In "Zwei Leben" erzählt Vikram Seth zärtlich und präzise von einer wahren Liebe, die ein Jahrhundert umspannt. Mit zurückschauender Sehnsucht berichtet er von zwei Menschen, seinem Onkel Shanti und Tante Henny, die sich an der Wegkreuzung von indischer Diaspora und jüdischem Exil trafen: ein bewegendes Denkmal und erzählerisches Kunststück zugleich."Nimm den Schwarzen nicht", sagt Henny zu ihrer Mutter und meint den jungen Inder an der Tür. Doch Shanti, der im Berlin der dreißiger Jahre Zahnarzt werden will, bekommt das Zimmer in der Bleibtreustraße - und das wird Hennys Glück.Shanti, von den Nazis verdrängt, kann erst in London praktizieren, und dort steht 1939 plötzlich Henny an der Victoria Station - als einziger Jüdin aus dem Freundeskreis ist ihr die Flucht gelungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2006Mein Großonkel, der einarmige Zahnarzt
Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist: Der Inder Vikram Seth blättert ein üppiges Familienalbum auf
Man stelle sich vor: einen jungen Inder, der im Deutschland der dreißiger Jahre Zahnmedizin studiert, seine jüdische Angebetete ist anderweitig verlobt, deren ältere Schwester ihm dafür heimlich zugetan. Dazu einen tagediebischen Bruder, der das Geld durchbringt, mit dem die verwitwete Mutter und ältere Schwester fliehen sollten, und der in Südamerika verschwindet. Einen halbjüdischen Verlobten, der die 1939 emigrierte Angebetete des Inders aus Sicherheitsdenken oder Wankelmut in absentiam für eine arische Christin verläßt. Dazu in Deutschland ein Freundeskreis aus treu zur Familie stehenden Verbündeten wie auch allzuleichten Fähnchen im Wind des Dritten Reichs; ferner jüdische Freunde im Exil zwischen New York und Schanghai. Liebe und unsagbares Leid. Berlin und Birkenau. Eine späte indisch-jüdische Hochzeit. Nicht zu vergessen ein unüberschaubarer, verzweigter bourgeoiser Clan in Indien.
Der indische Schriftsteller Vikram Seth hätte sich angesichts dieser Fülle an Charaktervorlagen und der sich daraus ergebenden Konstellationen leicht für einen episch breiten, weltumspannenden Panoramaroman der dreißiger und vierziger Jahre entscheiden können, vielleicht seinem 1400-Seiten-Werk "Eine gute Partie" über die fünfziger Jahre in Indien, dessen Figuren teilweise ebenfalls an Familienangehörige angelehnt sind, nicht unähnlich - vermutlich länger. Er hat es nicht getan. Wer braucht Protagonisten, wenn er Menschen haben kann? Warum einen authentischen Stoff stopfen, in den die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts fransige Löcher gerissen hat? Er wird durch diese Spuren doch nur ungleich kostbarer.
Den bewegenden Lebensgeschichten seines Großonkels Shanti Seth und seiner Großtante Henny Seth, geborene Caro, denen er in "Zwei Leben" nachgeht, nähert Seth sich auf einzig angemessene Weise: als unaufgeregter Chronist, der sein Material aus elf Interviews mit seinem sechsundachtzigjährigen Onkel bezieht und aus eigenen Erinnerungen daran, wie er als junger Student in England von Onkel und Tante unter die Fittiche genommen wurde. Zudem als akribischer Familienarchivar, der in gläsern nüchterner Sprache Briefe an seine und von seiner Tante aus den vierziger Jahren kommentiert - er verdankt den zufälligen, geradezu wundersamen Schatzfund einem spinnwebüberzogenen Koffer auf dem Dachboden des Paares.
Die spröde Henny starb 1989, wenige Jahre bevor Seths Mutter Leila ihrem stoffsuchenden Sohn vorschlug, über Onkel Shanti zu schreiben. Ob sie ähnlich gesprächig gewesen wäre wie ihr Gatte, darf man bei einer Frau bezweifeln, die dem wegen einer Universitätsprüfung zum Deutschlernen gezwungenen Neffen den Spruch beibringt: Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Auch verrät der Spinnwebkoffer, daß sich nach dem Krieg manche Wahlverwandten, die ihrerseits einen durchaus banalen Alltag und belanglosen Tratsch wiedergeben, brieflich beschweren, Henny erzähle zuwenig von sich. Und selbst mit Shanti spricht sie nie über den Verlust ihrer Lieben, von deren Schicksal sie nach 1942 keine Kenntnis mehr hatte, bis ihr die treueste der Berliner Seelen, Alice Fröschke, nach dem Krieg gesteht: "Davor habe ich nun schon die ganze Zeit gezittert: Daß Du eines Tages schreiben und nach Lola fragen würdest." Sie berichtet ihr vom Abtransport der Mutter, Ella Caro, und der Schwester Lola. Die eine starb in Theresienstadt, die andere in Birkenau. Seth ist sich bewußt, daß er Hennys Briefe in dieser Ausführlichkeit vielleicht gegen den Willen seiner Tante veröffentlicht, hält dies aber für gerechtfertigt, denn "jede objektive Biographie eines vollendeten Lebens muß sich mit privaten Dingen befassen, auch wenn der Betroffene diese Dinge lieber im dunkeln belassen würde."
