Lyra ist klug und unendlich neugierig. Was erforscht ihr geheimnisvoller Onkel im eisigen Norden Europas? Und warum verschwinden in ihrer Umgebung immer mehr Kinder? Doch Antworten auf all diese Fragen kann Lyra nur finden, wenn sie ihrem Onkel folgt. In Gebiete, in denen Panzereisbären eine uneinnehmbare Festung bewachen und wo hinter dem Polarlicht eine neue Welt beginnt ... Parallel zum Kinostart entführt auch dieses Hörspiel mit Terence Stamp, Emma Fielding, Bill Paterson und vielen anderen temporeich in Lyras märchenhafte Welt, in der ein goldenes Instrument eine rätselhafte Rolle spielt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996Jedem sein eigener Dämon
Philip Pullmans Fantasy-Roman vom goldenen Kompaß
Nach der Lektüre ertappte ich mich dabei, die Menschen meiner Umgebung darauf hin zu mustern, wie denn ihr Dämon aussehen könnte. Es hätte mich kaum gewundert, wenn sich eine Schlange um den Hals eines Kollegen geringelt hätte und wenn ein anderer mit einem hübschen, sauberen Stinktier zusammen aufgetreten wäre. Aber unsere Welt ist der im ersten Band von Philip Pullmans Trilogie nicht gleich, nur ähnlich, und uns fehlt, was ihren Menschen wesentlich zugehört: der sprach-und handlungsfähige Dämon als tiergestaltige Verkörperung der Seele, des Schicksals oder was immer es ist, was uns einzigartig macht und dem wir nie entfliehen können. Goethe nannte es "Daimon": "Geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Die Dämonen der Kinder sind in ihrer Gestalt noch nicht festgelegt. Ihr lustvolles und für Abenteuer, Geheimnisse und kleine Spionagen nützliches Verwandlungsspiel hat ein Ende, wenn der Mensch erwachsen wird. Der Dämon nimmt dann seine endgültige Gestalt an, die zeigt, "was für ein Mensch man ist". Diese Festlegung ist in der Geschichte von Adam und Eva, wie sie Pullman überliefert, die Folge ihres Ungehorsams: Als sie von der verbotenen Frucht essen, erkennen sie die wahre Gestalt ihrer Dämonen. Mit der Erkenntnis kommen Sünde, Scham und Tod in die Welt.
Die Verkörperung des Dämon ist eine produktive Idee, aus der Pullman den Roman mit seiner Figuren- und Beziehungsvielfalt, seinen aufregenden Intrigen und Ereignissen entfaltet. Die Seele außerhalb des Körpers, etwa in einem Ei, aufzubewahren ist für einen Märchenriesen hoch gefährlich, denn so könnte man sein Leben mit einem Handgriff vernichten. Bei der kleinen Heldin Lyra ist das nicht ganz so leicht, aber die Gefahr, daß die nach außen verlagerte Beziehung zwischen Mensch und Dämon Experimentierfeld von Herrschaft und Gewalt wird, ist nicht geringer. Um die furchtbarste aller Zerreißproben, die Menschen einander antun können, geht es im "Goldenen Kompaß".
Die Erzählung folgt dem Muster der phantastischen Abenteuerreise auf der Suche nach einem hohen Gut. In diesem Fall gilt es, entführte Kinder wiederzufinden, irgendwo in der nördlichen Polarregion. Die Reise beginnt in Oxford mit seinen Colleges und akademischen Ritualen. Die Gesellschaft ist ähnlich strukturiert und technisch ausgestattet wie unsere, etwas altmodischer vielleicht. Eine mächtige christliche Kirche erinnert an Zeiten der Inquisition. Theologie und Naturwissenschaft sind eine Koalition eingegangen, die beiden die Herrschaft sichert. Pullmans Buch regt dazu an, aus den verschiedenen kulturgeschichtlichen Anspielungen das geistige Bild der phantastischen Welt zu konstruieren und es auf unsere zu beziehen. Der Autor prunkt aber nicht mit Bildungsreminiszenzen, und der spannende Handlungsverlauf mit Lyra als der Herrin des Abenteuers erlaubt auch eine naive Lektüre. Mag dabei manches dunkel bleiben - es gibt starke Bilder und eindrucksvolle Gestalten genug, die Kinder ab zehn Jahren zu fesseln vermögen.
