Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wie wurden wir, wer wir sind?
In »Strafe« beschreibt Ferdinand von Schirach zwölf Schicksale und zeigt, wie schwer es ist, einem Menschen gerecht zu werden und wie voreilig unsere Begriffe von »gut« und »böse« oft sind.
Ferdinand von Schirach verurteilt nie. In ruhiger, distanzierter Gelassenheit und zugleich voller Empathie erzählt er von Einsamkeit und Fremdheit, von dem Streben nach Glück und dem Scheitern. Seine Geschichten sind Erzählungen über uns selbst.
Gelesen von Ferdinand von Schirach.
(1 mp3-CD, Laufzeit: 4h 22)
In »Strafe« beschreibt Ferdinand von Schirach zwölf Schicksale und zeigt, wie schwer es ist, einem Menschen gerecht zu werden und wie voreilig unsere Begriffe von »gut« und »böse« oft sind.
Ferdinand von Schirach verurteilt nie. In ruhiger, distanzierter Gelassenheit und zugleich voller Empathie erzählt er von Einsamkeit und Fremdheit, von dem Streben nach Glück und dem Scheitern. Seine Geschichten sind Erzählungen über uns selbst.
Gelesen von Ferdinand von Schirach.
(1 mp3-CD, Laufzeit: 4h 22)
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1 | Ansage | ||
2 | Die Schöffin | ||
3 | Die Schöffin | ||
4 | Die Schöffin | ||
5 | Die Schöffin | ||
6 | Die Schöffin | ||
7 | Die Schöffin | ||
8 | Die Schöffin | ||
9 | Die Schöffin | ||
10 | Die Schöffin | ||
11 | Die Schöffin | ||
12 | Die Schöffin | ||
13 | Die falsche Seite | ||
14 | Die falsche Seite | ||
15 | Die falsche Seite | ||
16 | Die falsche Seite | ||
17 | Die falsche Seite | ||
18 | Die falsche Seite | ||
19 | Die falsche Seite | ||
20 | Die falsche Seite | ||
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21 | Die falsche Seite | ||
22 | Die falsche Seite | ||
23 | Die falsche Seite | ||
24 | Die falsche Seite | ||
25 | Die falsche Seite | ||
26 | Die falsche Seite | ||
27 | Die falsche Seite | ||
28 | Die falsche Seite | ||
29 | Ein hellblauer Tag | ||
30 | Ein hellblauer Tag | ||
31 | Ein hellblauer Tag | ||
32 | Ein hellblauer Tag | ||
33 | Lydia | ||
34 | Lydia | ||
35 | Lydia | ||
36 | Lydia | ||
37 | Lydia | ||
38 | Lydia | ||
39 | Lydia | ||
40 | Nachbarn | ||
41 | Nachbarn | ||
42 | Nachbarn | ||
43 | Nachbarn | ||
44 | Nachbarn | ||
45 | Nachbarn | ||
46 | Der kleine Mann | ||
47 | Der kleine Mann | ||
48 | Der kleine Mann | ||
49 | Der kleine Mann | ||
50 | Der kleine Mann | ||
51 | Der kleine Mann | ||
52 | Der kleine Mann | ||
53 | Der kleine Mann | ||
54 | Der kleine Mann | ||
55 | Der Taucher | ||
56 | Der Taucher | ||
57 | Der Taucher | ||
58 | Der Taucher | ||
59 | Der Taucher | ||
60 | Der Taucher | ||
61 | Der Taucher | ||
62 | Der Taucher | ||
63 | Der Taucher | ||
64 | Stinkefisch | ||
65 | Stinkefisch | ||
66 | Stinkefisch | ||
67 | Stinkefisch | ||
68 | Subotnik | ||
69 | Subotnik | ||
70 | Subotnik | ||
71 | Subotnik | ||
72 | Subotnik | ||
73 | Subotnik | ||
74 | Subotnik | ||
75 | Subotnik | ||
76 | Subotnik | ||
77 | Subotnik | ||
78 | Subotnik | ||
79 | Subotnik | ||
80 | Subotnik | ||
81 | Subotnik | ||
82 | Subotnik | ||
83 | Subotnik | ||
84 | Subotnik | ||
85 | Subotnik | ||
86 | Tennis | ||
87 | Tennis | ||
88 | Tennis | ||
89 | Tennis | ||
90 | Der Freund | ||
91 | Der Freund | ||
92 | Der Freund | ||
93 | Der Freund | ||
94 | Der Freund | ||
95 | Der Freund | ||
96 | Der Freund | ||
97 | Das Seehaus | ||
98 | Das Seehaus | ||
99 | Das Seehaus | ||
100 | Das Seehaus | ||
101 | Das Seehaus | ||
102 | Das Seehaus | ||
103 | Das Seehaus | ||
104 | Das Seehaus | ||
105 | Das Seehaus | ||
106 | Das Seehaus | ||
107 | Das Seehaus |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2018Verschwunden in der Parallelwelt
Viele halten es für eine Frage der Qualität, ob jemand ein Verbrechen begehen kann oder nicht. Ferdinand von Schirach meint, es sei ein Quantitätsunterschied. Staut sich zu viel an, werden Grenzen überschritten. Sein neues Buch "Strafe" erzählt von solchen Grenzüberschreitungen
Man spürt sofort, wie sich das Unheil anbahnt. Während die Welt noch ganz in Ordnung zu sein scheint, Nachbarn sich miteinander anfreunden, eine begabte Anwältin nach dem richtigen Weg in ihrer Karriere strebt, gärt es unter der Oberfläche schon: Gier, unerfüllte Sehnsucht oder Rache und immer wieder Einsamkeit treiben Ferdinand von Schirachs Protagonisten um. In den meisten Fällen wartet der Tod, auf grausame Weise - so wie es auch in "Verbrechen" und "Schuld" war, den früheren Erzählungsbänden des Berliner Schriftstellers und Strafverteidigers.
Sein neuer Band "Strafe" hat an Intensität noch gewonnen; er lässt den Leser mit aufgewühlter Seele zurück und zugleich jedoch beeindruckt, auch glücklich über die Kunst Schirachs, in wenigen Sätzen - manchmal nur in einem - große Fragen des Lebens zu fassen. Etwa die, wie viel man eigentlich von der Welt im Gerichtssaal wissen will? Schirach nimmt uns mit in Verhandlungen, lässt uns Zeugenaussagen beiwohnen, die Tränen in die Augen treiben. Er rüttelt uns auf, auch in dem Sinne, darüber nachzudenken, wie bequem es ist, sich nicht mit den Abgründen menschlichen Handels beschäftigen zu müssen, mit furchtbaren Verbrechen, die gar nicht weit entfernt von uns begangen werden.