Daß Henny in den vierziger Jahren Klarheit über das Schicksal ihrer Lieben wie auch die Loyalität der Freunde wollte, ihr danach aber gewiß nicht mehr am Aufwühlen, sondern Verpacken und Wegschließen der Vergangenheit gelegen gewesen war, mag man aus dem Lebensstil des entwurzelten Paares ableiten. Durch alle Schicksalsschläge - Shantis hervorragende deutsche Promotion wird in England nicht anerkannt, er verliert im Krieg seinen rechten Arm bei einem Einsatz des britischen zahnärztlichen Corps in Monte Cassino -, zieht sich der Wille zur Wiederherstellung einer beständigen kleinen Ordnung, zumindest im Äußeren. Also wird Shanti sich unter Schmerzen zwingen, das Praktizieren als einarmiger Zahnarzt zu lernen. Er kauft ein Haus, das spätestens nach der Hochzeit mit Henny 1951 penibel geführt wird. Man unternimmt jährliche Schweiz-Reisen ins immergleiche Hotel. Den äußeren Halt ergänzt der innere, den sie einander geben wie zwei schwache Seile, die zu einem festen Strang gedreht sind, stärker werden, aber nicht ineinander aufgehen. Seelenverwandt waren sie nicht, günstig sind die Voraussetzungen für ihre Verbindung kaum.
Als der kleine Inder Shanti 1933 als Untermieter zu den Caros stößt, wird er schnell in den Freundeskreis aufgenommen, die bewunderte Henny aber ist mit dem großen, gutaussehenden Hans verlobt. Drei Jahre darauf muß Shanti das Land verlassen und zieht nach England. Seine Familie drängt ihn, zu heiraten und nach Indien zurückzukehren, aber Shanti bleibt. Im Juli 1939 holt er die schöne Henny an der Victoria Station ab, er ist der einzige, den sie in der Fremde kennt. Unterkommen und arbeiten wird sie bei Verwandten ihres Gerade-noch-Verlobten. Erst zwölf Jahre später wird Shanti Henny heiraten, schreibt aber aus dem Krieg leidenschaftlichste Briefe an die Heißgeliebte, schwer Vermißte, selbst wenn er deutlich macht, daß sie, sein "Kuckuck", in Fleisch und Blut nicht ganz so sei wie der "Kuckuck" seiner Träume, als den er sie sich vorstelle.
Hennys Briefe an ihren "Schwarzen Punkt" sind weit weniger leidenschaftlich. Warum die beiden nach achtzehn Jahren der wohl platonischen Freundschaft, im Londoner Freundeskreis schon längst nur in einem Atemzug genannt, doch heiraten und zusammenziehen, bleibt in der Schwebe. "Sie wußte, daß sie niemanden hatte, und ich hatte niemanden", erklärt Shanti. "Ich möchte ihn glücklich machen, er verdient es, auch auf die Gefahr hin, daß ich vielleicht nicht hundertprozentig glücklich bin", schreibt sie einem Vertrauten. Er sei der einzige, der ihre Lieben kannte, sogar liebte, und daher Verständnis für das aufbringe, was sie durchgemacht habe. Der Autor kann das Bild dieser Liebe, in der oft genug und immer auf deutsch gestritten wurde, nur von außen zeichnen. Das Wesen ihrer Liebe bleibt Geheimnis, speist sich wohl eher aus Kameradschaft, Treue und Fürsorge als aus Leidenschaft, doch haben die beiden eine gute Ehe für sich arrangiert, in der sie einander Heimat sein können, bis Henny mit einundachtzig Jahren stirbt. Shanti verwindet ihren Tod nicht, folgt, langsam verfallend, seiner verlorenen Hälfte neun Jahre später.
Vikram Seth hat ein sehr privates Buch geschrieben, auch über sich selbst und seinen Weg zum Schreiben. Wer ihn auf seinen Erkundungsgängen in die Vergangenheit begleiten will, braucht stellenweise einen langen Atem. Doch das fällt nicht allzu schwer. Die faszinierende Mischung aus Memoiren, Briefen, Fotos und Dokumenten dieses reichen Familienalbums führen uns auf verschiedenen Wegen so nahe an die Schicksale der Hauptpersonen wie auch ihrer Trabanten heran, als wäre man selbst Wahlverwandter. Schwer wird das Atmen, wenn Seth Lolas grausames Ende in Birkenau imaginiert, man ihre letzte Postkarte von dort liest, wenn Seth von seinen Recherchen in Yad Vashem berichtet und wie ihm das geliebte Dichterdeutsch zur stinkenden Tätersprache verfault.
