirkung des Gardasees ausmachen.
Hier spürt man die Vertrautheit des Autors mit dem Ort der Handlung, der im Roman mit T. abgekürzt wird, womit unverkennbar Torre di Benaco gemeint ist. Dort haben der 75 Jahre alte Kirchhoff und seine Frau ein Haus, in dem sie die Sommer verbringen. Und noch ein autobiographisches Motiv hat es ins Buch geschafft. Bei dem Tier aus dem Titel handelt es sich um eine Hündin namens Ascha, die Schongauer noch mit Magda aus einer elenden Straßenexistenz in Rumänien gerettet hat. Sie ähnelt der Hündin aus dem Leben der Kirchhoffs so sehr, dass das als "privat" ausgewiesene Bild auf dem Umschlag des Buches (es ist Kirchhoffs Debüt bei seinem neuen Verlag dtv) bis ins Detail in einer Art Vision Schongauers auftaucht: Wie er "vom Ufer aus schwimmen geht und die Hündin seine Kleidung bewacht, Hut und Hemd, Schuhe und Hose - wie sie nicht weicht und nicht weicht, auch wenn er schon längst ertrunken wäre, als hätte er vorher Bleib gerufen, Bleib!".
Diese Ascha ist keineswegs nur eine Nebenfigur, gewissermaßen treudoof schwanzwedelndes Symbol für Schongauers Sehnsucht nach Selbstvergessenheit und bedingungsloser Treue, sondern handlungstreibende Kraft. Ascha wendet sich zunehmend Frida zu; wie Schongauer mit diesem Verrat aus Instinkt umgeht, ist auch eine Art Reifeprüfung in der Kunst des Loslassens und der wahren Liebe. Wie er sie besteht und wie ihn Frida in einem rücksichtsvoll-herben Blogeintrag darin unterstützt, ist die vielleicht raffinierteste Erfindung in Kirchhoffs großem Buch. Das damit noch nicht zu Ende ist, sondern das, obwohl es mit einem gezückten Revolver begonnen hat, ganz leise endet. MATTHIAS ALEXANDER
Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt". Roman.
Dtv, München 2024. 384 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vier Frauen und zwei Todesfälle: In Bodo Kirchhoffs neuem
Roman "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" sucht ein alter Held während einiger schwüler Augusttage Erlösung und stellt sich einer Reifeprüfung in der Kunst des Loslassens.
Das Haus hoch über dem Ostufer des Gardasees, in dem Louis Arthur Schongauer wohnt, ist klein und idyllisch gelegen. Doch die Dämonen, die dort mit dem einstigen Schauspieler hausen, sind groß: Gleich zwei Frauen sind vor seinen Augen gestorben, nachdem es zuvor jeweils zum Beziehungsstreit gekommen ist. Die erste hat sich erschossen, die zweite ging schwimmen in einer Brandung, in die niemand gestiegen wäre, dem das eigene Leben lieb ist. Die eine hat Schongauer in Verkennung der Lage mit einem "Go ahead" noch ermuntert, die andere hat er gewähren lassen, die Verstimmung vom Vorabend wirkte offenbar noch nach.
Fünf Jahre ist der Tod im Meer nun her, und seitdem lebt Schongauer wie ein Einsiedler über dem See, nur eine Hündin leistet ihm und seinen Schuldgefühlen Gesellschaft. Das ändert sich an dem Tag, mit dem die Handlung von Bodo Kirchhoffs neuem Roman einsetzt. Eine freie Journalistin aus dem Taunus hat sich angemeldet, die ein Porträt über Schongauer, den weitgehend vergessenen einstigen Darsteller von Nebenrollen-Nazis in Hollywood, schreiben möchte. Und kurz bevor die Endvierzigerin im Oldtimer, einem Lancia Flavia Cabrio, eintrifft, strandet eine junge Reisebloggerin aus Heidelberg auf Schongauers Grundstück; ihr klappriges Wohnmobil, in dem einst Prostituierte ihrer Arbeit nachgingen, gibt beim Wenden in der Einfahrt den Geist auf.
Mit zwei toten und zwei sehr lebendigen Frauen hat es Schongauer nun also während schwüler Augusttage, die in einem gewaltigen Gewitter kulminieren werden, zu tun; da Männer sonst nur in geringer Zahl und nur als schemenhafte Gestalten auftreten, ist die Frauenquote in dem Kammerspiel, als das Kirchhoff "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" angelegt hat, ziemlich hoch.
Wer das bisherige Werk des Autors auch in seinen schwächeren Figuren kennt, könnte befürchten, dass diese Konstellation dazu dient, den Phantasien eines altgewordenen erotomanen Narzissten Raum zu geben, zumal Schongauer bald 75 Jahre alt ist und die Besucherinnen der Klause am Gardasee Tochter oder Enkelin sein könnten. Doch die Sorge ist unbegründet: Nicht, dass Begehren und Liebe keine Rolle in diesem Roman spielten, aber sie tun das in der Annäherung zwischen der Journalistin und Schongauer in einer zurückhaltenden, tastenden, gebrochenen Form. Da ist auch auf seiner Seite nichts Unangemessenes, sondern die Unsicherheit verschütteter Erfahrung.
Die Alterserscheinungen des Protagonisten werden auch sonst ziemlich schonungslos beschrieben. Auch er selbst gibt sich über seinen Zustand keinen Illusionen hin: die Hand zittert, die Haut ist dünn, der Atem aufgrund einer schweren Herzerkrankung kurz; nur der Mund ist jung geblieben, heißt es an einer Stelle. Die Anziehungskraft, über die er offenbar immer noch verfügt, ist vor allem seiner Schauspielerstimme zu verdanken und womöglich der Aura von Tragik, die ihn umgibt.