In der Erzählung "Subotnik" geht es um Menschenhandel, um Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Der Mandant, so steht es in der Anklage, ist der Kopf einer Bande, die Frauen aus Rumänien und der Ukraine nach Berlin verschleppt. Sie verschwinden in einer Parallelwelt. "Subotnik", erfahren wir von einer Zeugin, die gegen den Mandanten aussagt, bedeute eigentlich freiwilliger Arbeitsdienst, so habe sie es in ihrer Schulzeit gelernt: also zum Beispiel den Schulhof aufzuräumen. Auch sie war nach Deutschland gelockt worden, in der Hoffnung, hier mehr Geld zu verdienen und ihre Familie in Rumänien unterstützen zu können. In Deutschland angekommen, wird sie in einer Wohnung weggesperrt und zum Sex gezwungen - wenn sie sich weigert, droht "Subotnik", was in ihrer Geschichte die Pervertierung von freiwillig ist: nämlich von mehreren Männern vergewaltigt zu werden.
Diese Erzählung ist auch die Geschichte von Seyma, einer Anwältin mit türkischen Wurzeln, die sich aus vorgegebenen Rollenbildern freigekämpft hat, die immer wieder Stärke zeigt und diese auch aus dem Gefühl zieht, anders zu sein - anders als etwa ihre Kollegen in der Kanzlei, deren Lebensweg glatter scheint, die teure Anzüge tragen und sich lieber um Wirtschaftsdelikte kümmern. Seyma verteidigt den Mann, dem die Verbrechen an den Frauen aus Rumänien und der Ukraine zur Last gelegt werden. Es ist ihr erstes großes Strafverfahren, und es bringt sie an ihre Grenzen. "Nach dem Prozess ging Seyma zur S-Bahn, es war Freitagabend. Sie wäre jetzt gerne eine andere gewesen, einer der Menschen, die an der Haltestelle warteten oder die im Café Zeitung lasen oder die nach Hause gingen, eine von denen, die nichts von der Welt im Gericht wussten."
Ohne je belehrend zu klingen, erzählt Schirach von den Prinzipien unseres Rechtssystems, von den Wendungen, die diese nach sich ziehen können - er lässt uns wechseln zwischen der Perspektive des Strafverteidigers, der auf die Beweislage blickt, auf die Frage nach der juristischen Schuld und unserer eigenen, in die immer auch die Frage nach der moralischen Schuld hineinspielt. Diese Auseinandersetzung ist fesselnd, oft erstaunlich und auch schmerzhaft. Menschen, die Morde begangen haben, kommen frei, weil ihnen die Tat nicht nachgewiesen werden kann. Bei anderen wird in der Revision ein Fehler im ersten Verfahren gefunden und die Strafe aufgehoben.
Schirach erzählt auch davon, wie wenig zufrieden und glücklich ein solcher Erfolg einen Strafverteidiger machen kann, obwohl er für seinen Mandanten gewonnen hat. Wie lebt man eigentlich damit? Möglicherweise lautet die einzige Antwort darauf, einfach weiterzumachen mit dem Alltag, dem Leben, solange man eben kann.
In "Strafe" lässt Schirach uns auch zu Mitwissern von Verbrechen werden, die nie vor Gericht verhandelt wurden. Einmal erzählt ein Mandant seinem Anwalt von einer furchtbaren Tat - er hat einen Mord begangen -, die aber von allen als Unfall gesehen wird. Nur der Mandant und nun auch sein Anwalt kennen die Wahrheit. Letzterer muss schweigen. Auch das muss man aushalten können.
Man sieht die Welt anders, nachdem man in Schirachs Fälle eingetaucht ist, blickt Menschen anders an, wenn man abends im Restaurant sitzt und am Tisch nebenan jemand allein isst - oder im Supermarkt vor der Kasse ein älterer Mann in der Schlange steht, der mit sich selbst spricht.
Da ist zum Beispiel "Strelitz", ein 43-jähriger Mann, "unverheiratet, kinderlos. Und er ist klein." In seinem Wohnzimmer steht eine Sammlung von Biographien kleiner Männer: Napoleon, Caesar, Mussolini, Marquis de Sade, Kant, Sartre, Capote, Karajan, Einstein. Aber die Kenntnis dieser Lebensläufe hilft Strelitz überhaupt nicht, sie bieten weder Trost noch Anleitung - auch das Wissen darüber, dass Dustin Hoffman und Tom Cruise nicht größer als einen Meter siebzig sind, bringt ihn nicht weiter. Er will eine Frau, eine Beziehung, bekommt jedoch bei Verabredungen - es sind viele erste - eine höfliche Absage, begleitet von dem "mitleidigen Blick, den er hasste". Dabei gibt Strelitz alles, was er kann: In Nachtclubs lädt er zu Champagner ein, um bei den Frauen Eindruck zu machen. Er belegt Philosophiekurse, um kluge Sätze sagen zu können, aber er bleibt allein. So wesentlich bestimmen die fehlenden Zentimeter sein Leben, dass alles andere in den Hintergrund rückt: Dass es ihm beruflich gut geht, dass er geschätzt wird, das reicht ihm nicht mehr.
In einem Interview hat Ferdinand von Schirach vor einigen Jahren gesagt, es gebe nur sehr wenige Menschen, die morgens schon wüssten, dass sie an eben jenem Tag eine Straftat begehen würden; meist sei es so, dass sich die Tat aus Situationen heraus ergebe, aus einem Prozess, in dem sich die Dinge hochgeschaukelt hätten. Die meisten Menschen würden glauben, es sei ein Qualitätsunterschied, ob jemand ein Verbrechen begehen kann, er aber meine, es sei ein Quantitätsunterschied: Wenn sich zu viel angestaut hat, werden irgendwann Grenzen überschritten.
So wie bei Strelitz. Eines Nachts begeht er gleich mehrere Straftaten. Geschickt ist er nicht. "17 Stunden später sitzt er vor der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts." Strelitz kommt in Haft - und dort fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben groß. Wunderbar genau erzählt Schirach in wenigen Sätzen, das ist seine Gabe, von dieser Widersprüchlichkeit in einer Biographie: unsentimental und mit ruhiger Empathie.
