Hugo Balls ungestümes, wild überbordendes Konvolut TENDERENDA (im Herbst 1914 begonnen, im Juli 1920 beendet) ist das "geheime Vermächtnis" DADAs. Obwohl es den DADA-Aficionados erstmals 1967 in Buchform zugänglich gemacht wurde, waren bereits zu Lebzeiten Balls markante Teile dieses als "work in progress" entstandenen Textes auf diversen DADA-Soiréen immer aufs Neue bühnenwirksam erprobt worden.
Wer sich heute an TENDERENDA wagt, dem entzündet sich ein Feuerwerk. Die Überschriften der 15 Sequenzen - "Das Karusselpferd Johann" etwa, "Der Untergang des Machetanz", "Satanopolis", "Grand Hotel Metaphysik", "Bulbos Gebet und der Gebratene Dichter", "Der Verwesungsdirigent" - sind dabei Programm. Jedes Genre ist erlaubt. Alles ist Parodie, alles Subversion. Eine jede Phantasie führt in die richtige Richtung - und weist dabei stets auf jenes erschütternde Ereignis hin, das die damalige Welt komplett aus den Angeln gehoben hat: den Ersten Weltkrieg.
Seither war nichts mehrwie es war. Schon gar nicht die Kunst. Wie alle weltanschaulichen Gebäude zerfiel auch sie in lauter Einzelteile. Mit phantasievollen Tricks versuchten Künstler allerorten, sich den perfiden Gedankengängen der Herrschenden zu entziehen. Sie unterliefen die an sie gesteckten Erwartungen und konterkarierten den Wahnsinn der Welt durch Klamauk, was gedanklichen Tiefgang nicht ausschloss.
Ihr Mittel, sich vom technokratischen Wahnsinn der Kriegstreiber zu distanzieren, war die absolute Freisetzung der Sprache. Und auch wenn sie dabei nicht selten um das Goldene Kalb des l'art pour l'art tanzten, wurden sie vielleicht gerade deswegen - je zynischer die Farce - zur moralischen Instanz. Denn "in dem Maße, in dem sich das Grauen verstärkt, verstärkt sich das Lachen. Die Gegensätze treten grell hervor. Der Tod hat magische Gestalt angenommen. Sehr bewusst wird dagegen das Leben verteidigt, die Helle, die Freude. Die hohen Gewalten treten persönlich in die Schranken. Gott tanzt gegen den Tod."
Mit Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck, Patrick Güldenberg und Lilith Stangenberg.
Realisation: Michael Farin
Redaktion: Herbert Kapfer
Ton und Technik: Boris Wilsdorf
Musik: Franz Hautzinger
Wer sich heute an TENDERENDA wagt, dem entzündet sich ein Feuerwerk. Die Überschriften der 15 Sequenzen - "Das Karusselpferd Johann" etwa, "Der Untergang des Machetanz", "Satanopolis", "Grand Hotel Metaphysik", "Bulbos Gebet und der Gebratene Dichter", "Der Verwesungsdirigent" - sind dabei Programm. Jedes Genre ist erlaubt. Alles ist Parodie, alles Subversion. Eine jede Phantasie führt in die richtige Richtung - und weist dabei stets auf jenes erschütternde Ereignis hin, das die damalige Welt komplett aus den Angeln gehoben hat: den Ersten Weltkrieg.
Seither war nichts mehrwie es war. Schon gar nicht die Kunst. Wie alle weltanschaulichen Gebäude zerfiel auch sie in lauter Einzelteile. Mit phantasievollen Tricks versuchten Künstler allerorten, sich den perfiden Gedankengängen der Herrschenden zu entziehen. Sie unterliefen die an sie gesteckten Erwartungen und konterkarierten den Wahnsinn der Welt durch Klamauk, was gedanklichen Tiefgang nicht ausschloss.
Ihr Mittel, sich vom technokratischen Wahnsinn der Kriegstreiber zu distanzieren, war die absolute Freisetzung der Sprache. Und auch wenn sie dabei nicht selten um das Goldene Kalb des l'art pour l'art tanzten, wurden sie vielleicht gerade deswegen - je zynischer die Farce - zur moralischen Instanz. Denn "in dem Maße, in dem sich das Grauen verstärkt, verstärkt sich das Lachen. Die Gegensätze treten grell hervor. Der Tod hat magische Gestalt angenommen. Sehr bewusst wird dagegen das Leben verteidigt, die Helle, die Freude. Die hohen Gewalten treten persönlich in die Schranken. Gott tanzt gegen den Tod."