Erst Monate später kann er die Briefe von Hennys deutschen Freundinnen wieder lesen, deren Anständigkeit und Menschlichkeit die alte Liebe doch wiederaufleben läßt, "jetzt tiefer und beunruhigter". Schadlos überblättern kann man dagegen einen unausgegorenen kurzen Exkurs über Deutschlands Rolle im zwanzigsten Jahrhundert; wundern mag man sich über ein Kapitel gegen Ende, dessen erste, nach Angaben des Autors wohl weit empörtere Version man nicht lesen möchte. Selbst in ihrer abgeschwächten Form ist Seths bittere Enttäuschung über Onkel Shanti, der bis auf einen Neffen und einen langjährigen Helfer, ähnlich wie Vikram wohl ein Sohn ehrenhalber, alle anderen bislang bedachten Verwandten ein Jahr vor seinem Tod enterbt, in ihrer Drastik so nicht nachvollziehbar. So sind Menschen eben: mal aufopferungsvoll ("Auch wenn du Hans heiratest, solange Shanti da ist, wirst du nicht verhungern", erklärt Mutter Ella ihrer Henny zu Recht), mal boshaft ("Ich habe dich mit eigenen Händen aus meinem Testament gestrichen", reibt der greise Shanti einem nach London zitierten Neffen unter die Nase).
Doch diese kleinen Schwächen können den Gewinn der Lektüre nicht mindern. Seth ist vielmehr unbedingt zu danken, daß er die Tür zu Shantis und Hennys kleinem Reihenhausleben in 18 Queens Road aufgemacht und uns durch ihre verschiedenen Erinnerungsräume mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat er recht, wenn er glaubt: "Hinter jeder Tür in jeder gewöhnlichen Straße, in jeder Hütte in jedem Dorf auf diesem mittelmäßigen Planeten sind Reichtümer zu finden." Man sollte aufmerksamer durch seine Nachbarschaft gehen.
Vikram Seth: "Zwei Leben". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Annette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 532 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist: Der Inder Vikram Seth blättert ein üppiges Familienalbum auf
Man stelle sich vor: einen jungen Inder, der im Deutschland der dreißiger Jahre Zahnmedizin studiert, seine jüdische Angebetete ist anderweitig verlobt, deren ältere Schwester ihm dafür heimlich zugetan. Dazu einen tagediebischen Bruder, der das Geld durchbringt, mit dem die verwitwete Mutter und ältere Schwester fliehen sollten, und der in Südamerika verschwindet. Einen halbjüdischen Verlobten, der die 1939 emigrierte Angebetete des Inders aus Sicherheitsdenken oder Wankelmut in absentiam für eine arische Christin verläßt. Dazu in Deutschland ein Freundeskreis aus treu zur Familie stehenden Verbündeten wie auch allzuleichten Fähnchen im Wind des Dritten Reichs; ferner jüdische Freunde im Exil zwischen New York und Schanghai. Liebe und unsagbares Leid. Berlin und Birkenau. Eine späte indisch-jüdische Hochzeit. Nicht zu vergessen ein unüberschaubarer, verzweigter bourgeoiser Clan in Indien.
Der indische Schriftsteller Vikram Seth hätte sich angesichts dieser Fülle an Charaktervorlagen und der sich daraus ergebenden Konstellationen leicht für einen episch breiten, weltumspannenden Panoramaroman der dreißiger und vierziger Jahre entscheiden können, vielleicht seinem 1400-Seiten-Werk "Eine gute Partie" über die fünfziger Jahre in Indien, dessen Figuren teilweise ebenfalls an Familienangehörige angelehnt sind, nicht unähnlich - vermutlich länger. Er hat es nicht getan. Wer braucht Protagonisten, wenn er Menschen haben kann? Warum einen authentischen Stoff stopfen, in den die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts fransige Löcher gerissen hat? Er wird durch diese Spuren doch nur ungleich kostbarer.
Den bewegenden Lebensgeschichten seines Großonkels Shanti Seth und seiner Großtante Henny Seth, geborene Caro, denen er in "Zwei Leben" nachgeht, nähert Seth sich auf einzig angemessene Weise: als unaufgeregter Chronist, der sein Material aus elf Interviews mit seinem sechsundachtzigjährigen Onkel bezieht und aus eigenen Erinnerungen daran, wie er als junger Student in England von Onkel und Tante unter die Fittiche genommen wurde. Zudem als akribischer Familienarchivar, der in gläsern nüchterner Sprache Briefe an seine und von seiner Tante aus den vierziger Jahren kommentiert - er verdankt den zufälligen, geradezu wundersamen Schatzfund einem spinnwebüberzogenen Koffer auf dem Dachboden des Paares.
