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Produktdetails
  • Verlag: Brilliance Audio
  • Gesamtlaufzeit: 900 Min.
  • Erscheinungstermin: 15. Mai 2018
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-13: 9781543695274
  • Artikelnr.: 51506077
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2018

Auch Maschinen sollten Ursachen erkennen können
Alles nur Korrelation? Der Turing-Preisträger Judea Pearl plädiert in Zeiten von Big Data für eine kausale Revolution

Daten sind dumm. Und wer meint, aus purer Datenhuberei interessante Erkenntnisse gewinnen zu können, der ist es auch. Das ist, auf den Punkt gebracht und gegen den Zeitgeist, die Botschaft des neuen Buches, das der Computerwissenschaftler, KI-Forscher und Träger des Turing Awards Judea Pearl zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Dana Mackenzie verfasst hat.

Während alle Welt auf die großen Datenmengen starrt, deren statistische Analyse die Suche nach Ursachen überflüssig machen soll, arbeitet Pearl mit seinem Team seit geraumer Zeit an einer leiseren und außerhalb der Fachkreise bislang kaum beachteten Entwicklung, die er "Kausale Revolution" nennt. Sie besteht darin, in der Wissenschaft wieder gesellschaftsfähig zu machen, was wir im Alltag ständig und meist ohne große Mühe praktizieren: Nach Ursachen fragen und Ursachen angeben: Warum ist das Haus abgebrannt? Warum hat die Behandlung diesem Patienten geholfen, jenem aber nicht?

Die Suche nach Ursachen galt die längste Zeit als das eigentliche Ziel der Wissenschaften. Doch nicht erst im Zeitalter von Big Data, sondern schon im neunzehnten Jahrhundert häufte sich die Kritik an dem schwer zu fassenden Konzept der Kausalität. Um dies zu illustrieren, leitet Pearl den Leser erst einmal unterhaltsam durch die jüngere Geschichte des Kausalbegriffs. Vor allem zwei Probleme wurden in ihr diskutiert: Zum einen die Vollständigkeit der Erklärung: Klar, das Haus ist abgebrannt, weil die Kerze umgefallen ist.

Aber wäre da kein Sauerstoff gewesen, wäre es nicht abgebrannt, obwohl die Kerze umgefallen ist. Und wäre da nicht der Zeitungsstapel gewesen, auf den die Kerze gekippt ist, sondern nur Steinboden, wäre es auch nicht abgebrannt. Und wäre die Kerze vom Tisch gefallen, wäre die Flamme beim Sturz vielleicht erloschen. . . Entweder also ist die Rede von Ursachen ungenau oder man buchstabiert genau aus, was man für eine Ursache hält. Dazu allerdings müsste man den Zustand der ganzen Welt zu einem Zeitpunkt benennen, was weder möglich noch hilfreich ist, denn die Angabe von Ursachen erklärt dadurch, dass sie eine Regelmäßigkeit zugrunde legt, nicht indem sie Einzelereignisse beschreibt.

Hinzu kommt: Kausalbeziehungen sind asymmetrisch: Der Hahn kräht, weil die Sonne aufgeht, aber die Sonne geht nicht auf, weil der Hahn kräht. Das aber lässt sich in der gängigen wissenschaftlichen Formelsprache nicht ausdrücken. So galt in der Physik seit der vorletzten Jahrhundertwende: Die Rede von Ursache und Wirkung ist so überflüssig wie irreführend, denn sie suggeriert Regelmäßigkeiten, die es nicht gibt. Das Wort "Ursache" habe zu verschwinden, schrieb der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell 1913. Kräfte durften zwar noch auf etwas "einwirken", aber keine Bewegung mehr "hervorbringen". Statt dessen lernen Sudenten seither: Korrelation ist keine Kausalität.

Die Rolle von Pfeildiagrammen bei der Meerschweinchenforschung

Einige wenige Forscher sahen das anders. Pearls Held ist der Genetiker Sewall Wright. Der hatte sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Frage befasst, welchen Beitrag die Gene bei der Ausbildung der Färbung von Meerschweinchen spielen und wie groß die Bedeutung anderer Entwicklungsfaktoren ist. Er zeigte, in welchen Fällen Korrelation und Kausalität dennoch eng zusammenhängen - und hielt seine Überlegungen als Erster mit Hilfe von Pfeildiagrammen fest, auf die auch Pearl schwört. Der Philosoph Hans Reichenbach postulierte drei Jahrzehnte später: Ohne Kausalität gibt es keine Korrelation oder, anders herum: Manchmal kann man aus Korrelationen eben doch etwas über Kausalität herausfinden, etwa, ob man es mit gemeinsamer oder direkter Verursachung zu tun hat.

In den achtziger Jahren setzte Wesley Salmon die Kausalität zumindest in der Wissenschaftstheorie wieder auf die Tagesordnung. 2003 formulierte James Woodward eine handlungsbasierte Kausaltheorie: "Making Things Happen". Pearl selbst trug maßgeblich zur Entwicklung des wahrscheinlichkeitsbasierten Rechnens mit sogenannten Bayesschen Netzen bei und publizierte 2009 sein Standardwerk "Causality".