Mit Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck, Patrick Güldenberg und Lilith Stangenberg.
Realisation: Michael Farin
Redaktion: Herbert Kapfer
Ton und Technik: Boris Wilsdorf
Musik: Franz Hautzinger
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Ritter aus Glanzpapier
Michael Farin inszeniert Hugo Balls „Tenderenda der Phantast“
„Sein Kopf eine Wunderzwiebel der Geistigkeit.“ Was für ein schöner Satz, um die Wendigkeit eines Dichters zu beschreiben. Gehirnschale für Gehirnschale ist dieser im Stande immer wieder aufs Neue zu verblüffen, auf dass sich Außenstehende verwundert die Augen reiben über so viel Witz und Einfallsreichtum. Doch was kunstaffine Menschen als positive Eigenschaft, vielleicht mehr noch: als Voraussetzung echten Künstlertums begreifen, ist häufig für Ottonormalbürger, Pragmatiker oder Technokraten jeglicher Couleur Affront und Graus zugleich.
Und so nimmt es mit dem namenlosen Wunderzwiebelkopf-Dichter auch kein gutes Ende. Denn sein Schöpfer Hugo Ball lässt ihn von Gespenstern braten und anschließend verspeisen. Die Anregung zu der Figur hatte Ball von Baudelaire, wie man aus seinen Notizen „Die Flucht aus der Zeit“ erfahren kann. Dort schreibt Ball: „Auch der Dichter, der Philosoph, der Heilige sollen Gebrauchsgegenstände werden (für den Bürger). Wie sagt doch Baudelaire: ,Wenn ich vom Staat einen Bürger verlangte für meinen Stall, würde alle Welt den Kopf schütteln. Verlangt aber der Bürger vom Staat einen gebratenen Dichter, so liefert man ihn’.“
Der „gebratene Dichter“ ist nur einer von mehreren Akteuren, die in Hugo Balls „Tenderenda der Phantast“ ihr Unwesen treiben und dabei zumindest Anstoß erregen. Keinen von ihnen hat man eins zu eins mit ihrem Schöpfer gleichzusetzen, und doch trägt ein jeder Züge von Ball. „Der Mensch aber hat viele Ichs, wie die Zwiebel viele Schalen hat“, heißt es dazu in den Notizen. Allen voran in der Titelfigur Laurentius Tenderenda, dessen Vorname auf den Heiligen Laurentius verweist, jenen christlichen Märtyrer also, der seinen Tod auf dem Eisenrost gefunden haben soll, kann man Ball erkennen.
Sieben lange Jahre, von 1914 bis 1920, hat Hugo Ball am sprachwütigen und bildgewaltigen „Tenderenda“ gearbeitet. Und auch wenn er ihn selbst „Roman“ nennt, ist er eigentlich viel mehr ein vogelwilder Mix aus fünfzehn kurzen Kapiteln inklusive Vorspann, die sich nicht selten durch den Auftritt vor Publikum immer wieder verändert haben und von denen so gut wie jedes einer anderen Gattung zugehört. Da gibt es die an die Bibel angelehnte Parabel ebenso wie die Landschaftsbeschreibung, den Hymnus ebenso wie das Märchen und den Totentanz.
Natürlich darf auch das Lautgedicht nicht fehlen. Jene lyrische Spielart also, die man zuallererst mit dem Dadaisten Ball, zu dem er sich in der Entstehungszeit des „Tenderenda“ in der Zürcher Emigration wandeln wird, assoziiert und die im Vorspann zu dem „baubo sbugi ninga“-Kapitel als „Zauberformel“ bezeichnet wird. Das öffentlich vorgetragene Lautgedicht, verstanden als Verse ohne Worte, war ein Abwehrreflex des ästhetischen Widerstandes. Auf den Irrsinn eines kriegstreiberischen Propaganda-Sprechs sowie den im Feld stattfindenden Materialschlachten reagierten Ball und seine Mitstreiter vom Cabaret Voltaire mit Kämpfen auf dem Gebiet des sprachlich-verminten Materials.
Es galt Sätze und Grammatik so lange in die Luft zu jagen, bis jeglicher Sinn zerstoben war. Ein Akt der Befreiung. Einmal heißt es programmatisch: „In dem Maße, in dem sich das Grauen verstärkt, verstärkt sich das Lachen.“
Als das „geheime Vermächtnis“ von Dada wurde der „Tenderenda“, der erst vierzig Jahre nach dem frühen Krebstod Balls 1967 in Buchform erschien und nun, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, erstmals auch in einer berückenden Hörspielfassung von Michael Farin auf CD vorliegt, häufig bezeichnet. Dies hat insofern seine Berechtigung, als man jedes Kapitel dieses work in progress einer Lebensphase des Dichters zuordnen kann.
