Thomas, Konni, Rainer und Bulle, Freunde seit der Schulzeit und in den besten Jahren, haben außer ihren Doppelkopfabenden kaum noch etwas gemeinsam. Jeder hat sich auf seine Weise mit dem bürgerlichen Dasein abgefunden. Doch dann entschließen sie sich, eine Rock-Band zu gründen und ihren Freund Ole aus Berlin zurück nach Bochum zu holen. Und auf einmal hat ihre Freundschaft nicht nur eine gemeinsame Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft ...
Ein Roman voller Musik und guter Laune, einigen traurigen Wahrheiten und einer wichtigen Erkenntnis: Musik ist nicht dazu da, die Welt zu verbessern, sondern dazu, dein Leben zu retten!
Ein Roman voller Musik und guter Laune, einigen traurigen Wahrheiten und einer wichtigen Erkenntnis: Musik ist nicht dazu da, die Welt zu verbessern, sondern dazu, dein Leben zu retten!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007Led Zeppelins Zielgruppe
Mal komisch, mal tragisch, mal läppisch: Frank Goosens Roman „So viel Zeit”
Man mag noch so gute Vorsätze haben, früher oder später rutscht er einem doch heraus: dieser dämliche Satz, dass man schließlich auch mal jung gewesen sei. Haha!, ruft dann das eigene Kind, und man erinnert sich mit Schaudern an das eigene Hohngelächter von einst. Wer sich auf seine Jugend beruft, hat schon verloren. Er zeigt, dass er’s nötig hat und macht sich lächerlich. Wo aber soll man hin mit der eigenen Jugend? Frank Goosen lässt seine fünf Midlife-Crisis gebeutelten Helden eine Rock-Band gründen. Natürlich ist auch das ein bisschen lächerlich. Das weiß der Autor so gut wie seine Mannen. Dass sie aber alle miteinander ihre Furcht vor der Lächerlichkeit niederkämpfen, macht den Charme dieses Romans aus, der manchmal komisch, manchmal tragisch und manchmal einfach läppisch ist.
Konni, Rainer und Bulle sind Mitte vierzig und ehemalige Klassenkameraden. Thomas ist drei Jahre jünger, gehört aber auch schon seit Ewigkeiten zur Männerrunde, die sich einmal im Monat trifft, um Doppelkopf zu spielen – mit allem, was dazu gehört: essen, trinken, labern, Witze reißen und wetteifern natürlich. Wer ist der Größte? Wer hat schon früher die Mädels abgestaubt? Irgendwann haben sie es satt, sich im Kreise zu drehen. Und so kommen sie auf die Idee, Ernst zu machen mit dem Jugendtraum.
Es ist schon ein Slapstick, wie sie da gemeinsam losziehen, um Instrumente, die sie sich früher vom Mund hätten absparen müssen, wie im Supermarkt einkaufen: einen Bass bitte, ein Schlagzeug von Pearl, ach ja, und eine Stratocaster. Denn Ritchie Blackmore war doch auf Fender abonniert. Stoney, der etwas abgehalfterte Verkäufer, ist schwer beeindruckt und fragt am Ende, ob sie noch einen Tontechniker bräuchten. Die erste Euphorie ist bald verflogen, denn so sehr sie auch üben, es hört sich schaurig an. Es fehlt die Energie, es fehlt der Drive, von Wildheit oder Sex-Appeal ganz zu schweigen. Also machen sie mal schnell einen Abstecher von Bochum nach Berlin und ziehen Ole aus dem Sumpf. Endlich sind sie komplett. Denn mit dem hageren Melancholiker, der schon früher jedes Mädchen haben konnte, hat die Band endlich einen richtigen Rock-Sänger. Der erste Gig bei der 70er-Jahre-Revival-Fete eines Düsseldorfer Tennisclubs wird ein voller Erfolg.
Natürlich ist das Zielgruppenprosa. Wer schon früher Led Zeppelin und Deep Purple nicht leiden konnte, dem wird bei diesem Roman wahrscheinlich ganz elend zumute. Aber auch, wer sofort Rainbow hört, wenn er liest „Come down with fire, lift my spirit higher”, weiß nicht so recht, ob er sich darüber freuen soll. Denn Goosen hat es darauf abgesehen, an unseren Reglern zu drehen. Aber so einfach geht das nicht. Ein bisschen Musik, ein bisschen Komik und Tragik, angereichert mit etwas Sex: diese Platte kann man nicht ewig abnudeln.