Trotz aller dieser Arbeiten seien in der Wissenschaft aber bis heute keine Methoden und keine Sprache entwickelt worden, um Kausalität zu fassen, so Pearl. Mit dem Effekt, dass wir das, was wir eigentlich wissen wollen und wissen müssen, um effektiv handeln zu können - Warum ist etwas passiert? Wie hätte man es verhindern können? Was wird als Nächstes geschehen? - wissenschaftlich nicht beantworten können. Pearl hält das für einen Skandal und spricht temperamentvoll von "Prohibition": Die Konzentration auf die Korrelationen habe dazu geführt, dem wichtigen Kommunikationsinstrument des kausalen Redens das mächtige Instrumentarium der Mathematik vorzuenthalten. Man behelfe sich mit maschinellen Lernverfahren, die immer wieder neu trainiert werden müssen, wenn sich die Datenbasis ändert, statt aus kausalem Verständnis zu entscheiden, ob ein Modell, etwa zur Vorhersage der Wirksamkeit von medizinischen Behandlungen, weiter verwendet werden kann.

Sein eigenes Verfahren verdeutlicht Pearl anhand einer Leiter mit drei Sprossen: sie heißen Sehen, Tun und Vorstellen. Sehen bedeutet: Regelmäßigkeiten in der Umwelt feststellen. Das können viele Tierarten und das können auch die gängigen maschinellen Lernsysteme. Tun bedeutet, sich die Folgen von Handlungen auszumalen und dann die erfolgversprechendsten auszuwählen. Auf dieser Stufe stehen Arten, die Werkzeuggebrauch meistern. Vorstellen steht für die Fähigkeit, andere Welten zu entwerfen und zu fragen: Was wäre passiert, wenn es anders gewesen wäre? Wenn Lungenkrebs nur durch den Teer im Tabak ausgelöst würde, dürften Zigaretten ohne Teer nicht zu Lungenkrebs führen. Und das lässt sich testen. Auf dieser Stufe steht der Mensch (bislang) allein.

Mit der heutigen Künstlichen Intelligenz kann man nicht reden

Der Kern von Pearls kausaler Revolution besteht nun in einem Verfahren, dieses Vorstellen, wie die Welt sein könnte, zu formalisieren. Dazu benutzt der Autor zum einen Pfeildiagramme, die zeigen, welche Faktoren eine Rolle spielen, welche Verbindungen zwischen ihnen angenommen werden und in welche Richtung die Kausalität läuft. Diese Verbindungen oder ihr Fehlen stehen für statistisch überprüfbare Annahmen: Verbindet kein Pfeil die Punkte A und D, zeigen die Daten jedoch, dass beide zusammenhängen, muss das Modell überdacht werden.

Mit seinem neuen Buch richtet sich Pearl an eine allgemeine Leserschaft, das ganz Technische hat er in sein 2016 erschienenes "Primer: Causal Inference in Statistics" ausgelagert. Dennoch erspart er dem Leser nicht, die Pfeildiagramme noch einmal in strenger und für den Laien kaum nachvollziehbarer Formelsprache auszuführen. Er zeigt, welche Fallstricke zu meiden, wie Fehlschlüsse zu umgehen und Störfaktoren zu erkennen sind. Am Ende steht ein nachprüfbares kausales Modell eines Geschehens, das sich auch in einen Algorithmus übersetzen lassen sollte.

Denn Pearl geht es auch um die immer noch reichlich dumme Künstliche Intelligenz. Hier ist der Autor ein ausgesprochener Optimist: Starke KI, also Künstliche Intelligenz auf menschlichem Niveau, hält er für möglich - sofern man den Maschinen beibringen könne, in Ursachen und Wirkungen zu denken. Maschinelle Lernsysteme, wie sie heute im Einsatz sind, sind undurchsichtig. Mit solchen Maschinen kann man nicht reden, so Pearl. Daten liefern keine Geschichten und Geschichten brauchen wir, um uns in der Welt zu orientieren. Er nennt es den Mini-Turing-Test: Um als intelligent zu gelten, müsse eine Maschine in der Lage sein, ihr Wissen so zu organisieren, dass sie Warum-Fragen beantworten kann. Die nötigen Algorithmen gebe es inzwischen, dank seiner Arbeit und der seiner Studierenden. Mit ihrer Hilfe sollten die Maschinen sogar lernen können, verlässliche moralische Urteile zu fällen, von denen wir wiederum etwas lernen könnten - so wie wir heute von Schach- oder Go-Programmen lernen. Damit sollen sie uns in Zukunft "wundervolle Gefährten" sein.

Vielleicht schreibt der Autor sich die kausale Revolution ein wenig zu stark auf die eigenen Fahnen und die seiner Mitarbeiter, vielleicht ist "Revolution" ein bisschen zu hoch gegriffen für die Entwicklungen, die sich in der Diskussion um die Kausalität derzeit vollziehen. Doch Pearl zeigt eindrucksvoll, dass im Zeitalter großer Datenmengen die Kausalität nicht obsolet ist und auch wissenschaftlich fassbar. Nicht nur, weil auch das Sammeln und Auswerten von Daten viel mehr Theorien und Modelle benötigt, als gewöhnlich thematisiert wird, sondern auch, weil der Mensch die Welt nach wie vor verstehen will. Antworten auf Warum-Fragen gibt es nie ohne kausale Annahmen, die sich in den Erklärungsmodellen verstecken, so Pearl.

Das kann man für zirkulär und unwissenschaftlich halten und versuchen, auf Kausalität zu verzichten. Oder, das ist Pearls Vorschlag, die nötigen Annahmen explizit machen und prüfen, ob es sinnvoll ist, sie zu machen. Und sich dann ungeniert Warum-Geschichten erzählen.

MANUELA LENZEN

Judea Pearl and Dana Mackenzie: "The Book of Why". The New Science of Cause and Effect.

Basic Books, New York 2018. 419 S., geb., 22,99 [Euro].

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