Das zweite Kapitel „Das Karussellpferd Johann“ beschreibt die Emigration in die Schweiz im Jahre 1915. Das sechste, „Grand Hotel Metaphysik“, dann die Geburt des lustvoll-tobenden Dadaismus und seine damit einhergehende Anfeindung: „Über keinen Büchsenschuß Ludendorffs regte man sich so auf wie über das schwankende Häuflein dadaistischer Wanderpropheten, die die Kindlichkeit auf ihre Weise verkündeten.“ Und im dreizehnten Abschnitt „Laurentius Tenderenda“ wird schließlich Balls Abkehr vom Dadaismus angedeutet, wenn von „einem Ritter aus Glanzpapier“ die Rede ist, den „die Wortspiele, Wunder und Abenteuer mürbe gemacht haben“. Es lässt dessen Hinwendung zum Katholizismus erahnen: „Er sehnt sich nach lateinischer Abwesenheit.“
Das zweiteilige Hörspiel von Michael Farin – eine Produktion der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des BR von 2016 – widersteht jeglichem Versuch, irgendwie so zu klingen, wie man sich eine Dada-Soirée landläufig vorstellt: verrückt und überkandidelt. Michael Farin, Autor, Hörspielmacher und Betreiber des Münchner belleville Verlags, in dem die Produktion unter dem Label „intermedium records“ erschien, ist viel zu sehr Kenner von Balls Werk, um diesen Fehler zu machen. Bereits 1999 schuf er eine Hörspielfassung des Variété-Romans „Flametti oder Vom Dandysmus der Armen“.
Und so setzt Farin mit seinem Ensemble vor allem auf eine sehr werkgetreue Umsetzung, die man fast spartanisch nennen könnte. Selbst die auf den Instrumenten Klavier, Trompete und Percussion basierende Komposition von Franz Hautzinger dient mit ihren verwehten Tönen und Geräuschen einzig und allein der Sprache. Sie spielt sich nie in den Vordergrund, unterstützt lediglich einzelne Passagen, um dann wieder minutenlang zu schweigen.
Das Quartett um Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck und Lilith Stangenberg, zu dem noch Patrick Güldenberg mit seiner leicht kratzig-rauen Stimme hinzukam, feiert Balls Wortschöpfungen. Wobei feiern hier nicht weihevolle Ehrfurcht meint, sondern nuancierte Akkuratesse. Dieser merkt man zugleich die Freude an der Sprache an. Eine Freude, die auch jeder Hörer erleben kann, wenn ihm witzige, absurde oder boshafte Worte wie „Zelluloidnasen“ oder „Tintenhölle“ begegnen. Diese gibt es zuhauf, und sie lassen das Wissen um die literarhistorischen Ab- und Hintergründe auch mal ganz nebensächlich werden.
„Zu sagen ist nichts mehr. Vielleicht, daß etwas noch gesungen werden kann“, schreibt Ball. Michael Farin nimmt diesen Satz als Aufforderung, die „Hymnus“-Passagen von den Sprechern gleich zweimal wiedergeben zu lassen: Erst gesprochen, dann gesungen. So werden sie zu Performern. Friederike Mayröckers einst geäußerte Forderung, was ein Hörspiel zu leisten habe, nämlich dass der akustische Vorgang beim Hörer eine ganz bestimmte Reaktion hervorrufen müsse, etwas, das in der Nähe des musikalischen Genusses liege, aber statt von Tönen von Worten und Geräuschen ausgelöst werde, löst „Tenderenda der Phantast“ auf beeindruckende Weise ein.
FLORIAN WELLE
Die „Wortspiele, Wunder und
Abenteuer“ machen
auch mürbe.
„Er sehnt sich nach
lateinischer Abwesenheit.“
Hugo Ball: Tenderenda der Phantast. Mit Meret Becker, Patrick Güldenberg u.a. 2 CDs, ca. 115 Minuten. Intermedium Rec., München 2018.