Die spröde Henny starb 1989, wenige Jahre bevor Seths Mutter Leila ihrem stoffsuchenden Sohn vorschlug, über Onkel Shanti zu schreiben. Ob sie ähnlich gesprächig gewesen wäre wie ihr Gatte, darf man bei einer Frau bezweifeln, die dem wegen einer Universitätsprüfung zum Deutschlernen gezwungenen Neffen den Spruch beibringt: Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Auch verrät der Spinnwebkoffer, daß sich nach dem Krieg manche Wahlverwandten, die ihrerseits einen durchaus banalen Alltag und belanglosen Tratsch wiedergeben, brieflich beschweren, Henny erzähle zuwenig von sich. Und selbst mit Shanti spricht sie nie über den Verlust ihrer Lieben, von deren Schicksal sie nach 1942 keine Kenntnis mehr hatte, bis ihr die treueste der Berliner Seelen, Alice Fröschke, nach dem Krieg gesteht: "Davor habe ich nun schon die ganze Zeit gezittert: Daß Du eines Tages schreiben und nach Lola fragen würdest." Sie berichtet ihr vom Abtransport der Mutter, Ella Caro, und der Schwester Lola. Die eine starb in Theresienstadt, die andere in Birkenau. Seth ist sich bewußt, daß er Hennys Briefe in dieser Ausführlichkeit vielleicht gegen den Willen seiner Tante veröffentlicht, hält dies aber für gerechtfertigt, denn "jede objektive Biographie eines vollendeten Lebens muß sich mit privaten Dingen befassen, auch wenn der Betroffene diese Dinge lieber im dunkeln belassen würde."
Daß Henny in den vierziger Jahren Klarheit über das Schicksal ihrer Lieben wie auch die Loyalität der Freunde wollte, ihr danach aber gewiß nicht mehr am Aufwühlen, sondern Verpacken und Wegschließen der Vergangenheit gelegen gewesen war, mag man aus dem Lebensstil des entwurzelten Paares ableiten. Durch alle Schicksalsschläge - Shantis hervorragende deutsche Promotion wird in England nicht anerkannt, er verliert im Krieg seinen rechten Arm bei einem Einsatz des britischen zahnärztlichen Corps in Monte Cassino -, zieht sich der Wille zur Wiederherstellung einer beständigen kleinen Ordnung, zumindest im Äußeren. Also wird Shanti sich unter Schmerzen zwingen, das Praktizieren als einarmiger Zahnarzt zu lernen. Er kauft ein Haus, das spätestens nach der Hochzeit mit Henny 1951 penibel geführt wird. Man unternimmt jährliche Schweiz-Reisen ins immergleiche Hotel. Den äußeren Halt ergänzt der innere, den sie einander geben wie zwei schwache Seile, die zu einem festen Strang gedreht sind, stärker werden, aber nicht ineinander aufgehen. Seelenverwandt waren sie nicht, günstig sind die Voraussetzungen für ihre Verbindung kaum.
Als der kleine Inder Shanti 1933 als Untermieter zu den Caros stößt, wird er schnell in den Freundeskreis aufgenommen, die bewunderte Henny aber ist mit dem großen, gutaussehenden Hans verlobt. Drei Jahre darauf muß Shanti das Land verlassen und zieht nach England. Seine Familie drängt ihn, zu heiraten und nach Indien zurückzukehren, aber Shanti bleibt. Im Juli 1939 holt er die schöne Henny an der Victoria Station ab, er ist der einzige, den sie in der Fremde kennt. Unterkommen und arbeiten wird sie bei Verwandten ihres Gerade-noch-Verlobten. Erst zwölf Jahre später wird Shanti Henny heiraten, schreibt aber aus dem Krieg leidenschaftlichste Briefe an die Heißgeliebte, schwer Vermißte, selbst wenn er deutlich macht, daß sie, sein "Kuckuck", in Fleisch und Blut nicht ganz so sei wie der "Kuckuck" seiner Träume, als den er sie sich vorstelle.
Hennys Briefe an ihren "Schwarzen Punkt" sind weit weniger leidenschaftlich. Warum die beiden nach achtzehn Jahren der wohl platonischen Freundschaft, im Londoner Freundeskreis schon längst nur in einem Atemzug genannt, doch heiraten und zusammenziehen, bleibt in der Schwebe. "Sie wußte, daß sie niemanden hatte, und ich hatte niemanden", erklärt Shanti. "Ich möchte ihn glücklich machen, er verdient es, auch auf die Gefahr hin, daß ich vielleicht nicht hundertprozentig glücklich bin", schreibt sie einem Vertrauten. Er sei der einzige, der ihre Lieben kannte, sogar liebte, und daher Verständnis für das aufbringe, was sie durchgemacht habe. Der Autor kann das Bild dieser Liebe, in der oft genug und immer auf deutsch gestritten wurde, nur von außen zeichnen. Das Wesen ihrer Liebe bleibt Geheimnis, speist sich wohl eher aus Kameradschaft, Treue und Fürsorge als aus Leidenschaft, doch haben die beiden eine gute Ehe für sich arrangiert, in der sie einander Heimat sein können, bis Henny mit einundachtzig Jahren stirbt. Shanti verwindet ihren Tod nicht, folgt, langsam verfallend, seiner verlorenen Hälfte neun Jahre später.