Und das sind die Fragen, die einen letztlich noch viel mehr faszinieren, als die, wer der Täter war: Wie werden Menschen zu dem, was sie sind? Wann empfinden wir Glück? Was erkennen wir als Glück an, wenn es um unser eigenes geht oder um das von anderen Menschen? Was zählt, was lassen wir zu, was gönnen wir anderen? Sind wir überhaupt dazu bereit, zu akzeptieren, dass das Glück anderer Menschen uns möglicherweise abstößt? In der Erzählung "Lydia" besitzt ein Mann eine Sexpuppe. Für ihn ist sie nicht bloß ein Objekt. Er liebt sie, führt eine glückliche Beziehung mit ihr, so empfindet er es und ist zufrieden, bis jemand sein Glück verhöhnt, es angreift. Dann wird er zum Täter.
Die Wendung in Strelitz' Geschichte etwa ist nicht vorhersehbar. Man staunt, ist fassungslos - unaufgeregt erzählt Schirach davon, dass es bei Verbrechen keine Logik gibt. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, Strelitz' Handeln vorauszusehen. Kann man erkennen, wann Einsamkeit so unerträglich wird, dass daraus Straftaten folgen?
Auch Ascher treibt die Einsamkeit um, bis er mordet. Wie sich seine Geschichte entwickelt, ist furchtbar alltäglich. Es geht von außen betrachtet nur darum, dass sich eine Gegend verändert, dass gebaut wird, so wie es überall in Städten und auf dem Land geschieht und viele Menschen betrifft. Doch für Ascher geht es um mehr: Seine Ruhe, seine Routine, die Erfüllung, die er durch das Leben im Haus seines Großvaters, dem Seehaus, gefunden hat, wird in seinen Augen zerstört. Er will das nicht hinnehmen, aber seine Stimme zählt nicht - irgendwann hört ihm auch keiner mehr zu. Dann verändert Ascher sich; anfangs redet er nur mit sich selbst, schimpft leise vor sich hin, schleichend zerbricht sein Leben. Die Waffen seines Großvaters stehen im Keller.
Wie wenig genau man hinsieht und sich nicht um andere kümmert, auch darüber schreibt Schirach und fragt nach der moralischen Verantwortung jedes Einzelnen von uns. In jeder Geschichte lässt er uns das Mitmenschliche suchen. So legt er seine Erzählungen an und stellt einen damit auch vor die Herausforderung, ob man Verständnis mit den Tätern haben sollte, ob man das will, es muss. Dabei zeigt Schirach auch die Dimension ihrer Verbrechen auf, wie eine Tat viele Leben zerstören kann.
Die letzte Geschichte des Bandes wird aus der Ich-Perspektive erzählt und sticht am meisten hervor. Der Ich-Erzähler kennt seinen besten Freund Richard schon seit der Schulzeit, im Internat standen ihre Betten nebeneinander. Richard stammt aus einer namhaften Familie, er besucht später Eliteuniversitäten, verfügt über Geld und Verbindungen, nichts scheint schwer. Der Kontakt zwischen den beiden Freunden bricht ab, als Richard in New York lebt, er ist verheiratet und hat mit seiner Frau eine Wohltätigkeitsstiftung gegründet. Als die beiden Freunde sich schließlich wiedersehen, ist von Richards Leben nicht viel übrig. Es bleibt bei der kurzen Begegnung, und im Rückblick bleibt auch die Frage, wie viel mehr der Erzähler hätte tun können, um Richard zu helfen. Wie aus dem Nichts hört er dann einige Jahre später von Richard. Er besucht ihn und erfährt von dessen Schicksal, dem Leid, das dieser als Angehöriger eines Opfers tragen muss: wie unerträglich es ist, mit der Frage zu leben, ob man einen Menschen hätte retten können, wenn man sich in einem Moment anders verhalten hätte.
Der Erzähler der Geschichte ist Strafverteidiger. Einige Monate nach der letzten Begegnung mit Richard beginnt er zu schreiben. Es sei zu viel geworden, das Wissen darüber, wie der gewaltsame Tod aussieht, die Einsamkeit, das Erschrecken der Täter über sich selbst. Der Erzähler hofft darauf, dass ein neues Leben leichter werde. Man wünscht es ihm.
ANNE AMERI-SIEMENS
Ferdinand von Schirach: "Strafe". Storys. Luchterhand, 192 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viele halten es für eine Frage der Qualität, ob jemand ein Verbrechen begehen kann oder nicht. Ferdinand von Schirach meint, es sei ein Quantitätsunterschied. Staut sich zu viel an, werden Grenzen überschritten. Sein neues Buch "Strafe" erzählt von solchen Grenzüberschreitungen
Man spürt sofort, wie sich das Unheil anbahnt. Während die Welt noch ganz in Ordnung zu sein scheint, Nachbarn sich miteinander anfreunden, eine begabte Anwältin nach dem richtigen Weg in ihrer Karriere strebt, gärt es unter der Oberfläche schon: Gier, unerfüllte Sehnsucht oder Rache und immer wieder Einsamkeit treiben Ferdinand von Schirachs Protagonisten um. In den meisten Fällen wartet der Tod, auf grausame Weise - so wie es auch in "Verbrechen" und "Schuld" war, den früheren Erzählungsbänden des Berliner Schriftstellers und Strafverteidigers.
Sein neuer Band "Strafe" hat an Intensität noch gewonnen; er lässt den Leser mit aufgewühlter Seele zurück und zugleich jedoch beeindruckt, auch glücklich über die Kunst Schirachs, in wenigen Sätzen - manchmal nur in einem - große Fragen des Lebens zu fassen. Etwa die, wie viel man eigentlich von der Welt im Gerichtssaal wissen will? Schirach nimmt uns mit in Verhandlungen, lässt uns Zeugenaussagen beiwohnen, die Tränen in die Augen treiben. Er rüttelt uns auf, auch in dem Sinne, darüber nachzudenken, wie bequem es ist, sich nicht mit den Abgründen menschlichen Handels beschäftigen zu müssen, mit furchtbaren Verbrechen, die gar nicht weit entfernt von uns begangen werden.