2 CDs, 128 Min., 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Farin inszeniert Hugo Balls „Tenderenda der Phantast“
„Sein Kopf eine Wunderzwiebel der Geistigkeit.“ Was für ein schöner Satz, um die Wendigkeit eines Dichters zu beschreiben. Gehirnschale für Gehirnschale ist dieser im Stande immer wieder aufs Neue zu verblüffen, auf dass sich Außenstehende verwundert die Augen reiben über so viel Witz und Einfallsreichtum. Doch was kunstaffine Menschen als positive Eigenschaft, vielleicht mehr noch: als Voraussetzung echten Künstlertums begreifen, ist häufig für Ottonormalbürger, Pragmatiker oder Technokraten jeglicher Couleur Affront und Graus zugleich.
Und so nimmt es mit dem namenlosen Wunderzwiebelkopf-Dichter auch kein gutes Ende. Denn sein Schöpfer Hugo Ball lässt ihn von Gespenstern braten und anschließend verspeisen. Die Anregung zu der Figur hatte Ball von Baudelaire, wie man aus seinen Notizen „Die Flucht aus der Zeit“ erfahren kann. Dort schreibt Ball: „Auch der Dichter, der Philosoph, der Heilige sollen Gebrauchsgegenstände werden (für den Bürger). Wie sagt doch Baudelaire: ,Wenn ich vom Staat einen Bürger verlangte für meinen Stall, würde alle Welt den Kopf schütteln. Verlangt aber der Bürger vom Staat einen gebratenen Dichter, so liefert man ihn’.“
Der „gebratene Dichter“ ist nur einer von mehreren Akteuren, die in Hugo Balls „Tenderenda der Phantast“ ihr Unwesen treiben und dabei zumindest Anstoß erregen. Keinen von ihnen hat man eins zu eins mit ihrem Schöpfer gleichzusetzen, und doch trägt ein jeder Züge von Ball. „Der Mensch aber hat viele Ichs, wie die Zwiebel viele Schalen hat“, heißt es dazu in den Notizen. Allen voran in der Titelfigur Laurentius Tenderenda, dessen Vorname auf den Heiligen Laurentius verweist, jenen christlichen Märtyrer also, der seinen Tod auf dem Eisenrost gefunden haben soll, kann man Ball erkennen.
Sieben lange Jahre, von 1914 bis 1920, hat Hugo Ball am sprachwütigen und bildgewaltigen „Tenderenda“ gearbeitet. Und auch wenn er ihn selbst „Roman“ nennt, ist er eigentlich viel mehr ein vogelwilder Mix aus fünfzehn kurzen Kapiteln inklusive Vorspann, die sich nicht selten durch den Auftritt vor Publikum immer wieder verändert haben und von denen so gut wie jedes einer anderen Gattung zugehört. Da gibt es die an die Bibel angelehnte Parabel ebenso wie die Landschaftsbeschreibung, den Hymnus ebenso wie das Märchen und den Totentanz.
Natürlich darf auch das Lautgedicht nicht fehlen. Jene lyrische Spielart also, die man zuallererst mit dem Dadaisten Ball, zu dem er sich in der Entstehungszeit des „Tenderenda“ in der Zürcher Emigration wandeln wird, assoziiert und die im Vorspann zu dem „baubo sbugi ninga“-Kapitel als „Zauberformel“ bezeichnet wird. Das öffentlich vorgetragene Lautgedicht, verstanden als Verse ohne Worte, war ein Abwehrreflex des ästhetischen Widerstandes. Auf den Irrsinn eines kriegstreiberischen Propaganda-Sprechs sowie den im Feld stattfindenden Materialschlachten reagierten Ball und seine Mitstreiter vom Cabaret Voltaire mit Kämpfen auf dem Gebiet des sprachlich-verminten Materials.
Es galt Sätze und Grammatik so lange in die Luft zu jagen, bis jeglicher Sinn zerstoben war. Ein Akt der Befreiung. Einmal heißt es programmatisch: „In dem Maße, in dem sich das Grauen verstärkt, verstärkt sich das Lachen.“
Als das „geheime Vermächtnis“ von Dada wurde der „Tenderenda“, der erst vierzig Jahre nach dem frühen Krebstod Balls 1967 in Buchform erschien und nun, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, erstmals auch in einer berückenden Hörspielfassung von Michael Farin auf CD vorliegt, häufig bezeichnet. Dies hat insofern seine Berechtigung, als man jedes Kapitel dieses work in progress einer Lebensphase des Dichters zuordnen kann.