Vikram Seth hat ein sehr privates Buch geschrieben, auch über sich selbst und seinen Weg zum Schreiben. Wer ihn auf seinen Erkundungsgängen in die Vergangenheit begleiten will, braucht stellenweise einen langen Atem. Doch das fällt nicht allzu schwer. Die faszinierende Mischung aus Memoiren, Briefen, Fotos und Dokumenten dieses reichen Familienalbums führen uns auf verschiedenen Wegen so nahe an die Schicksale der Hauptpersonen wie auch ihrer Trabanten heran, als wäre man selbst Wahlverwandter. Schwer wird das Atmen, wenn Seth Lolas grausames Ende in Birkenau imaginiert, man ihre letzte Postkarte von dort liest, wenn Seth von seinen Recherchen in Yad Vashem berichtet und wie ihm das geliebte Dichterdeutsch zur stinkenden Tätersprache verfault.
Erst Monate später kann er die Briefe von Hennys deutschen Freundinnen wieder lesen, deren Anständigkeit und Menschlichkeit die alte Liebe doch wiederaufleben läßt, "jetzt tiefer und beunruhigter". Schadlos überblättern kann man dagegen einen unausgegorenen kurzen Exkurs über Deutschlands Rolle im zwanzigsten Jahrhundert; wundern mag man sich über ein Kapitel gegen Ende, dessen erste, nach Angaben des Autors wohl weit empörtere Version man nicht lesen möchte. Selbst in ihrer abgeschwächten Form ist Seths bittere Enttäuschung über Onkel Shanti, der bis auf einen Neffen und einen langjährigen Helfer, ähnlich wie Vikram wohl ein Sohn ehrenhalber, alle anderen bislang bedachten Verwandten ein Jahr vor seinem Tod enterbt, in ihrer Drastik so nicht nachvollziehbar. So sind Menschen eben: mal aufopferungsvoll ("Auch wenn du Hans heiratest, solange Shanti da ist, wirst du nicht verhungern", erklärt Mutter Ella ihrer Henny zu Recht), mal boshaft ("Ich habe dich mit eigenen Händen aus meinem Testament gestrichen", reibt der greise Shanti einem nach London zitierten Neffen unter die Nase).
Doch diese kleinen Schwächen können den Gewinn der Lektüre nicht mindern. Seth ist vielmehr unbedingt zu danken, daß er die Tür zu Shantis und Hennys kleinem Reihenhausleben in 18 Queens Road aufgemacht und uns durch ihre verschiedenen Erinnerungsräume mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat er recht, wenn er glaubt: "Hinter jeder Tür in jeder gewöhnlichen Straße, in jeder Hütte in jedem Dorf auf diesem mittelmäßigen Planeten sind Reichtümer zu finden." Man sollte aufmerksamer durch seine Nachbarschaft gehen.
Vikram Seth: "Zwei Leben". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Annette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 532 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2006Das Urmeter der Geschichte
„Zwei Leben”: Vikram Seths Bericht von einer deutsch-indischen Liebe im Schatten des Dritten Reiches
Anfang der dreißiger Jahre steht ein kleiner Inder, noch ohne Deutschkenntnisse und fast ohne Geld, auf der Berliner Friedrichstraße, wo er soeben mit der Fernbahn angekommen ist. Ein deutscher Student spricht ihn an, er sehe mitgenommen aus, und er empfiehlt ihm, sich an ein indisches Lokal in Charlottenburg zu wenden, wo man ihm gewiss weiterhelfen könne. So geschieht es, und schon bald findet der junge Inder, der in Berlin Zahnmedizin studieren will, bei einer verwitweten deutschen Dame Unterkunft mit Halbpension.
Binnen kurzem entwickeln sich Bande familiärer Freundschaft vor allem zu den drei Kindern - zwei Töchtern und einem Sohn - der in einer geräumigen Altbauwohnung an der Mommsenstraße lebenden Dame. Shanti, so der Name des agilen Mannes aus Fernost, lebt bald mit einem quirligen Freundeskreis bei Ausflügen, Bootsfahrten und Kinobesuchen zusammen. Sein Studium schließt er mit Auszeichnung ab, er promoviert, und der weltoffene deutsche Professor würde ihn gern zu seinem Assistenten machen.
Der einarmige Zahnarzt
So könnte eine schöne Geschichte von einem gelingenden Leben in kosmopolitischer Umgebung beginnen. Diese gute Geschichte liegt in handgreiflicher Nähe - wenn die große Historie der Welt einen anderen Gang genommen hätte. Doch da wir in Deutschland um 1935 sind, kann der tüchtige Inder nicht weitermachen, und am Ende verliert er auch den größeren Teil seiner deutschen Freunde: Es sind Juden. Von der Familie seiner Zimmerwirtin überleben eine Tochter und der Sohn, während die alte Mutter in Theresienstadt, und die zweite Tochter in Birkenau umkommen. Da ist der Zweite Weltkrieg bereits ausgebrochen, und Shanti, der indische Zahnarzt, arbeitet in einer Dentalstation bei der britischen Armee. Bei Monte Cassino verliert er seinen rechten Arm durch eine Granate, und so scheint sein ganzes Leben erst einmal zerstört: Was soll ein Zahnarzt ohne diesen Arm noch leisten?