In der Erzählung "Subotnik" geht es um Menschenhandel, um Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Der Mandant, so steht es in der Anklage, ist der Kopf einer Bande, die Frauen aus Rumänien und der Ukraine nach Berlin verschleppt. Sie verschwinden in einer Parallelwelt. "Subotnik", erfahren wir von einer Zeugin, die gegen den Mandanten aussagt, bedeute eigentlich freiwilliger Arbeitsdienst, so habe sie es in ihrer Schulzeit gelernt: also zum Beispiel den Schulhof aufzuräumen. Auch sie war nach Deutschland gelockt worden, in der Hoffnung, hier mehr Geld zu verdienen und ihre Familie in Rumänien unterstützen zu können. In Deutschland angekommen, wird sie in einer Wohnung weggesperrt und zum Sex gezwungen - wenn sie sich weigert, droht "Subotnik", was in ihrer Geschichte die Pervertierung von freiwillig ist: nämlich von mehreren Männern vergewaltigt zu werden.
Diese Erzählung ist auch die Geschichte von Seyma, einer Anwältin mit türkischen Wurzeln, die sich aus vorgegebenen Rollenbildern freigekämpft hat, die immer wieder Stärke zeigt und diese auch aus dem Gefühl zieht, anders zu sein - anders als etwa ihre Kollegen in der Kanzlei, deren Lebensweg glatter scheint, die teure Anzüge tragen und sich lieber um Wirtschaftsdelikte kümmern. Seyma verteidigt den Mann, dem die Verbrechen an den Frauen aus Rumänien und der Ukraine zur Last gelegt werden. Es ist ihr erstes großes Strafverfahren, und es bringt sie an ihre Grenzen. "Nach dem Prozess ging Seyma zur S-Bahn, es war Freitagabend. Sie wäre jetzt gerne eine andere gewesen, einer der Menschen, die an der Haltestelle warteten oder die im Café Zeitung lasen oder die nach Hause gingen, eine von denen, die nichts von der Welt im Gericht wussten."
Ohne je belehrend zu klingen, erzählt Schirach von den Prinzipien unseres Rechtssystems, von den Wendungen, die diese nach sich ziehen können - er lässt uns wechseln zwischen der Perspektive des Strafverteidigers, der auf die Beweislage blickt, auf die Frage nach der juristischen Schuld und unserer eigenen, in die immer auch die Frage nach der moralischen Schuld hineinspielt. Diese Auseinandersetzung ist fesselnd, oft erstaunlich und auch schmerzhaft. Menschen, die Morde begangen haben, kommen frei, weil ihnen die Tat nicht nachgewiesen werden kann. Bei anderen wird in der Revision ein Fehler im ersten Verfahren gefunden und die Strafe aufgehoben.
Schirach erzählt auch davon, wie wenig zufrieden und glücklich ein solcher Erfolg einen Strafverteidiger machen kann, obwohl er für seinen Mandanten gewonnen hat. Wie lebt man eigentlich damit? Möglicherweise lautet die einzige Antwort darauf, einfach weiterzumachen mit dem Alltag, dem Leben, solange man eben kann.
In "Strafe" lässt Schirach uns auch zu Mitwissern von Verbrechen werden, die nie vor Gericht verhandelt wurden. Einmal erzählt ein Mandant seinem Anwalt von einer furchtbaren Tat - er hat einen Mord begangen -, die aber von allen als Unfall gesehen wird. Nur der Mandant und nun auch sein Anwalt kennen die Wahrheit. Letzterer muss schweigen. Auch das muss man aushalten können.
Man sieht die Welt anders, nachdem man in Schirachs Fälle eingetaucht ist, blickt Menschen anders an, wenn man abends im Restaurant sitzt und am Tisch nebenan jemand allein isst - oder im Supermarkt vor der Kasse ein älterer Mann in der Schlange steht, der mit sich selbst spricht.
Da ist zum Beispiel "Strelitz", ein 43-jähriger Mann, "unverheiratet, kinderlos. Und er ist klein." In seinem Wohnzimmer steht eine Sammlung von Biographien kleiner Männer: Napoleon, Caesar, Mussolini, Marquis de Sade, Kant, Sartre, Capote, Karajan, Einstein. Aber die Kenntnis dieser Lebensläufe hilft Strelitz überhaupt nicht, sie bieten weder Trost noch Anleitung - auch das Wissen darüber, dass Dustin Hoffman und Tom Cruise nicht größer als einen Meter siebzig sind, bringt ihn nicht weiter. Er will eine Frau, eine Beziehung, bekommt jedoch bei Verabredungen - es sind viele erste - eine höfliche Absage, begleitet von dem "mitleidigen Blick, den er hasste". Dabei gibt Strelitz alles, was er kann: In Nachtclubs lädt er zu Champagner ein, um bei den Frauen Eindruck zu machen. Er belegt Philosophiekurse, um kluge Sätze sagen zu können, aber er bleibt allein. So wesentlich bestimmen die fehlenden Zentimeter sein Leben, dass alles andere in den Hintergrund rückt: Dass es ihm beruflich gut geht, dass er geschätzt wird, das reicht ihm nicht mehr.
In einem Interview hat Ferdinand von Schirach vor einigen Jahren gesagt, es gebe nur sehr wenige Menschen, die morgens schon wüssten, dass sie an eben jenem Tag eine Straftat begehen würden; meist sei es so, dass sich die Tat aus Situationen heraus ergebe, aus einem Prozess, in dem sich die Dinge hochgeschaukelt hätten. Die meisten Menschen würden glauben, es sei ein Qualitätsunterschied, ob jemand ein Verbrechen begehen kann, er aber meine, es sei ein Quantitätsunterschied: Wenn sich zu viel angestaut hat, werden irgendwann Grenzen überschritten.
So wie bei Strelitz. Eines Nachts begeht er gleich mehrere Straftaten. Geschickt ist er nicht. "17 Stunden später sitzt er vor der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts." Strelitz kommt in Haft - und dort fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben groß. Wunderbar genau erzählt Schirach in wenigen Sätzen, das ist seine Gabe, von dieser Widersprüchlichkeit in einer Biographie: unsentimental und mit ruhiger Empathie.
