'Eine Stadt am Rande der Wüste, 1488 gegründet und heute eine Provinzhauptstadt im Bundesstaat Rajastan. Was führt einen deutschen Romancier in diese unspektakuläre Welt? Es war gerade die Alltäglichkeit dieses unbekannten Landes, die Martin Mosebach dort für Monate gefesselt hat. Er berichtet davon in einer Erzählung über Dinge und Menschen, die nur einer kennenlernt, der sich Zeit nimmt und nicht den ausgetretenen Wegen folgt. Der Büchner-Preisträger beschreibt in mitreißenden und abwechslungsreichen Kapiteln seine Eindrücke und Begegnungen. Was bleibt ist das überraschende Porträt eines Landes und seiner Menschen, das zeigt, was die Erfahrung der Fremde für das eigene Leben bedeuten kann. Nur wenige deutsche Schriftsteller der jüngsten Zeit haben sich so tief eingelassen auf die verstörende Erfahrung einer ganz und gar anderen Tradition.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2008Frag hier bloß nicht nach Rindsleder
Der Büchnerpreisträger im Land der heiligen Kühe: Martin Mosebach nimmt in seinem Erfahrungsbericht aus Indien keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten und schildert ungebremst die Wucht merkwürdiger Erlebnisse.
Von Pia Reinacher
In diesem Buch blättert man wie ein einem Fotoalbum. Ein Schnappschuss reiht sich an den nächsten; staunend und verwirrt, überwältigt und abgestoßen blickt man auf das Panorama einer verblüffenden Welt. Ratten wieseln durch die Häuser. Kakerlaken mit beweglichen Fühlern und harten, braunen Flügeln steigen aus dem Abflussrohr ins schwarze Porzellanbecken. Im Sand der Straße beobachtet der Reisende eine trächtige Hündin, die in ihrer Erschöpfung die geschwollene Zitzenreihe geradezu schamlos ausstellt.
Wir sind in Indien und blicken mit den auf westliche Wahrnehmung konditionierten Augen des Erzählers auf unvertraute Verhältnisse. Büchnerpreisträger Martin Mosebach legt einen Reisebericht aus Bikaner vor, einer Stadt im Bundesstadt Rajasthan im Nordwesten Indiens, der den Leser mitreißt und verstört: "Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien". Spätestens bei der Beschreibung der Zeremonie zu Ehren des Geburtstages von Amindab Bachan, einer der berühmtesten Persönlichkeiten Indiens nach Ghandi, eines Filmschauspielers, dessen Ruhm ihn bis zur Einheirat in den Nehru-Ghandi-Clan, der indischen Königsfamilie, geführt hatte, begreifen wir die tiefschürfenden Unterschiede der Kulturen. Was im Westen als Fauxpas gelten würde, gebietet hier der Respekt: Etwas abseits auf einem Tisch ist der Amindab-Bachan-Geburtstagskuchen vorbereitet, eine Torte aus hartweißer, hellgrüner, hellgelber und rosafarbener Sahne. Nach ausschweifenden Huldigungen und Grußadressen schneiden sie der Erzähler und dessen Gastgeberin an. Blitzlicht flackert, die Gäste drängen ungehemmt zur aufgebahrten Süßigkeit. Ihre feinen, langen Finger fahren in die Sahne und greifen sich Bröckchen heraus.
Das ist nur die erste Prüfung, der sich der westliche Besucher zu unterziehen hat. Das Ritual sieht eine entscheidende Steigerung der Ehrerbietung vor. Hinter dem Gast ist ein großes Plakat des lächelnden Stars aufgespannt. Der Schriftsteller wird aufgefordert, dem berühmten Mann ein Stückchen Sahne in den Spitzbart zu schmieren. Der Jubel ist grenzenlos, als dieser - auf die Zähne beißend und den Ekel hinunterwürgend - dem Idol die Ehrerbietung zukommen lässt.