Der indische Autor Vikram Seth ist der Neffe dieses Zahnarztes, der, erst mehrere Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seine nach London geflüchtete Freundin Henny Carow, die überlebende Tochter seiner Berliner Zimmerwirtin, endlich geheiratet hatte. Bei Onkel Shanti und Tante Henny in London lebte Seth mehrere Jahre wie an Sohnes statt, als er in England seine Schulausbildung und seine erste Universitätszeit absolvierte. Das war in den siebziger Jahren. Aber erst in den neunziger Jahren - nach dem Tod seiner Tante - recherchierte Seth die berührende und wunderbare Geschichte von Shanti und Henny, des indischen Gaststudenten und seiner Berliner Freundin.
Shantis Leben konnte er sich noch selbst von diesem erzählen lassen, das Schicksal Hennys enthüllte sich Seth aus den Papieren, die er in einem Koffer auf dem Dachboden von Onkel Shantis Haus fand. Hier also lebhafter mündlicher Bericht, da die Durchschläge einer teilweise quälerischen Korrespondenz, in der Tante Henny das Schicksal ihrer umgekommenen Familie und ihrer Freunde in Berlin erkundete.
Die beiden sind sich wohl schon in Berlin nahe gekommen, sie wurden aber kein Liebespaar, denn Henny schien schon vergeben, was Shanti respektierte. Nach dem Krieg fanden sie erst zögernd, mit rührender Scheu, als Überlebende jeweils unterschiedlicher Katastrophen zusammen. Shanti gelang es mit Hilfe einer Armprothese zu einem erfolgreichen Zahnarzt zu werden, und Henny muss ihr furchtbares Familienschicksal in sich verschlossen haben - in Vikrams Jugendzeit war kaum die Rede davon -, um ein geordnetes, nach außen hin sogar fröhliches und optimistisches Leben zu führen. Kinder konnten die beiden spät Verheirateten nicht mehr bekommen, der Neffe Vikram war ihnen wie ein Adoptivsohn.
Das doch gelingende Leben zweier so verschiedener Menschen vor dem Hintergrund so schrecklicher Schicksale - das ist der berührende Kern dieses dokumentarischen Berichtes. Vor der Liebe des tüchtigen und honorigen indischen Mannes zu seiner so furchtbar geschlagenen jüdisch-deutschen Frau enthüllt der Rassenwahn des zwanzigsten Jahrhunderts seinen nicht nur zutiefst bösartigen, sondern eben auch irrsinnigen Charakter, als das komplett sinnlose, überflüssige Unheil. Dass das einzelne menschliche Leben das eigentliche Urmeter der Geschichte, ihr einziger Maßstab ist, das erfährt, sieht und spürt man greifbar in einem solchen Fall.
Tante Hennys nachgelassene Briefe sorgen nun dafür, dass diese Weisheit nicht im Unverbindlichen bleibt. Nach dem Krieg will sie wissen - wissen, wie es ihren Lieben am Ende erging, wer zu ihnen hielt, wer sich distanzierte, wer doppeldeutig blieb. Eine Kasuistik moralischen Verhaltens in einer sittlichen Extremsituation entsteht vor den Augen des Lesers, und Hennys schon in den vierziger Jahren geäußerter Wunsch, man möge den Toten doch wenigstens eine große Gedenkstätte in Berlin errichten, erreicht uns ganz direkt, gerade weil diese Gedenkstätte erst ein Jahr alt ist.
Die stärksten Momente dieses Buches liegen, wie könnte es anders sein, in den Erinnerungen und Briefen der Protagonisten aus den dreißiger und vierziger Jahren. Hier erreicht Seths Text die Intensität der Tagebücher Victor Klemperers oder sogar mancher Erzählungen W. G. Sebalds. Bewegend sind auch autobiografische Passagen, die das Verhältnis des Autors zu Deutschland und seiner Sprache schildern. Deutsch musste er lernen, lange bevor er von der Geschichte seiner Verwandten Näheres wusste, um eine Aufnahmeprüfung für Oxford zu bestehen. Eine jugendliche Tramperfahrt durch deutschsprachige Länder zeigte ihm eine offenherzige und gastfreundliche Gesellschaft - ihm wurde auf seinen Reisen oft so geholfen wie seinem Onkel ein halbes Jahrhundert zuvor nach der Ankunft in Berlin-Friedrichstraße. Heinrich Heine wird ein Lieblingsdichter des sprachbegabten jungen Vikram.