Und das sind die Fragen, die einen letztlich noch viel mehr faszinieren, als die, wer der Täter war: Wie werden Menschen zu dem, was sie sind? Wann empfinden wir Glück? Was erkennen wir als Glück an, wenn es um unser eigenes geht oder um das von anderen Menschen? Was zählt, was lassen wir zu, was gönnen wir anderen? Sind wir überhaupt dazu bereit, zu akzeptieren, dass das Glück anderer Menschen uns möglicherweise abstößt? In der Erzählung "Lydia" besitzt ein Mann eine Sexpuppe. Für ihn ist sie nicht bloß ein Objekt. Er liebt sie, führt eine glückliche Beziehung mit ihr, so empfindet er es und ist zufrieden, bis jemand sein Glück verhöhnt, es angreift. Dann wird er zum Täter.
Die Wendung in Strelitz' Geschichte etwa ist nicht vorhersehbar. Man staunt, ist fassungslos - unaufgeregt erzählt Schirach davon, dass es bei Verbrechen keine Logik gibt. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, Strelitz' Handeln vorauszusehen. Kann man erkennen, wann Einsamkeit so unerträglich wird, dass daraus Straftaten folgen?
Auch Ascher treibt die Einsamkeit um, bis er mordet. Wie sich seine Geschichte entwickelt, ist furchtbar alltäglich. Es geht von außen betrachtet nur darum, dass sich eine Gegend verändert, dass gebaut wird, so wie es überall in Städten und auf dem Land geschieht und viele Menschen betrifft. Doch für Ascher geht es um mehr: Seine Ruhe, seine Routine, die Erfüllung, die er durch das Leben im Haus seines Großvaters, dem Seehaus, gefunden hat, wird in seinen Augen zerstört. Er will das nicht hinnehmen, aber seine Stimme zählt nicht - irgendwann hört ihm auch keiner mehr zu. Dann verändert Ascher sich; anfangs redet er nur mit sich selbst, schimpft leise vor sich hin, schleichend zerbricht sein Leben. Die Waffen seines Großvaters stehen im Keller.
Wie wenig genau man hinsieht und sich nicht um andere kümmert, auch darüber schreibt Schirach und fragt nach der moralischen Verantwortung jedes Einzelnen von uns. In jeder Geschichte lässt er uns das Mitmenschliche suchen. So legt er seine Erzählungen an und stellt einen damit auch vor die Herausforderung, ob man Verständnis mit den Tätern haben sollte, ob man das will, es muss. Dabei zeigt Schirach auch die Dimension ihrer Verbrechen auf, wie eine Tat viele Leben zerstören kann.
Die letzte Geschichte des Bandes wird aus der Ich-Perspektive erzählt und sticht am meisten hervor. Der Ich-Erzähler kennt seinen besten Freund Richard schon seit der Schulzeit, im Internat standen ihre Betten nebeneinander. Richard stammt aus einer namhaften Familie, er besucht später Eliteuniversitäten, verfügt über Geld und Verbindungen, nichts scheint schwer. Der Kontakt zwischen den beiden Freunden bricht ab, als Richard in New York lebt, er ist verheiratet und hat mit seiner Frau eine Wohltätigkeitsstiftung gegründet. Als die beiden Freunde sich schließlich wiedersehen, ist von Richards Leben nicht viel übrig. Es bleibt bei der kurzen Begegnung, und im Rückblick bleibt auch die Frage, wie viel mehr der Erzähler hätte tun können, um Richard zu helfen. Wie aus dem Nichts hört er dann einige Jahre später von Richard. Er besucht ihn und erfährt von dessen Schicksal, dem Leid, das dieser als Angehöriger eines Opfers tragen muss: wie unerträglich es ist, mit der Frage zu leben, ob man einen Menschen hätte retten können, wenn man sich in einem Moment anders verhalten hätte.
Der Erzähler der Geschichte ist Strafverteidiger. Einige Monate nach der letzten Begegnung mit Richard beginnt er zu schreiben. Es sei zu viel geworden, das Wissen darüber, wie der gewaltsame Tod aussieht, die Einsamkeit, das Erschrecken der Täter über sich selbst. Der Erzähler hofft darauf, dass ein neues Leben leichter werde. Man wünscht es ihm.
ANNE AMERI-SIEMENS
Ferdinand von Schirach: "Strafe". Storys. Luchterhand, 192 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Sehr intensiv hat Rezensentin Anne Amerie-Siemens ihre Lektüre von Ferdinand von Schirachs neuen, nun unter dem Titel "Strafe" erschienene Erzählungen erlebt. Schirach verfügt in den Augen der Kritikerin über die Gabe, in wenigen Sätzen die großen Fragen des Lebens zu stellen. "Unsentimental und mit ruhiger Empathie", dafür aber äußerst präzise, führe Schirach vor, dass lediglich ein "Quantitätsunterschied" gesetzestreue Menschen zu Verbrechern werden lasse und dass es bei Verbrechen keine Logik gebe. Seine meist um Vertreter der dritten Gewalt gesponnenen Stories veranschaulichen für Amerie-Siemens, dass Grenzen überschritten werden, wenn sich zu viel anstaut - und zeigen damit ihrer Meinung nach nicht nur, wie schwierig es ist, Recht zu sprechen und mit den damit verbundenen Grauzonen umzugehen. Sie konfrontieren den Leser darüber hinaus auch mit der Frage, wie genau er im Kontakt mit anderen hinsieht, meint sie. Damit bringe Schirach nicht nur die Vielschichtigkeit von Moral und Gerechtigkeit zum Vorschein, ohne jemals schulmeisterlich zu wirken, sondern ziehe auch jeden Einzelnen zur Verantwortung. Die Erzählungen hinterlassen die Rezensentin "mit aufgewühlter Seele", aber auch tief beeindruckt von Schirachs Erzählkunst.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2018Melancholie der Verteidigung
Was bedeutet es, für den Mörder zu sein? In seinem neuen Erzählungsband „Strafen“
erkundet Ferdinand von Schirach die quälenden Paradoxien des Rechtsstaates
VON ANDREAS ZIELCKE
Eine junge Juristin wird bei ihrem ersten Mandat mit der Verteidigung eines Häftlings beauftragt, dem Menschenhandel, Zuhälterei und einschlägige Delikte vorgeworfen werden. Die vorgelegten Indizien können die Richter nicht von seiner Täterschaft überzeugen. Überraschend präsentiert die Anklage am Ende aber doch noch eine Zeugin, die gegen ihn aussagen will, aus Angst allerdings nur, solange er nicht im Saal sei. Nachdem ihn das Gericht ausgeschlossen hat, schildert die Zeugin, wie sie von dem Angeklagten durch Gruppenvergewaltigung und brutale Freiheitsberaubung zur Prostitution gezwungen wurde; bei ihrem letzten Widerstandsversuch stach man ihr ein Auge aus.