Sollen wir wirklich glauben, dass fünf gestandene Männer von nichts anderem träumen, als sich auf der Feier zum 25jährigen Abi-Jubiläum als Rock-Band zu bewähren? Darauf nämlich läuft die Sache hinaus. Da nützt es wenig, dass Goosen dem coolen Ole ein dunkles Geheimnis andichtet, das sich am Ende dramatisch offenbart. So leicht kommt man nicht in die Tiefe, wenn man allzu lange die Oberfläche bedient.MEIKE FESSMANN
Frank Goosen
So viel Zeit
Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 348 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Mal komisch, mal tragisch, mal läppisch: Frank Goosens Roman „So viel Zeit”
Man mag noch so gute Vorsätze haben, früher oder später rutscht er einem doch heraus: dieser dämliche Satz, dass man schließlich auch mal jung gewesen sei. Haha!, ruft dann das eigene Kind, und man erinnert sich mit Schaudern an das eigene Hohngelächter von einst. Wer sich auf seine Jugend beruft, hat schon verloren. Er zeigt, dass er’s nötig hat und macht sich lächerlich. Wo aber soll man hin mit der eigenen Jugend? Frank Goosen lässt seine fünf Midlife-Crisis gebeutelten Helden eine Rock-Band gründen. Natürlich ist auch das ein bisschen lächerlich. Das weiß der Autor so gut wie seine Mannen. Dass sie aber alle miteinander ihre Furcht vor der Lächerlichkeit niederkämpfen, macht den Charme dieses Romans aus, der manchmal komisch, manchmal tragisch und manchmal einfach läppisch ist.
Konni, Rainer und Bulle sind Mitte vierzig und ehemalige Klassenkameraden. Thomas ist drei Jahre jünger, gehört aber auch schon seit Ewigkeiten zur Männerrunde, die sich einmal im Monat trifft, um Doppelkopf zu spielen – mit allem, was dazu gehört: essen, trinken, labern, Witze reißen und wetteifern natürlich. Wer ist der Größte? Wer hat schon früher die Mädels abgestaubt? Irgendwann haben sie es satt, sich im Kreise zu drehen. Und so kommen sie auf die Idee, Ernst zu machen mit dem Jugendtraum.
Es ist schon ein Slapstick, wie sie da gemeinsam losziehen, um Instrumente, die sie sich früher vom Mund hätten absparen müssen, wie im Supermarkt einkaufen: einen Bass bitte, ein Schlagzeug von Pearl, ach ja, und eine Stratocaster. Denn Ritchie Blackmore war doch auf Fender abonniert. Stoney, der etwas abgehalfterte Verkäufer, ist schwer beeindruckt und fragt am Ende, ob sie noch einen Tontechniker bräuchten. Die erste Euphorie ist bald verflogen, denn so sehr sie auch üben, es hört sich schaurig an. Es fehlt die Energie, es fehlt der Drive, von Wildheit oder Sex-Appeal ganz zu schweigen. Also machen sie mal schnell einen Abstecher von Bochum nach Berlin und ziehen Ole aus dem Sumpf. Endlich sind sie komplett. Denn mit dem hageren Melancholiker, der schon früher jedes Mädchen haben konnte, hat die Band endlich einen richtigen Rock-Sänger. Der erste Gig bei der 70er-Jahre-Revival-Fete eines Düsseldorfer Tennisclubs wird ein voller Erfolg.
Natürlich ist das Zielgruppenprosa. Wer schon früher Led Zeppelin und Deep Purple nicht leiden konnte, dem wird bei diesem Roman wahrscheinlich ganz elend zumute. Aber auch, wer sofort Rainbow hört, wenn er liest „Come down with fire, lift my spirit higher”, weiß nicht so recht, ob er sich darüber freuen soll. Denn Goosen hat es darauf abgesehen, an unseren Reglern zu drehen. Aber so einfach geht das nicht. Ein bisschen Musik, ein bisschen Komik und Tragik, angereichert mit etwas Sex: diese Platte kann man nicht ewig abnudeln.