Ein höllischer Klang
Umso bedrückender wirkt sein Bericht von der allergischen Reaktion, die er beim Studium deutscher Dokumente der Nazi-Zeit gegen die deutsche Sprache entwickelt. Selbst Heines Poesie scheint ihm eine Zeit lang den Geruch der Gestapo-Sprache anzunehmen, so vollkommen kontaminiert sich für Seth das Deutsche mit dem Verbrechen. Der Widerwille bleibt vorübergehend, aber wir müssen erfahren, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg unsere Sprache für empfindsame Fremde einen höllischen Klang annehmen kann, weil Ermordung und Ausplünderung der Juden mit ihr organisiert wurden.
Vor der Wucht solcher Erfahrungen und vor der Kraft dieser Geschichte wiegen kleinere Einwände gegen Seths Buch - überflüssige leitartikelhafte Passagen über Deutschland und Israel oder eine allzu große Ausführlichkeit bei der Darstellung familiärer Verzweigungen vor allem auf indischer Seite - gering. Magisch traurig sind viele der beigefügten Fotos und Faksimiles, die letzten Zettel der Frauen aus den Lagern, der erste mit linker Hand geschriebene Brief Shantis und Bilder von sommerlichen Bootsfahrten auf Berliner Seen vor den Katastrophen.GUSTAV SEIBT
VIKRAM SETH: Zwei Leben. Porträt einer Liebe. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 532 Seiten, 22,90 Euro.
Shanti und Henny in den Ferien in der Schweiz.
Foto: S. Fischer Verlag
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
„Zwei Leben”: Vikram Seths Bericht von einer deutsch-indischen Liebe im Schatten des Dritten Reiches
Anfang der dreißiger Jahre steht ein kleiner Inder, noch ohne Deutschkenntnisse und fast ohne Geld, auf der Berliner Friedrichstraße, wo er soeben mit der Fernbahn angekommen ist. Ein deutscher Student spricht ihn an, er sehe mitgenommen aus, und er empfiehlt ihm, sich an ein indisches Lokal in Charlottenburg zu wenden, wo man ihm gewiss weiterhelfen könne. So geschieht es, und schon bald findet der junge Inder, der in Berlin Zahnmedizin studieren will, bei einer verwitweten deutschen Dame Unterkunft mit Halbpension.
Binnen kurzem entwickeln sich Bande familiärer Freundschaft vor allem zu den drei Kindern - zwei Töchtern und einem Sohn - der in einer geräumigen Altbauwohnung an der Mommsenstraße lebenden Dame. Shanti, so der Name des agilen Mannes aus Fernost, lebt bald mit einem quirligen Freundeskreis bei Ausflügen, Bootsfahrten und Kinobesuchen zusammen. Sein Studium schließt er mit Auszeichnung ab, er promoviert, und der weltoffene deutsche Professor würde ihn gern zu seinem Assistenten machen.
Der einarmige Zahnarzt
So könnte eine schöne Geschichte von einem gelingenden Leben in kosmopolitischer Umgebung beginnen. Diese gute Geschichte liegt in handgreiflicher Nähe - wenn die große Historie der Welt einen anderen Gang genommen hätte. Doch da wir in Deutschland um 1935 sind, kann der tüchtige Inder nicht weitermachen, und am Ende verliert er auch den größeren Teil seiner deutschen Freunde: Es sind Juden. Von der Familie seiner Zimmerwirtin überleben eine Tochter und der Sohn, während die alte Mutter in Theresienstadt, und die zweite Tochter in Birkenau umkommen. Da ist der Zweite Weltkrieg bereits ausgebrochen, und Shanti, der indische Zahnarzt, arbeitet in einer Dentalstation bei der britischen Armee. Bei Monte Cassino verliert er seinen rechten Arm durch eine Granate, und so scheint sein ganzes Leben erst einmal zerstört: Was soll ein Zahnarzt ohne diesen Arm noch leisten?
Der indische Autor Vikram Seth ist der Neffe dieses Zahnarztes, der, erst mehrere Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seine nach London geflüchtete Freundin Henny Carow, die überlebende Tochter seiner Berliner Zimmerwirtin, endlich geheiratet hatte. Bei Onkel Shanti und Tante Henny in London lebte Seth mehrere Jahre wie an Sohnes statt, als er in England seine Schulausbildung und seine erste Universitätszeit absolvierte. Das war in den siebziger Jahren. Aber erst in den neunziger Jahren - nach dem Tod seiner Tante - recherchierte Seth die berührende und wunderbare Geschichte von Shanti und Henny, des indischen Gaststudenten und seiner Berliner Freundin.
Shantis Leben konnte er sich noch selbst von diesem erzählen lassen, das Schicksal Hennys enthüllte sich Seth aus den Papieren, die er in einem Koffer auf dem Dachboden von Onkel Shantis Haus fand. Hier also lebhafter mündlicher Bericht, da die Durchschläge einer teilweise quälerischen Korrespondenz, in der Tante Henny das Schicksal ihrer umgekommenen Familie und ihrer Freunde in Berlin erkundete.