Die erschütterte Anwältin will ihr Mandat niederlegen, das Gericht bringt sie davon ab. Der Angeklagte erhält eine lange Freiheitsstrafe. Doch die Anwältin ist angehalten, ihr Mandat fortzusetzen und die Revision zu begründen. Tatsächlich findet sie den kleinen, aber entscheidenden Fehler, der dem Gericht unterlaufen ist. Es durfte zwar den Angeklagten für die Dauer der Zeugenvernehmung ausschließen, aber keinen Moment länger. Stattdessen hatte es die Zeugin entlassen, bevor der Angeklagte in den Saal zurückkehrte. Schon weil er der Entlassung hätte widersprechen können, hätte er anwesend sein müssen. Ein Revisionsgrund. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. In der neuen Verhandlung vor einer anderen Strafkammer fehlt die Zeugin der Anklage. Ein anonymer Anrufer sagt, man habe sie nach ihrer damaligen Aussage getötet und auf den Müll geworfen. Der Angeklagte wird freigesprochen.
Auch wenn diese Zusammenfassung sehr gerafft ist, trifft sie den Ton der Kurzgeschichten in Ferdinand von Schirachs neuem Buch „Strafe“. Es ist der Ton, der allen Lesern seiner Bestseller „Verbrechen“ und „Schuld“ nur allzu vertraut ist: trocken, neutral, karg bis zur Sprachlosigkeit. Aber der Ton macht hier nicht die Musik, so suchterzeugend sein suggestiver Minimalismus auch sein mag. Den eigentlichen Effekt erzeugen die zwei Leitmotive, an denen Schirach in „Strafe“ besonders liegt. Selbst in der knappen Inhaltsangabe dieser einen Geschichte klingen beide auffallend heraus.
Zum einen die radikale Parteilichkeit des Verteidigers, die für ein faires Verfahren unerlässlich ist, obwohl sie die Alltagsmoral heftig zu konsternieren vermag. Weit entfernt von Empathie, Nähe oder psychologischer Betreuung ist damit die begünstigende Rechtshilfe gemeint, die der Anwalt auch dem schlimmsten Verbrecher zu gewähren hat. Wenn es so etwas wie sachliche Einseitigkeit gibt, dann hier. Sie verlangt dem Verteidiger in den Extremfällen, die nicht zufällig den Stoff für „Strafe“ liefern, eine sehr spezielle Verhaltenstugend und Affektkontrolle ab.
Natürlich soll der Strafprozess allein der Wahrheitsfindung und dem abschließenden Urteil dienen. Doch der Anwalt spielt darin eine paradoxe Rolle, er muss zur Wahrheitsfindung beitragen, darf aber nicht objektiv sein. Was immer in seiner rechtlichen Macht steht, soll er aufbieten, um für den Angeklagten das günstigste Urteil zu erreichen, nicht das wahrhaftigste. Solange er nicht lügt oder Beweise fälscht, darf er die Wahrheit selbst dann nicht eigenmächtig offenbaren, wenn er sie kennt. Dass er womöglich einen Schwerverbrecher sehenden Auges vor der fälligen Strafe bewahrt, ändert nichts daran, dass er damit einen legitimen prozessualen Sieg erringt. Aber auch wenn es kein anderer tut, wird er sich selbst die Frage stellen: Wie ist dir dabei zumute? Mit dem Titel „Strafe“ markiert das Buch diesen Konflikt des Verteidigers zwischen verdienter und erzielter Strafe seines kriminellen Schützlings. Mit moralischer Schizophrenie hat das nichts zu tun, aber über den Schatten seines Mitgefühls für das Tatopfer zu springen, das muss er können. Man braucht kein Gedankenleser zu sein, um in diesem Zwiespalt eine Quelle der Melancholie zu erkennen, die sich durch alle Fallgeschichten Schirachs hindurchzieht.
Aber, und das führt zu seinem zweiten Anliegen, auch das Gericht ist einem sehr eingeschränkten Wahrheitsbegriff unterworfen. Nur zulässig erhobene Beweise zählen. In einer anderen der zwölf Kurzgeschichten kann ein Mörder nicht verurteilt werden, obwohl er die Täterschaft durch seine im Krankenhaus geführten Selbstgespräche offenbart. Die aber hat die Polizei hinterrücks abgelauscht und aufgenommen. Klarer Fall von illegal erworbenem Beweis, also Freispruch. Dass rechtliche Prinzipien sich rigoros vor offenkundiges Faktenwissen stellen können, selbst um den Preis, dass auch Mörder ungeschoren davonkommen, gehört ebenfalls zu den harten Brocken des Rechtsverständnisses. Das geht noch über „in dubio pro reo“ hinaus, weil ja die Täterschaft wie hier des Mörders oder auch des brutalen Zuhälters zweifelsfrei feststeht.
Doch Schirachs „Strafe“ ist keine Sammlung von Kurzvorlesungen. Auch wenn seine Geschichten die Leser mit den kontra-intuitiven Seiten des Strafrechts konfrontieren, erteilen sie keine blutleere Lektion. Nicht dass Schirach keinen Hang zu solchen Belehrungen hätte, sein berühmtes Theaterdrama „Terror“ samt der darauf aufbauenden Verfilmung ist nichts anderes als ein durchsichtig konstruiertes Lehrstück, zwar publikumswirksam, aber trotz bester Absicht missglückt. Der Grund ist ganz einfach: Schirach will hier auf einen Richterspruch hinaus, was ihm eindeutig nicht liegt. Seine literarische Stärke bleibt jene sachliche Einseitigkeit des Verteidigers, der nicht richtet. In „Strafe“ kehrt er zu seiner Profession zurück und damit zugleich zu seinem besonderen erzählerischen Talent.
Trotz Orientierung an echten „Fällen“, die er allerdings wegen des Anwaltsgeheimnisses hinreichend abwandeln muss, und trotz seines protokollarischen Stils, der Inneres, Stimmungen und Emotionen meist gar nicht erwähnt und wenn, dann nur mit großer Diskretion, trotz dieser ganzen inhaltlichen und sprachlichen Askese zeichnen die Kurzgeschichten ein aussagefähiges Bild jenes ewigen Dramas, das sich nie bruchlos lösen lässt: die Kollision der Lebenswelt des Verbrechens mit der Welt des Strafrechts.