Der Besuch der jüngeren Frauen wird für Schongauer, der es in seiner Passivität zu beträchtlicher Menschenkenntnis gebracht hat, zur Prüfung, die ihn anstrengt und die er als mögliche Erlösung zugleich ersehnt. Almut Stein, die Journalistin, und Frida, die Bloggerin, halten sich nicht mit Small Talk auf. Ihre bohrenden Fragen zielen mitten ins Trauma. Ihnen und sich selbst gibt Schongauer nach und nach Rechenschaft ab, wie es zur Verzweiflungstat der labilen Lynn kam, der jungen begabten Kostümbildnerin, die dafür gesorgt hatte, dass er endlich eine Hauptrolle spielen sollte, wenn auch in einer Off-Produktion. Und zum Gang ins Wasser von Magda, einer selbstbewussten und auf Autonomie bedachten Tierfotografin, für die er seine bescheidene Filmkarriere aufgegeben hatte, um sie auf ihren Reisen um die Welt zu begleiten, was ihm am Ende wohl doch nicht reichte.
Schongauer reagiert, wie nicht nur Männer auf schwierige persönliche Fragen reagieren: Bekenntnisse wechseln sich ab mit Ablenkungsmanövern in Form von Gegenfragen. Auch wenn der personale Erzähler immer bei Schongauer bleibt, gewinnen darüber die Stein, wie Schongauer sie innerlich manchmal nennt, und Frida nach und nach Gestalt. Die Ältere ist in einer unglücklichen kinderlosen Ehe mit einem wohlhabenden Arzt gefangen, die Jüngere flieht vor den Erwartungen der erfolgreichen Eltern, ihrerseits einen respektablen bürgerlichen Beruf zu ergreifen.
Was in dieser Verdichtung nach Klischee klingt, wird in der Erzählung durch individuelle Züge zur glaubwürdigen Schilderung von klugen Frauen mit vielen inneren Widersprüchen und Verletzungen. Das komplizierte Verhältnis von Frida zu ihrer Mutter Lilly Roth, einer Fernsehmoderatorin, wird in wenigen Strichen meisterhaft skizziert. Mit einem fulminanten Kurzauftritt während eines Abendessens präsentiert sie ihr großes, aber eben auch kluges und klarsichtiges Ego, das Fridas Provokationen als solche durchschaut, was diese wiederum durchaus anerkennend registriert. Und Almut hat es sich im Unglück mit ihrem Kardiologen - der sich um Herzen kümmert, aber nicht um das seiner Frau - bequem gemacht.
Überhaupt stimmt an der Komposition dieses gewissermaßen zwiegenähten und zugleich konzentrierten Buches so beglückend vieles, dass es zum Pageturner wird: Die Konstellation der Frauen-Figuren-Paare, die sich ineinander spiegeln, die Toten und die Lebenden jeweils untereinander, aber auch diese wechselseitig in jenen. Der Erzählton, der über das Verhandeln vieler letzter Dinge das komische Element nicht vergisst. Die Dialoge, die fließend in die Erzählerrede übergehen, ohne dass es zu Unklarheiten kommt. Die bildreichen, aber ungemein präzisen Beschreibungen der Wechselfälle von Licht, Luft, Wasser und Felsen, die die betörende Wirkung des Gardasees ausmachen.
Hier spürt man die Vertrautheit des Autors mit dem Ort der Handlung, der im Roman mit T. abgekürzt wird, womit unverkennbar Torre di Benaco gemeint ist. Dort haben der 75 Jahre alte Kirchhoff und seine Frau ein Haus, in dem sie die Sommer verbringen. Und noch ein autobiographisches Motiv hat es ins Buch geschafft. Bei dem Tier aus dem Titel handelt es sich um eine Hündin namens Ascha, die Schongauer noch mit Magda aus einer elenden Straßenexistenz in Rumänien gerettet hat. Sie ähnelt der Hündin aus dem Leben der Kirchhoffs so sehr, dass das als "privat" ausgewiesene Bild auf dem Umschlag des Buches (es ist Kirchhoffs Debüt bei seinem neuen Verlag dtv) bis ins Detail in einer Art Vision Schongauers auftaucht: Wie er "vom Ufer aus schwimmen geht und die Hündin seine Kleidung bewacht, Hut und Hemd, Schuhe und Hose - wie sie nicht weicht und nicht weicht, auch wenn er schon längst ertrunken wäre, als hätte er vorher Bleib gerufen, Bleib!".
Diese Ascha ist keineswegs nur eine Nebenfigur, gewissermaßen treudoof schwanzwedelndes Symbol für Schongauers Sehnsucht nach Selbstvergessenheit und bedingungsloser Treue, sondern handlungstreibende Kraft. Ascha wendet sich zunehmend Frida zu; wie Schongauer mit diesem Verrat aus Instinkt umgeht, ist auch eine Art Reifeprüfung in der Kunst des Loslassens und der wahren Liebe. Wie er sie besteht und wie ihn Frida in einem rücksichtsvoll-herben Blogeintrag darin unterstützt, ist die vielleicht raffinierteste Erfindung in Kirchhoffs großem Buch. Das damit noch nicht zu Ende ist, sondern das, obwohl es mit einem gezückten Revolver begonnen hat, ganz leise endet. MATTHIAS ALEXANDER
Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt". Roman.
Dtv, München 2024. 384 S., geb., 24,- Euro.
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