Neben den Menschen verschiedener sozialer Herkunft und Kultur treten Wesen auf, die wir aus Märchen und Sagen kennen, Hexen, sprechende Bären und allerlei Ungeheuer am Rand des Geschehens. Die Motive und Themen stammen aus dem Fundus der phantastischen Literatur: die Realität mehrerer Welten, der Kampf zwischen Gut und Böse, das hilfreiche magische Requisit, hier nicht ohne Witz eine Kombination aus barockem Emblembuch und Mini-Computer. Der Mythos vom unschuldigen, seiner Sendung selbst nicht bewußten Kind, von dem man die Rettung der Welt erhofft, gehört seit der Romantik zum theologisch inspirierten phantastischen Genre. Hier ist das Kind ein Mädchen mit Zügen von Alice und Pippi, eine jüngere Schwester der roten Zora.
Die Elemente sind vertraut, aber Pullman kombiniert sie reizvoll und gibt ihnen überraschende Wendungen und Deutungen. Lakonisch verschmilzt er das Wunderbare mit dem Gewöhnlichen: "Die Hexen hatten in der Stadt ein Konsulat." Die Positionen von Gut und Böse sind nicht festgeschrieben. Ist der Oxforder Rektor ein intriganter Giftmischer oder ein treuer Verwalter anvertrauten Gutes? Ist Lord Asriel ein strenger, aber guter Onkel, ein großer aufklärerischer Forscher, Entdecker und Opfer kirchlicher Orthodoxie? Solche Ambivalenz wird den Frauen nicht zugestanden. Keinen Augenblick zweifeln wir an der Kaltherzigkeit von Asriels Mit- und Gegenspielerin, so wenig wie an der Redlichkeit der Hexenkönigin Serafina. Die Eindimensionalität der Frauenfiguren ist eine Schwäche, die Pullman mit prominenten Autoren des phantastischen Genres teilt. Sie verführt ihn zu einem in den Kitsch abgleitenden Schlußtableau, dessen effektvoll ausgeleuchtete erotische Szene die Frau als gescheiterte Ehrgeizige zeigt, dazu als "selig und halb ohnmächtig" hingegeben dem Zugriff des Mannes. Und doch überrascht am Ende noch eine unerwartete Wendung, die Arbeitshypothese für die nächsten Abenteuer Lyras und ihres unerschrockenen Dämons: Es könne der Kindheitsmythos von der paradiesischen Überlegenheit der Unschuld und vom Sündenfall eine zweifelhafte Erfindung der Erwachsenen sein. Mit dieser Frage, die nicht nur Traditionen des phantastischen Genres, sondern auch fixe Ideen unserer eigenen Gesellschaft zur Disposition stellt, entläßt uns der Autor und verspricht: Fortsetzung folgt. GUNDEL MATTENKLOTT
Philip Pullman: "Der goldene Kompaß". Aus dem Englischen übers. von Wolfram Ströle und Andrea Kann. Carlsen Verlag, Hamburg 1996. 440 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philip Pullmans Fantasy-Roman vom goldenen Kompaß
Nach der Lektüre ertappte ich mich dabei, die Menschen meiner Umgebung darauf hin zu mustern, wie denn ihr Dämon aussehen könnte. Es hätte mich kaum gewundert, wenn sich eine Schlange um den Hals eines Kollegen geringelt hätte und wenn ein anderer mit einem hübschen, sauberen Stinktier zusammen aufgetreten wäre. Aber unsere Welt ist der im ersten Band von Philip Pullmans Trilogie nicht gleich, nur ähnlich, und uns fehlt, was ihren Menschen wesentlich zugehört: der sprach-und handlungsfähige Dämon als tiergestaltige Verkörperung der Seele, des Schicksals oder was immer es ist, was uns einzigartig macht und dem wir nie entfliehen können. Goethe nannte es "Daimon": "Geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Die Dämonen der Kinder sind in ihrer Gestalt noch nicht festgelegt. Ihr lustvolles und für Abenteuer, Geheimnisse und kleine Spionagen nützliches Verwandlungsspiel hat ein Ende, wenn der Mensch erwachsen wird. Der Dämon nimmt dann seine endgültige Gestalt an, die zeigt, "was für ein Mensch man ist". Diese Festlegung ist in der Geschichte von Adam und Eva, wie sie Pullman überliefert, die Folge ihres Ungehorsams: Als sie von der verbotenen Frucht essen, erkennen sie die wahre Gestalt ihrer Dämonen. Mit der Erkenntnis kommen Sünde, Scham und Tod in die Welt.