Übliche Justizthriller leben von der Zuspitzung dieses Dramas, Schirachs Darstellungsstrategie dagegen besteht darin, das Drama so gut wie möglich zu entdramatisieren. Was er an Suspense verliert, gewinnt er an verstörender Einsicht. Insbesondere die diversen Morde erhalten eine Vorgeschichte, die nicht von „Bösem“ handelt, sondern von größeren und kleineren Schritten und Fehltritten zwischen Normalem und Mörderischem. In zwei Geschichten macht schlicht die günstige Gelegenheit nicht den Dieb, sondern den Mörder. Aus Sicht der Justiz tritt eine solche spontane Untat, der kleine Stoß am Abgrund, meist gar nicht in Erscheinung.
Hier ist man dem Autor besonders dankbar, dass er es bei seinen heruntergekühlten Biografie-Konzentraten belässt, in denen Schicksalhaftes und Fremd- und Selbstverschuldetes unkommentiert nebeneinander stehen bleiben. Nur die Justiz muss nun einmal interpretieren und urteilen. Wo verfehlt sie, wo trifft sie die Realität, wo muss sie die Augen verschließen? Auch auf ihrem Terrain sind es oft die kleinen richtigen oder falschen Weichenstellungen, die zu prozessualen Siegen oder Niederlagen führen, zu Strafe oder Freispruch.
Selbstverständlich ist Lakonie nur eine der vielen literarischen Möglichkeiten, mit Verbrechen und Strafe umzugehen und vor allem mit dem gewaltsamen Tod. Die Einsilbigkeit will viel verbergen und wenig offenbaren, aber eines verrät sie, und das ist ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit. Was auch immer davon für Ferdinand von Schirach gilt, wissen wir nicht, aber für sein Alter Ego, das „Strafe“ geschrieben hat und auch im Buch selbst unter verschiedenen Masken auftritt, gilt es in jedem Fall. Größtmögliche Distanz bei größtmöglichem Verständnis verurteilt zur Einsamkeit.
Wie fühlt man sich, wenn man
einen Schwerverbrecher
vor der fälligen Strafe bewahrt?
Was der Autor dieser Geschichten
an Suspense verliert, gewinnt
er an verstörender Einsicht
Die Justiz kennt nicht nur gerade Wege: Blick ins Berliner Landgericht und Amtsgericht Mitte in der Littenstraße.
Foto: Ansgar Koreng / CC
Ferdinand von Schirach: Strafe. Stories. Luchterhand Literaturverlag, München 2018. 192 Seiten, 18 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was bedeutet es, für den Mörder zu sein? In seinem neuen Erzählungsband „Strafen“
erkundet Ferdinand von Schirach die quälenden Paradoxien des Rechtsstaates
VON ANDREAS ZIELCKE
Eine junge Juristin wird bei ihrem ersten Mandat mit der Verteidigung eines Häftlings beauftragt, dem Menschenhandel, Zuhälterei und einschlägige Delikte vorgeworfen werden. Die vorgelegten Indizien können die Richter nicht von seiner Täterschaft überzeugen. Überraschend präsentiert die Anklage am Ende aber doch noch eine Zeugin, die gegen ihn aussagen will, aus Angst allerdings nur, solange er nicht im Saal sei. Nachdem ihn das Gericht ausgeschlossen hat, schildert die Zeugin, wie sie von dem Angeklagten durch Gruppenvergewaltigung und brutale Freiheitsberaubung zur Prostitution gezwungen wurde; bei ihrem letzten Widerstandsversuch stach man ihr ein Auge aus.
Die erschütterte Anwältin will ihr Mandat niederlegen, das Gericht bringt sie davon ab. Der Angeklagte erhält eine lange Freiheitsstrafe. Doch die Anwältin ist angehalten, ihr Mandat fortzusetzen und die Revision zu begründen. Tatsächlich findet sie den kleinen, aber entscheidenden Fehler, der dem Gericht unterlaufen ist. Es durfte zwar den Angeklagten für die Dauer der Zeugenvernehmung ausschließen, aber keinen Moment länger. Stattdessen hatte es die Zeugin entlassen, bevor der Angeklagte in den Saal zurückkehrte. Schon weil er der Entlassung hätte widersprechen können, hätte er anwesend sein müssen. Ein Revisionsgrund. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. In der neuen Verhandlung vor einer anderen Strafkammer fehlt die Zeugin der Anklage. Ein anonymer Anrufer sagt, man habe sie nach ihrer damaligen Aussage getötet und auf den Müll geworfen. Der Angeklagte wird freigesprochen.
Auch wenn diese Zusammenfassung sehr gerafft ist, trifft sie den Ton der Kurzgeschichten in Ferdinand von Schirachs neuem Buch „Strafe“. Es ist der Ton, der allen Lesern seiner Bestseller „Verbrechen“ und „Schuld“ nur allzu vertraut ist: trocken, neutral, karg bis zur Sprachlosigkeit. Aber der Ton macht hier nicht die Musik, so suchterzeugend sein suggestiver Minimalismus auch sein mag. Den eigentlichen Effekt erzeugen die zwei Leitmotive, an denen Schirach in „Strafe“ besonders liegt. Selbst in der knappen Inhaltsangabe dieser einen Geschichte klingen beide auffallend heraus.
Zum einen die radikale Parteilichkeit des Verteidigers, die für ein faires Verfahren unerlässlich ist, obwohl sie die Alltagsmoral heftig zu konsternieren vermag. Weit entfernt von Empathie, Nähe oder psychologischer Betreuung ist damit die begünstigende Rechtshilfe gemeint, die der Anwalt auch dem schlimmsten Verbrecher zu gewähren hat. Wenn es so etwas wie sachliche Einseitigkeit gibt, dann hier. Sie verlangt dem Verteidiger in den Extremfällen, die nicht zufällig den Stoff für „Strafe“ liefern, eine sehr spezielle Verhaltenstugend und Affektkontrolle ab.