Sollen wir wirklich glauben, dass fünf gestandene Männer von nichts anderem träumen, als sich auf der Feier zum 25jährigen Abi-Jubiläum als Rock-Band zu bewähren? Darauf nämlich läuft die Sache hinaus. Da nützt es wenig, dass Goosen dem coolen Ole ein dunkles Geheimnis andichtet, das sich am Ende dramatisch offenbart. So leicht kommt man nicht in die Tiefe, wenn man allzu lange die Oberfläche bedient.MEIKE FESSMANN
Frank Goosen
So viel Zeit
Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 348 Seiten, 19,95 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2007Mit vierzig hat man noch Knabenblütenträume
Frank Goosen, im Fahrwasser Nick Hornbys Spezialist für Rockerjugend-Vergangenheitsbewältigung, hat einen neuen Roman geschrieben: warm, aber auch ein wenig brav.
Die Jugend ist immer länger her, mit jedem neuen Jahr ein weiteres. Bei den Büchern des Bochumer Schriftstellers Frank Goosen verhält es sich ähnlich: Mit jedem neuen Roman hat Goosen einen weiteren geschrieben, der abermals sorgfältig erkundet, wie schön es damals war und wie schrecklich: wie schön die Mädchen, die Platten und die Osterparty 1979 und wie schrecklich die Pickel, das Bodenturnen und der Kater nach der Osterparty. Ob es die fein verfilmten Friedensbewegungsmemoiren "Liegen lernen" (2000) waren oder ob es jetzt der neue Roman "So viel Zeit" ist - Frank Goosen schreibt sich am liebsten in Erinnerungen hinein, um dann in ihnen spazieren zu gehen, um den Geschmack nachzuschmecken, die Luft des Sommers 1982 noch einmal zu spüren und danach abzugleichen, was von alledem noch in die Gegenwart zu retten ist - oder am besten für immer vergessen gehört.
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: Davon handeln Goosens Bücher und also auch das neueste - davon, dass die altbundesrepublikanische Jugend "so viel Zeit" hat, in Erinnerungen zu schwelgen, ist das Abitur einmal bestanden, ein Beruf (Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, diese Liga jedenfalls) gefunden und eine Familie gegründet. Sobald aber dieser Musterkoffer von Lebensentwurf gepackt ist, das Haus gebaut, die Kinder in der Schule sind, scheint sich eine große Leere aufzutun. Das Quartett von Figuren, mit denen Goosen im neuen Roman spielt wie die vier miteinander Doppelkopf, fällt jedenfalls komplett in sie hinein: ein verwitweter Arzt, ein strauchelnder Schriftsteller, ein schlafloser Rechtsanwalt und ein Lehrer, dem die Frau davongelaufen ist und der nun, Sinnbild für die Ü-40-Krise, an einem Anbau für sein Siedlungshaus werkelt, der nicht fertig werden will, so wie keiner der vier damit fertig wird, dass er mal jünger war, dünner, behaarter, glücklicher. Obendrein rückt der fünfundzwanzigste Jahrestag ihres Abiturs am Bochumer Bert-Brecht-Gymnasium näher. Vier Herren, gejagt "von der Zeitmafia, der Vergänglichkeitscamorra" - da muss man doch was unternehmen!
Also gründen die vier eine Band, was sonst; Sport und außerehelichen Sex machen sie ja schon. Da aber eine richtige Rockband fünf Leute zählen müsse, holen sie ihren alten Freund Ole zurück, der in Berlin seit Jahren verwahrlost, wohin ihn ein dunkles Geheimnis getrieben hat, das Goosen erst zum Ende des Buches lüftet, was dem allzu vorhersehbaren Verlauf des Romans zum Glück einen leichten Spannungsbogen gibt. Denn natürlich geht das Projekt gut, gegen alle Unwahrscheinlichkeit, dass Rainer, Thomas, Konni, Bulle und Ole es wirklich noch mal packen können, denn: "Mit Mitte vierzig wurden Rockbands nicht gegründet, sondern sie feierten Reunions." So wie die Hardrocker von Led Zeppelin, die für ihr Wiedervereinigungskonzert am 26. November in London ungefähr zwanzig Millionen Karten verkaufen könnten.