Die Verkörperung des Dämon ist eine produktive Idee, aus der Pullman den Roman mit seiner Figuren- und Beziehungsvielfalt, seinen aufregenden Intrigen und Ereignissen entfaltet. Die Seele außerhalb des Körpers, etwa in einem Ei, aufzubewahren ist für einen Märchenriesen hoch gefährlich, denn so könnte man sein Leben mit einem Handgriff vernichten. Bei der kleinen Heldin Lyra ist das nicht ganz so leicht, aber die Gefahr, daß die nach außen verlagerte Beziehung zwischen Mensch und Dämon Experimentierfeld von Herrschaft und Gewalt wird, ist nicht geringer. Um die furchtbarste aller Zerreißproben, die Menschen einander antun können, geht es im "Goldenen Kompaß".
Die Erzählung folgt dem Muster der phantastischen Abenteuerreise auf der Suche nach einem hohen Gut. In diesem Fall gilt es, entführte Kinder wiederzufinden, irgendwo in der nördlichen Polarregion. Die Reise beginnt in Oxford mit seinen Colleges und akademischen Ritualen. Die Gesellschaft ist ähnlich strukturiert und technisch ausgestattet wie unsere, etwas altmodischer vielleicht. Eine mächtige christliche Kirche erinnert an Zeiten der Inquisition. Theologie und Naturwissenschaft sind eine Koalition eingegangen, die beiden die Herrschaft sichert. Pullmans Buch regt dazu an, aus den verschiedenen kulturgeschichtlichen Anspielungen das geistige Bild der phantastischen Welt zu konstruieren und es auf unsere zu beziehen. Der Autor prunkt aber nicht mit Bildungsreminiszenzen, und der spannende Handlungsverlauf mit Lyra als der Herrin des Abenteuers erlaubt auch eine naive Lektüre. Mag dabei manches dunkel bleiben - es gibt starke Bilder und eindrucksvolle Gestalten genug, die Kinder ab zehn Jahren zu fesseln vermögen.
Neben den Menschen verschiedener sozialer Herkunft und Kultur treten Wesen auf, die wir aus Märchen und Sagen kennen, Hexen, sprechende Bären und allerlei Ungeheuer am Rand des Geschehens. Die Motive und Themen stammen aus dem Fundus der phantastischen Literatur: die Realität mehrerer Welten, der Kampf zwischen Gut und Böse, das hilfreiche magische Requisit, hier nicht ohne Witz eine Kombination aus barockem Emblembuch und Mini-Computer. Der Mythos vom unschuldigen, seiner Sendung selbst nicht bewußten Kind, von dem man die Rettung der Welt erhofft, gehört seit der Romantik zum theologisch inspirierten phantastischen Genre. Hier ist das Kind ein Mädchen mit Zügen von Alice und Pippi, eine jüngere Schwester der roten Zora.
Die Elemente sind vertraut, aber Pullman kombiniert sie reizvoll und gibt ihnen überraschende Wendungen und Deutungen. Lakonisch verschmilzt er das Wunderbare mit dem Gewöhnlichen: "Die Hexen hatten in der Stadt ein Konsulat." Die Positionen von Gut und Böse sind nicht festgeschrieben. Ist der Oxforder Rektor ein intriganter Giftmischer oder ein treuer Verwalter anvertrauten Gutes? Ist Lord Asriel ein strenger, aber guter Onkel, ein großer aufklärerischer Forscher, Entdecker und Opfer kirchlicher Orthodoxie? Solche Ambivalenz wird den Frauen nicht zugestanden. Keinen Augenblick zweifeln wir an der Kaltherzigkeit von Asriels Mit- und Gegenspielerin, so wenig wie an der Redlichkeit der Hexenkönigin Serafina. Die Eindimensionalität der Frauenfiguren ist eine Schwäche, die Pullman mit prominenten Autoren des phantastischen Genres teilt. Sie verführt ihn zu einem in den Kitsch abgleitenden Schlußtableau, dessen effektvoll ausgeleuchtete erotische Szene die Frau als gescheiterte Ehrgeizige zeigt, dazu als "selig und halb ohnmächtig" hingegeben dem Zugriff des Mannes. Und doch überrascht am Ende noch eine unerwartete Wendung, die Arbeitshypothese für die nächsten Abenteuer Lyras und ihres unerschrockenen Dämons: Es könne der Kindheitsmythos von der paradiesischen Überlegenheit der Unschuld und vom Sündenfall eine zweifelhafte Erfindung der Erwachsenen sein. Mit dieser Frage, die nicht nur Traditionen des phantastischen Genres, sondern auch fixe Ideen unserer eigenen Gesellschaft zur Disposition stellt, entläßt uns der Autor und verspricht: Fortsetzung folgt. GUNDEL MATTENKLOTT
Philip Pullman: "Der goldene Kompaß". Aus dem Englischen übers. von Wolfram Ströle und Andrea Kann. Carlsen Verlag, Hamburg 1996. 440 S., geb., 39,90 DM.
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