Man hat Martin Mosebach gerne eine im Gegenständlichen verhaftete Schreibweise, eine geradezu akribische Beschreibungswut, eine übersteigerte Detailsucht vorgeworfen. Schreiben war für diesen Schriftsteller vor allem anderen immer auch Handwerk. "Ich wollte das Erzählen lernen, wie man das Schuhmachen lernt", sagte er bei der Verleihung des Kleist-Preises 2002. Dieser Zugriff setzt präzise Sachkenntnisse voraus, die mit der sinnlichen Wahrnehmung verschmelzen.
Die unambitionierte Methode erweist sich gerade in dieser Betrachtung eines unbekannten Universums als äußerst fruchtbar. Scheinbar schwerelos gleitet der Blick des westlichen Beobachters über die östlichen Kulissen, wissbegierig saugt er die exotischen Bilder auf, vorurteilslos lässt er die inkommensurablen Erfahrungen auf sich einstürzen. Nicht die geringste Anstrengung unternimmt er, um aus Rücksicht auf den unvorbereiteten Leser scheinbar anstößige Einblicke zu korrigieren oder die Wucht merkwürdiger Erlebnisse abzubremsen. Er sichtet nur, kommentarlos und unbestechlich. Seine Beschreibungen sind rückhaltlos, das Detail quälend vergrößernd.
Auf diesem Feld liegt denn auch der enorme Vorzug von Mosebachs Erzählstrategie. Die Traumbilder und Realitätsausschnitte, die Visionen und Wahrnehmungsversatzstücke prallen mit ungebremster Kraft auf den Leser und lösen in ihm selbst ein Echo aus. Das ist die Mosebach eigene Methode, um aus scheinbar zufälligen Oberflächenphänomenen die Essenz zu destillieren. Auf diesem Weg werden alltägliche Phänomene zum Sprechen gebracht. Ob er das hennarote Färben von Männerhaaren ins Auge fasst oder das Ritual eines nächtlichen Picknicks rapportiert, das zu den schönsten Talenten der Bikaner gehört, wobei auf dem Sportplatz bei gleißendem Mondlicht ein geisterhafter Salon eingerichtet wird; ob er das Korsett der Kasten beschreibt, die zwar von den Intellektuellen in Delhi ignoriert werden, aber trotzdem das Leben wie ein Naturgesetz ordnen und die vertikale Herrschaftsausübung zementieren - immer verhilft Mosebachs Bericht zu Erkenntnisgewinn.
Am virtuosesten sind seine Journale dann, wenn er Feldforschung auf dem Gebiet des Banalen betreibt. Harmlos wie eine Reportage setzt etwa seine Geschichte über den "stinkenden Gürtel" ein, die den Versuch des westlichen Besuchers schildert, in Indien, dem Land der ungebrochenen Handwerkertradition, einen Sattler zu finden, der ihm einen neuen Gürtel unter Verwendung der alten Schnalle machen würde. Erst allmählich dämmert es dem unbedarften, vom europäischen Konsumrausch verwöhnten Besucher, auf welch heikles Gelände er sich mit diesem Wunsch begibt. Nach Rindsleder darf im Reich der heiligen Kuh kein Mensch fragen. Und wenn es überhaupt vorrätig wäre, dürfte es nicht beim Namen genannt werden. Hartnäckig und taub gegenüber allen Verlegenheitssignalen, setzt der Schriftsteller unaufhörlich neu an, um zu seinem Gürtel zu kommen. Einmal fabriziert man ein Objekt aus Autoreifen, ein andermal aus stinkendem Kamelleder. Den Wunsch einfach abzuschlagen, verbietet das Gesetz der Gastfreundschaft; ihn zu erfüllen, bedeutete den Bruch mit einem heiligen Gebot. Immer tiefer verstrickt sich der begriffsstutzige Reisende im Gestrüpp der kulturellen Gegensätze, immer brüsker prallt er auf die Mauer der religiösen Vorschriften, immer peinlicher stürzt er aus purer Ignoranz seine Gastgeber in die Falle des unlösbaren Widerspruchs.