Wegen Mountain of Thunder kommen aber nur Gisela Kaufmann, Schraube Scheffler, Micha Dudek und die restliche dreizehnte Klasse von 1982 zur Jubiläumsparty in eine stillgelegte Bochumer Zeche. Und alle diese Abiturienten von damals kommen nicht allein, sie haben ihre offenen Rechnungen mitgebracht, die - wenn nicht jetzt, in welcher Nacht dann - beglichen werden müssen. Für dieses komische Phänomen, dass kaum jemand so ganz im Reinen mit sich und seiner Schulzeit lebt, noch einmal den Lehrern und den Idioten und den Angeschmachteten und nie Geküssten von damals imponieren will, dafür hat Goosen ein Gespür, das "So viel Zeit" letztlich doch zu einem kulturgeschichtlich interessanten Buch macht - das - und die Zeitrelativität.
Denn in der Bochumer Zeche, zum Showdown der Abiturientia, haben sich Mountain of Thunder für ihren Auftritt eine Bühne aufgebaut. "Eine Bühne, auf der Rockmusik gespielt wird, muss den Leuten bis zur Brust gehen, sie müssen aufschauen zu den Akteuren, mit Rockstars ist man nie auf Augenhöhe, nicht einmal, wenn man mit ihnen zur Schule gegangen ist." Und dort oben stehen dann also die schwitzenden fünf Herren und spielen Hardrock-Klassiker von Black Sabbath, Deep Purple und Whitesnake nach, zu ihren Füßen schütteln die Mädchen von einst ihre Locken und die Jungs ihre Fäuste - und man liest das und stutzt und denkt: Diese Typen sollen 1982 Abitur gemacht haben? Im Jahr des Pop schlechthin? Als Popmusik ihre Historizität entdeckte, das Zitat kultiviert wurde und mit ABC, Human League und Haircut 100 elegante Bands in den Hitparaden standen, die unendlich weit entfernt waren von diesem Jeanskuttenrock langhaariger "Rockpalast"-Fans? Und hatten diese Typen auf und vor der Bühne nicht auch schon fünf Jahre lang mit Punk gelebt, als sie 1982 Abitur machten? Wieso dann wird zur Freude aller von oben nach unten gerockt, als hätte der Punk diese Hierarchien der Jugendkultur nicht längst in Schutt und Asche gelegt?
Frank Goosen weiß all das aber offenbar auch, denn er schreibt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in seinen Roman hinein: "1982 - alles ist offen". Er spricht seine Zweifel durch Thomas aus, den verkrachten Schriftsteller, der drei Jahre jünger ist (also wie Goosen Jahrgang 1966), der Popper war und sich vor Status Quo fürchtete. Und er stellt ihm als Motto zwei Sätze des englischen Schriftstellers Tony Parsons voran, der im vergangenen Jahr mit "Als wir unsterblich waren" eine versöhnliche Version der Punkjahre schrieb, wo plötzlich die Kanten von damals abgeschmirgelt waren, damit man sich beim Lesen nicht so daran stieß: "Musik ist nicht dazu da, die Welt zu retten. Musik ist dazu da, dir das Leben zu retten." Wie bei Tony Parsons sind auch bei Frank Goosen die "style wars" nebensächlich geworden - die Konflikte von gestern sind heute nurmehr Konflikte des Herzens. Menschliche Fehler lösen sie aus, nicht Haltungsfragen, Modedinge, Stilprinzipien. Das macht die Sache wärmer, aber leider auch braver.
Kaum etwas von dem, was Goosen in seinem neuen Roman zeigt - eine hemdsärmlige Sprache, das Biertrinken, Kippenrauchen, Fußballgutfinden, Rockmusikhören, Herzaufdemrechtenfleckhaben -, muss nämlich noch mal durchgesetzt werden. Das hatte der Autor bestimmt auch nicht im Sinn. Es ist nur schade, dass Goosen sich zwölf Jahre nach Nick Hornbys "High Fidelity" (und sieben nach "Liegen lernen") weiterhin vor allem auf diese abgestandenen Motive verlässt, um eine Erzählung zum Tragen zu bringen.
Und auf Bochum. "It's a town full of losers and I'm pulling out of here to win", sang Bruce Springsteen, der große Interpret lebenslänglich nachglühender Knabenblütenträume, in seinem Klassiker "Thunder Road" über die typisch mittlere amerikanische Heimatstadt. Dass sich nur einer der fünf von Mountain of Thunder aufmacht, anderswo zu siegen, und dann als Gescheiterter zurückkehrt, um zu Hause endlich Trost zu finden, das ist eine merkwürdig provinzielle Pointe. Oder das Leben. Glück auf.