Natürlich soll der Strafprozess allein der Wahrheitsfindung und dem abschließenden Urteil dienen. Doch der Anwalt spielt darin eine paradoxe Rolle, er muss zur Wahrheitsfindung beitragen, darf aber nicht objektiv sein. Was immer in seiner rechtlichen Macht steht, soll er aufbieten, um für den Angeklagten das günstigste Urteil zu erreichen, nicht das wahrhaftigste. Solange er nicht lügt oder Beweise fälscht, darf er die Wahrheit selbst dann nicht eigenmächtig offenbaren, wenn er sie kennt. Dass er womöglich einen Schwerverbrecher sehenden Auges vor der fälligen Strafe bewahrt, ändert nichts daran, dass er damit einen legitimen prozessualen Sieg erringt. Aber auch wenn es kein anderer tut, wird er sich selbst die Frage stellen: Wie ist dir dabei zumute? Mit dem Titel „Strafe“ markiert das Buch diesen Konflikt des Verteidigers zwischen verdienter und erzielter Strafe seines kriminellen Schützlings. Mit moralischer Schizophrenie hat das nichts zu tun, aber über den Schatten seines Mitgefühls für das Tatopfer zu springen, das muss er können. Man braucht kein Gedankenleser zu sein, um in diesem Zwiespalt eine Quelle der Melancholie zu erkennen, die sich durch alle Fallgeschichten Schirachs hindurchzieht.
Aber, und das führt zu seinem zweiten Anliegen, auch das Gericht ist einem sehr eingeschränkten Wahrheitsbegriff unterworfen. Nur zulässig erhobene Beweise zählen. In einer anderen der zwölf Kurzgeschichten kann ein Mörder nicht verurteilt werden, obwohl er die Täterschaft durch seine im Krankenhaus geführten Selbstgespräche offenbart. Die aber hat die Polizei hinterrücks abgelauscht und aufgenommen. Klarer Fall von illegal erworbenem Beweis, also Freispruch. Dass rechtliche Prinzipien sich rigoros vor offenkundiges Faktenwissen stellen können, selbst um den Preis, dass auch Mörder ungeschoren davonkommen, gehört ebenfalls zu den harten Brocken des Rechtsverständnisses. Das geht noch über „in dubio pro reo“ hinaus, weil ja die Täterschaft wie hier des Mörders oder auch des brutalen Zuhälters zweifelsfrei feststeht.
Doch Schirachs „Strafe“ ist keine Sammlung von Kurzvorlesungen. Auch wenn seine Geschichten die Leser mit den kontra-intuitiven Seiten des Strafrechts konfrontieren, erteilen sie keine blutleere Lektion. Nicht dass Schirach keinen Hang zu solchen Belehrungen hätte, sein berühmtes Theaterdrama „Terror“ samt der darauf aufbauenden Verfilmung ist nichts anderes als ein durchsichtig konstruiertes Lehrstück, zwar publikumswirksam, aber trotz bester Absicht missglückt. Der Grund ist ganz einfach: Schirach will hier auf einen Richterspruch hinaus, was ihm eindeutig nicht liegt. Seine literarische Stärke bleibt jene sachliche Einseitigkeit des Verteidigers, der nicht richtet. In „Strafe“ kehrt er zu seiner Profession zurück und damit zugleich zu seinem besonderen erzählerischen Talent.
Trotz Orientierung an echten „Fällen“, die er allerdings wegen des Anwaltsgeheimnisses hinreichend abwandeln muss, und trotz seines protokollarischen Stils, der Inneres, Stimmungen und Emotionen meist gar nicht erwähnt und wenn, dann nur mit großer Diskretion, trotz dieser ganzen inhaltlichen und sprachlichen Askese zeichnen die Kurzgeschichten ein aussagefähiges Bild jenes ewigen Dramas, das sich nie bruchlos lösen lässt: die Kollision der Lebenswelt des Verbrechens mit der Welt des Strafrechts.
Übliche Justizthriller leben von der Zuspitzung dieses Dramas, Schirachs Darstellungsstrategie dagegen besteht darin, das Drama so gut wie möglich zu entdramatisieren. Was er an Suspense verliert, gewinnt er an verstörender Einsicht. Insbesondere die diversen Morde erhalten eine Vorgeschichte, die nicht von „Bösem“ handelt, sondern von größeren und kleineren Schritten und Fehltritten zwischen Normalem und Mörderischem. In zwei Geschichten macht schlicht die günstige Gelegenheit nicht den Dieb, sondern den Mörder. Aus Sicht der Justiz tritt eine solche spontane Untat, der kleine Stoß am Abgrund, meist gar nicht in Erscheinung.
Hier ist man dem Autor besonders dankbar, dass er es bei seinen heruntergekühlten Biografie-Konzentraten belässt, in denen Schicksalhaftes und Fremd- und Selbstverschuldetes unkommentiert nebeneinander stehen bleiben. Nur die Justiz muss nun einmal interpretieren und urteilen. Wo verfehlt sie, wo trifft sie die Realität, wo muss sie die Augen verschließen? Auch auf ihrem Terrain sind es oft die kleinen richtigen oder falschen Weichenstellungen, die zu prozessualen Siegen oder Niederlagen führen, zu Strafe oder Freispruch.
Selbstverständlich ist Lakonie nur eine der vielen literarischen Möglichkeiten, mit Verbrechen und Strafe umzugehen und vor allem mit dem gewaltsamen Tod. Die Einsilbigkeit will viel verbergen und wenig offenbaren, aber eines verrät sie, und das ist ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit. Was auch immer davon für Ferdinand von Schirach gilt, wissen wir nicht, aber für sein Alter Ego, das „Strafe“ geschrieben hat und auch im Buch selbst unter verschiedenen Masken auftritt, gilt es in jedem Fall. Größtmögliche Distanz bei größtmöglichem Verständnis verurteilt zur Einsamkeit.
Wie fühlt man sich, wenn man
einen Schwerverbrecher
vor der fälligen Strafe bewahrt?
Was der Autor dieser Geschichten
an Suspense verliert, gewinnt
er an verstörender Einsicht
Die Justiz kennt nicht nur gerade Wege: Blick ins Berliner Landgericht und Amtsgericht Mitte in der Littenstraße.
Foto: Ansgar Koreng / CC
Ferdinand von Schirach: Strafe. Stories. Luchterhand Literaturverlag, München 2018. 192 Seiten, 18 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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»Zwölf Texte, die man nicht vergisst - wieder aus der Welt der Justiz, schonungslos, präzise, manchmal kalt distanziert, dann wieder zutiefst menschlich.« Claudio Armbruster / ZDF heute journal