In diesen Passagen wird der Leser zum Augenzeugen der Konfrontation gegensätzlicher kultureller Erfahrungen. Ein Erkenntnisgewinn über das unangemessene Selbstverständnis des Forschers, das an der andersartigen kulturellen Identität aufläuft, fällt ihm dabei ohne weitere Anstrengung zu.
- Martin Mosebach: "Stadt der wilden
Hunde". Nachrichten aus dem alltäglichen
Indien. Hanser Verlag, München 2008. 176 S.,
geb., 16, 90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Büchnerpreisträger im Land der heiligen Kühe: Martin Mosebach nimmt in seinem Erfahrungsbericht aus Indien keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten und schildert ungebremst die Wucht merkwürdiger Erlebnisse.
Von Pia Reinacher
In diesem Buch blättert man wie ein einem Fotoalbum. Ein Schnappschuss reiht sich an den nächsten; staunend und verwirrt, überwältigt und abgestoßen blickt man auf das Panorama einer verblüffenden Welt. Ratten wieseln durch die Häuser. Kakerlaken mit beweglichen Fühlern und harten, braunen Flügeln steigen aus dem Abflussrohr ins schwarze Porzellanbecken. Im Sand der Straße beobachtet der Reisende eine trächtige Hündin, die in ihrer Erschöpfung die geschwollene Zitzenreihe geradezu schamlos ausstellt.
Wir sind in Indien und blicken mit den auf westliche Wahrnehmung konditionierten Augen des Erzählers auf unvertraute Verhältnisse. Büchnerpreisträger Martin Mosebach legt einen Reisebericht aus Bikaner vor, einer Stadt im Bundesstadt Rajasthan im Nordwesten Indiens, der den Leser mitreißt und verstört: "Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien". Spätestens bei der Beschreibung der Zeremonie zu Ehren des Geburtstages von Amindab Bachan, einer der berühmtesten Persönlichkeiten Indiens nach Ghandi, eines Filmschauspielers, dessen Ruhm ihn bis zur Einheirat in den Nehru-Ghandi-Clan, der indischen Königsfamilie, geführt hatte, begreifen wir die tiefschürfenden Unterschiede der Kulturen. Was im Westen als Fauxpas gelten würde, gebietet hier der Respekt: Etwas abseits auf einem Tisch ist der Amindab-Bachan-Geburtstagskuchen vorbereitet, eine Torte aus hartweißer, hellgrüner, hellgelber und rosafarbener Sahne. Nach ausschweifenden Huldigungen und Grußadressen schneiden sie der Erzähler und dessen Gastgeberin an. Blitzlicht flackert, die Gäste drängen ungehemmt zur aufgebahrten Süßigkeit. Ihre feinen, langen Finger fahren in die Sahne und greifen sich Bröckchen heraus.
Das ist nur die erste Prüfung, der sich der westliche Besucher zu unterziehen hat. Das Ritual sieht eine entscheidende Steigerung der Ehrerbietung vor. Hinter dem Gast ist ein großes Plakat des lächelnden Stars aufgespannt. Der Schriftsteller wird aufgefordert, dem berühmten Mann ein Stückchen Sahne in den Spitzbart zu schmieren. Der Jubel ist grenzenlos, als dieser - auf die Zähne beißend und den Ekel hinunterwürgend - dem Idol die Ehrerbietung zukommen lässt.
Man hat Martin Mosebach gerne eine im Gegenständlichen verhaftete Schreibweise, eine geradezu akribische Beschreibungswut, eine übersteigerte Detailsucht vorgeworfen. Schreiben war für diesen Schriftsteller vor allem anderen immer auch Handwerk. "Ich wollte das Erzählen lernen, wie man das Schuhmachen lernt", sagte er bei der Verleihung des Kleist-Preises 2002. Dieser Zugriff setzt präzise Sachkenntnisse voraus, die mit der sinnlichen Wahrnehmung verschmelzen.