Das zweite Kapitel „Das Karussellpferd Johann“ beschreibt die Emigration in die Schweiz im Jahre 1915. Das sechste, „Grand Hotel Metaphysik“, dann die Geburt des lustvoll-tobenden Dadaismus und seine damit einhergehende Anfeindung: „Über keinen Büchsenschuß Ludendorffs regte man sich so auf wie über das schwankende Häuflein dadaistischer Wanderpropheten, die die Kindlichkeit auf ihre Weise verkündeten.“ Und im dreizehnten Abschnitt „Laurentius Tenderenda“ wird schließlich Balls Abkehr vom Dadaismus angedeutet, wenn von „einem Ritter aus Glanzpapier“ die Rede ist, den „die Wortspiele, Wunder und Abenteuer mürbe gemacht haben“. Es lässt dessen Hinwendung zum Katholizismus erahnen: „Er sehnt sich nach lateinischer Abwesenheit.“
Das zweiteilige Hörspiel von Michael Farin – eine Produktion der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des BR von 2016 – widersteht jeglichem Versuch, irgendwie so zu klingen, wie man sich eine Dada-Soirée landläufig vorstellt: verrückt und überkandidelt. Michael Farin, Autor, Hörspielmacher und Betreiber des Münchner belleville Verlags, in dem die Produktion unter dem Label „intermedium records“ erschien, ist viel zu sehr Kenner von Balls Werk, um diesen Fehler zu machen. Bereits 1999 schuf er eine Hörspielfassung des Variété-Romans „Flametti oder Vom Dandysmus der Armen“.
Und so setzt Farin mit seinem Ensemble vor allem auf eine sehr werkgetreue Umsetzung, die man fast spartanisch nennen könnte. Selbst die auf den Instrumenten Klavier, Trompete und Percussion basierende Komposition von Franz Hautzinger dient mit ihren verwehten Tönen und Geräuschen einzig und allein der Sprache. Sie spielt sich nie in den Vordergrund, unterstützt lediglich einzelne Passagen, um dann wieder minutenlang zu schweigen.
Das Quartett um Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck und Lilith Stangenberg, zu dem noch Patrick Güldenberg mit seiner leicht kratzig-rauen Stimme hinzukam, feiert Balls Wortschöpfungen. Wobei feiern hier nicht weihevolle Ehrfurcht meint, sondern nuancierte Akkuratesse. Dieser merkt man zugleich die Freude an der Sprache an. Eine Freude, die auch jeder Hörer erleben kann, wenn ihm witzige, absurde oder boshafte Worte wie „Zelluloidnasen“ oder „Tintenhölle“ begegnen. Diese gibt es zuhauf, und sie lassen das Wissen um die literarhistorischen Ab- und Hintergründe auch mal ganz nebensächlich werden.
„Zu sagen ist nichts mehr. Vielleicht, daß etwas noch gesungen werden kann“, schreibt Ball. Michael Farin nimmt diesen Satz als Aufforderung, die „Hymnus“-Passagen von den Sprechern gleich zweimal wiedergeben zu lassen: Erst gesprochen, dann gesungen. So werden sie zu Performern. Friederike Mayröckers einst geäußerte Forderung, was ein Hörspiel zu leisten habe, nämlich dass der akustische Vorgang beim Hörer eine ganz bestimmte Reaktion hervorrufen müsse, etwas, das in der Nähe des musikalischen Genusses liege, aber statt von Tönen von Worten und Geräuschen ausgelöst werde, löst „Tenderenda der Phantast“ auf beeindruckende Weise ein.
FLORIAN WELLE
Die „Wortspiele, Wunder und
Abenteuer“ machen
auch mürbe.
„Er sehnt sich nach
lateinischer Abwesenheit.“
Hugo Ball: Tenderenda der Phantast. Mit Meret Becker, Patrick Güldenberg u.a. 2 CDs, ca. 115 Minuten. Intermedium Rec., München 2018.
2 CDs, 128 Min., 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ganz ausgezeichnet findet Rezensent Florian Welle, wie Michael Farin mit dieser Hörspielproduktion jeder Versuchung widersteht, Hugo Balls "Tenderenda der Phantast" so überkandidelt zu inszenieren, wie das Klischee es von Dada verlangt. Nein, Farin inszeniere Balls an sich schon wilden und sprachwütigen Mix um eine Reihe "gebratener Dichter" ausgesprochen spartanisch. Auch die Kompositionen Franz Hautzinger stellt sich bescheiden in den Dienst der Sprache. Und dass selbst das Schauspielerinnen-Quartett von Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck und Lilith Stangenberg den Text mit nuancierte Akkuratesse huldigen, versetzt den Rezensenten in den siebten Hörspielhimmel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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