TOBIAS RÜTHER
Frank Goosen: "So viel Zeit". Roman. Eichborn Verlag, Berlin 2007. 349 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Goosen, im Fahrwasser Nick Hornbys Spezialist für Rockerjugend-Vergangenheitsbewältigung, hat einen neuen Roman geschrieben: warm, aber auch ein wenig brav.
Die Jugend ist immer länger her, mit jedem neuen Jahr ein weiteres. Bei den Büchern des Bochumer Schriftstellers Frank Goosen verhält es sich ähnlich: Mit jedem neuen Roman hat Goosen einen weiteren geschrieben, der abermals sorgfältig erkundet, wie schön es damals war und wie schrecklich: wie schön die Mädchen, die Platten und die Osterparty 1979 und wie schrecklich die Pickel, das Bodenturnen und der Kater nach der Osterparty. Ob es die fein verfilmten Friedensbewegungsmemoiren "Liegen lernen" (2000) waren oder ob es jetzt der neue Roman "So viel Zeit" ist - Frank Goosen schreibt sich am liebsten in Erinnerungen hinein, um dann in ihnen spazieren zu gehen, um den Geschmack nachzuschmecken, die Luft des Sommers 1982 noch einmal zu spüren und danach abzugleichen, was von alledem noch in die Gegenwart zu retten ist - oder am besten für immer vergessen gehört.
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: Davon handeln Goosens Bücher und also auch das neueste - davon, dass die altbundesrepublikanische Jugend "so viel Zeit" hat, in Erinnerungen zu schwelgen, ist das Abitur einmal bestanden, ein Beruf (Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, diese Liga jedenfalls) gefunden und eine Familie gegründet. Sobald aber dieser Musterkoffer von Lebensentwurf gepackt ist, das Haus gebaut, die Kinder in der Schule sind, scheint sich eine große Leere aufzutun. Das Quartett von Figuren, mit denen Goosen im neuen Roman spielt wie die vier miteinander Doppelkopf, fällt jedenfalls komplett in sie hinein: ein verwitweter Arzt, ein strauchelnder Schriftsteller, ein schlafloser Rechtsanwalt und ein Lehrer, dem die Frau davongelaufen ist und der nun, Sinnbild für die Ü-40-Krise, an einem Anbau für sein Siedlungshaus werkelt, der nicht fertig werden will, so wie keiner der vier damit fertig wird, dass er mal jünger war, dünner, behaarter, glücklicher. Obendrein rückt der fünfundzwanzigste Jahrestag ihres Abiturs am Bochumer Bert-Brecht-Gymnasium näher. Vier Herren, gejagt "von der Zeitmafia, der Vergänglichkeitscamorra" - da muss man doch was unternehmen!
Also gründen die vier eine Band, was sonst; Sport und außerehelichen Sex machen sie ja schon. Da aber eine richtige Rockband fünf Leute zählen müsse, holen sie ihren alten Freund Ole zurück, der in Berlin seit Jahren verwahrlost, wohin ihn ein dunkles Geheimnis getrieben hat, das Goosen erst zum Ende des Buches lüftet, was dem allzu vorhersehbaren Verlauf des Romans zum Glück einen leichten Spannungsbogen gibt. Denn natürlich geht das Projekt gut, gegen alle Unwahrscheinlichkeit, dass Rainer, Thomas, Konni, Bulle und Ole es wirklich noch mal packen können, denn: "Mit Mitte vierzig wurden Rockbands nicht gegründet, sondern sie feierten Reunions." So wie die Hardrocker von Led Zeppelin, die für ihr Wiedervereinigungskonzert am 26. November in London ungefähr zwanzig Millionen Karten verkaufen könnten.
Wegen Mountain of Thunder kommen aber nur Gisela Kaufmann, Schraube Scheffler, Micha Dudek und die restliche dreizehnte Klasse von 1982 zur Jubiläumsparty in eine stillgelegte Bochumer Zeche. Und alle diese Abiturienten von damals kommen nicht allein, sie haben ihre offenen Rechnungen mitgebracht, die - wenn nicht jetzt, in welcher Nacht dann - beglichen werden müssen. Für dieses komische Phänomen, dass kaum jemand so ganz im Reinen mit sich und seiner Schulzeit lebt, noch einmal den Lehrern und den Idioten und den Angeschmachteten und nie Geküssten von damals imponieren will, dafür hat Goosen ein Gespür, das "So viel Zeit" letztlich doch zu einem kulturgeschichtlich interessanten Buch macht - das - und die Zeitrelativität.