Die unambitionierte Methode erweist sich gerade in dieser Betrachtung eines unbekannten Universums als äußerst fruchtbar. Scheinbar schwerelos gleitet der Blick des westlichen Beobachters über die östlichen Kulissen, wissbegierig saugt er die exotischen Bilder auf, vorurteilslos lässt er die inkommensurablen Erfahrungen auf sich einstürzen. Nicht die geringste Anstrengung unternimmt er, um aus Rücksicht auf den unvorbereiteten Leser scheinbar anstößige Einblicke zu korrigieren oder die Wucht merkwürdiger Erlebnisse abzubremsen. Er sichtet nur, kommentarlos und unbestechlich. Seine Beschreibungen sind rückhaltlos, das Detail quälend vergrößernd.
Auf diesem Feld liegt denn auch der enorme Vorzug von Mosebachs Erzählstrategie. Die Traumbilder und Realitätsausschnitte, die Visionen und Wahrnehmungsversatzstücke prallen mit ungebremster Kraft auf den Leser und lösen in ihm selbst ein Echo aus. Das ist die Mosebach eigene Methode, um aus scheinbar zufälligen Oberflächenphänomenen die Essenz zu destillieren. Auf diesem Weg werden alltägliche Phänomene zum Sprechen gebracht. Ob er das hennarote Färben von Männerhaaren ins Auge fasst oder das Ritual eines nächtlichen Picknicks rapportiert, das zu den schönsten Talenten der Bikaner gehört, wobei auf dem Sportplatz bei gleißendem Mondlicht ein geisterhafter Salon eingerichtet wird; ob er das Korsett der Kasten beschreibt, die zwar von den Intellektuellen in Delhi ignoriert werden, aber trotzdem das Leben wie ein Naturgesetz ordnen und die vertikale Herrschaftsausübung zementieren - immer verhilft Mosebachs Bericht zu Erkenntnisgewinn.
Am virtuosesten sind seine Journale dann, wenn er Feldforschung auf dem Gebiet des Banalen betreibt. Harmlos wie eine Reportage setzt etwa seine Geschichte über den "stinkenden Gürtel" ein, die den Versuch des westlichen Besuchers schildert, in Indien, dem Land der ungebrochenen Handwerkertradition, einen Sattler zu finden, der ihm einen neuen Gürtel unter Verwendung der alten Schnalle machen würde. Erst allmählich dämmert es dem unbedarften, vom europäischen Konsumrausch verwöhnten Besucher, auf welch heikles Gelände er sich mit diesem Wunsch begibt. Nach Rindsleder darf im Reich der heiligen Kuh kein Mensch fragen. Und wenn es überhaupt vorrätig wäre, dürfte es nicht beim Namen genannt werden. Hartnäckig und taub gegenüber allen Verlegenheitssignalen, setzt der Schriftsteller unaufhörlich neu an, um zu seinem Gürtel zu kommen. Einmal fabriziert man ein Objekt aus Autoreifen, ein andermal aus stinkendem Kamelleder. Den Wunsch einfach abzuschlagen, verbietet das Gesetz der Gastfreundschaft; ihn zu erfüllen, bedeutete den Bruch mit einem heiligen Gebot. Immer tiefer verstrickt sich der begriffsstutzige Reisende im Gestrüpp der kulturellen Gegensätze, immer brüsker prallt er auf die Mauer der religiösen Vorschriften, immer peinlicher stürzt er aus purer Ignoranz seine Gastgeber in die Falle des unlösbaren Widerspruchs.
In diesen Passagen wird der Leser zum Augenzeugen der Konfrontation gegensätzlicher kultureller Erfahrungen. Ein Erkenntnisgewinn über das unangemessene Selbstverständnis des Forschers, das an der andersartigen kulturellen Identität aufläuft, fällt ihm dabei ohne weitere Anstrengung zu.
- Martin Mosebach: "Stadt der wilden
Hunde". Nachrichten aus dem alltäglichen
Indien. Hanser Verlag, München 2008. 176 S.,
geb., 16, 90 [Euro].
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