Die beiden sind sich wohl schon in Berlin nahe gekommen, sie wurden aber kein Liebespaar, denn Henny schien schon vergeben, was Shanti respektierte. Nach dem Krieg fanden sie erst zögernd, mit rührender Scheu, als Überlebende jeweils unterschiedlicher Katastrophen zusammen. Shanti gelang es mit Hilfe einer Armprothese zu einem erfolgreichen Zahnarzt zu werden, und Henny muss ihr furchtbares Familienschicksal in sich verschlossen haben - in Vikrams Jugendzeit war kaum die Rede davon -, um ein geordnetes, nach außen hin sogar fröhliches und optimistisches Leben zu führen. Kinder konnten die beiden spät Verheirateten nicht mehr bekommen, der Neffe Vikram war ihnen wie ein Adoptivsohn.
Das doch gelingende Leben zweier so verschiedener Menschen vor dem Hintergrund so schrecklicher Schicksale - das ist der berührende Kern dieses dokumentarischen Berichtes. Vor der Liebe des tüchtigen und honorigen indischen Mannes zu seiner so furchtbar geschlagenen jüdisch-deutschen Frau enthüllt der Rassenwahn des zwanzigsten Jahrhunderts seinen nicht nur zutiefst bösartigen, sondern eben auch irrsinnigen Charakter, als das komplett sinnlose, überflüssige Unheil. Dass das einzelne menschliche Leben das eigentliche Urmeter der Geschichte, ihr einziger Maßstab ist, das erfährt, sieht und spürt man greifbar in einem solchen Fall.
Tante Hennys nachgelassene Briefe sorgen nun dafür, dass diese Weisheit nicht im Unverbindlichen bleibt. Nach dem Krieg will sie wissen - wissen, wie es ihren Lieben am Ende erging, wer zu ihnen hielt, wer sich distanzierte, wer doppeldeutig blieb. Eine Kasuistik moralischen Verhaltens in einer sittlichen Extremsituation entsteht vor den Augen des Lesers, und Hennys schon in den vierziger Jahren geäußerter Wunsch, man möge den Toten doch wenigstens eine große Gedenkstätte in Berlin errichten, erreicht uns ganz direkt, gerade weil diese Gedenkstätte erst ein Jahr alt ist.
Die stärksten Momente dieses Buches liegen, wie könnte es anders sein, in den Erinnerungen und Briefen der Protagonisten aus den dreißiger und vierziger Jahren. Hier erreicht Seths Text die Intensität der Tagebücher Victor Klemperers oder sogar mancher Erzählungen W. G. Sebalds. Bewegend sind auch autobiografische Passagen, die das Verhältnis des Autors zu Deutschland und seiner Sprache schildern. Deutsch musste er lernen, lange bevor er von der Geschichte seiner Verwandten Näheres wusste, um eine Aufnahmeprüfung für Oxford zu bestehen. Eine jugendliche Tramperfahrt durch deutschsprachige Länder zeigte ihm eine offenherzige und gastfreundliche Gesellschaft - ihm wurde auf seinen Reisen oft so geholfen wie seinem Onkel ein halbes Jahrhundert zuvor nach der Ankunft in Berlin-Friedrichstraße. Heinrich Heine wird ein Lieblingsdichter des sprachbegabten jungen Vikram.
Ein höllischer Klang
Umso bedrückender wirkt sein Bericht von der allergischen Reaktion, die er beim Studium deutscher Dokumente der Nazi-Zeit gegen die deutsche Sprache entwickelt. Selbst Heines Poesie scheint ihm eine Zeit lang den Geruch der Gestapo-Sprache anzunehmen, so vollkommen kontaminiert sich für Seth das Deutsche mit dem Verbrechen. Der Widerwille bleibt vorübergehend, aber wir müssen erfahren, dass noch Jahrzehnte nach dem Krieg unsere Sprache für empfindsame Fremde einen höllischen Klang annehmen kann, weil Ermordung und Ausplünderung der Juden mit ihr organisiert wurden.
Vor der Wucht solcher Erfahrungen und vor der Kraft dieser Geschichte wiegen kleinere Einwände gegen Seths Buch - überflüssige leitartikelhafte Passagen über Deutschland und Israel oder eine allzu große Ausführlichkeit bei der Darstellung familiärer Verzweigungen vor allem auf indischer Seite - gering. Magisch traurig sind viele der beigefügten Fotos und Faksimiles, die letzten Zettel der Frauen aus den Lagern, der erste mit linker Hand geschriebene Brief Shantis und Bilder von sommerlichen Bootsfahrten auf Berliner Seen vor den Katastrophen.GUSTAV SEIBT
VIKRAM SETH: Zwei Leben. Porträt einer Liebe. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 532 Seiten, 22,90 Euro.
Shanti und Henny in den Ferien in der Schweiz.
Foto: S. Fischer Verlag
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