Denn in der Bochumer Zeche, zum Showdown der Abiturientia, haben sich Mountain of Thunder für ihren Auftritt eine Bühne aufgebaut. "Eine Bühne, auf der Rockmusik gespielt wird, muss den Leuten bis zur Brust gehen, sie müssen aufschauen zu den Akteuren, mit Rockstars ist man nie auf Augenhöhe, nicht einmal, wenn man mit ihnen zur Schule gegangen ist." Und dort oben stehen dann also die schwitzenden fünf Herren und spielen Hardrock-Klassiker von Black Sabbath, Deep Purple und Whitesnake nach, zu ihren Füßen schütteln die Mädchen von einst ihre Locken und die Jungs ihre Fäuste - und man liest das und stutzt und denkt: Diese Typen sollen 1982 Abitur gemacht haben? Im Jahr des Pop schlechthin? Als Popmusik ihre Historizität entdeckte, das Zitat kultiviert wurde und mit ABC, Human League und Haircut 100 elegante Bands in den Hitparaden standen, die unendlich weit entfernt waren von diesem Jeanskuttenrock langhaariger "Rockpalast"-Fans? Und hatten diese Typen auf und vor der Bühne nicht auch schon fünf Jahre lang mit Punk gelebt, als sie 1982 Abitur machten? Wieso dann wird zur Freude aller von oben nach unten gerockt, als hätte der Punk diese Hierarchien der Jugendkultur nicht längst in Schutt und Asche gelegt?
Frank Goosen weiß all das aber offenbar auch, denn er schreibt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in seinen Roman hinein: "1982 - alles ist offen". Er spricht seine Zweifel durch Thomas aus, den verkrachten Schriftsteller, der drei Jahre jünger ist (also wie Goosen Jahrgang 1966), der Popper war und sich vor Status Quo fürchtete. Und er stellt ihm als Motto zwei Sätze des englischen Schriftstellers Tony Parsons voran, der im vergangenen Jahr mit "Als wir unsterblich waren" eine versöhnliche Version der Punkjahre schrieb, wo plötzlich die Kanten von damals abgeschmirgelt waren, damit man sich beim Lesen nicht so daran stieß: "Musik ist nicht dazu da, die Welt zu retten. Musik ist dazu da, dir das Leben zu retten." Wie bei Tony Parsons sind auch bei Frank Goosen die "style wars" nebensächlich geworden - die Konflikte von gestern sind heute nurmehr Konflikte des Herzens. Menschliche Fehler lösen sie aus, nicht Haltungsfragen, Modedinge, Stilprinzipien. Das macht die Sache wärmer, aber leider auch braver.
Kaum etwas von dem, was Goosen in seinem neuen Roman zeigt - eine hemdsärmlige Sprache, das Biertrinken, Kippenrauchen, Fußballgutfinden, Rockmusikhören, Herzaufdemrechtenfleckhaben -, muss nämlich noch mal durchgesetzt werden. Das hatte der Autor bestimmt auch nicht im Sinn. Es ist nur schade, dass Goosen sich zwölf Jahre nach Nick Hornbys "High Fidelity" (und sieben nach "Liegen lernen") weiterhin vor allem auf diese abgestandenen Motive verlässt, um eine Erzählung zum Tragen zu bringen.
Und auf Bochum. "It's a town full of losers and I'm pulling out of here to win", sang Bruce Springsteen, der große Interpret lebenslänglich nachglühender Knabenblütenträume, in seinem Klassiker "Thunder Road" über die typisch mittlere amerikanische Heimatstadt. Dass sich nur einer der fünf von Mountain of Thunder aufmacht, anderswo zu siegen, und dann als Gescheiterter zurückkehrt, um zu Hause endlich Trost zu finden, das ist eine merkwürdig provinzielle Pointe. Oder das Leben. Glück auf.
TOBIAS RÜTHER
Frank Goosen: "So viel Zeit". Roman. Eichborn Verlag, Berlin 2007. 349 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Buch zum Gernhaben." Stern