Produktdetails
- Verlag: DHV Der HörVerlag
- Anzahl: 2 Audio CDs
- Erscheinungstermin: 1. Januar 2001
- ISBN-13: 9783895845529
- Artikelnr.: 10107714
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.06.2009Ein scheues Reh mit Bügelfalte
Hermann Kurzke porträtiert Thomas Mann als Literaturbeamten
Den Roman „Lotte in Weimar” eröffnet Thomas Mann mit einer Szene, die das Verhältnis von Leben und Werk eines Dichters thematisiert. Im Hotel „Zum Elefanten” in Weimar empfängt der Kellner Mager, ein leidenschaftlicher Verehrer und Leser Goethes, die Hofrätin Kestner, eine dreiundsechzigjährige Dame, die als Vorbild der Lotte in den „Leiden des jungen Werthers” berühmt wurde. Charlotte Kestner ist verstört von so viel Verehrung, vor allem, da sie in der literarischen Figur so wenig von sich selbst zu entdecken vermag. Diese Konstellation dient Thomas Mann dazu zu zeigen, wie unvergleichlich eine lebende Person und eine literarische Figur sind. Ehe noch Thomas Mann mit dieser Szene den Roman beginnt, setzt er also ein ironisches Fragezeichen vor die Gleichung Literatur und Leben.
Auch Thomas Manns eigenem Leben und Werk ist solche Gleichsetzung oft genug widerfahren, und der Germanist Hermann Kurzke hat daran keinen geringen Anteil. Kurzkes Monographien über Thomas Mann – mit dem eben erschienenen neuesten „Porträt für seine Leser” sind es drei einander ähnelnde Bücher – stellen offenbare Lebensumstände wie verborgene Wunschträume des Schriftstellers dar und bilden sie auf Figuren, Szenen, Themen seiner Romane ab.
Die Ausbeutung des Lebens
Diese älteste und schlichteste aller literaturhistorischen Methoden, die biographische Erläuterung des Werks, forciert Kurzke in seinem neuen Buch noch einmal, und zwar nicht ohne Bedacht, soll es doch diesmal ein Porträt des Autors ausdrücklich „für seine Leser” sein, mit deren Neugier Kurzke durchaus rechnen darf. „Das Herz lag ihm nicht auf der Zunge”, sagt der Biograph über den Autor, der gleichwohl sein Leben ausgiebig genug dokumentiert hat, und leitet daraus die Verpflichtung ab, hinter die honette bürgerliche Fassade zu schauen. In einem poetisch gehöhten Stil, der sich im Fortgang des Buches gottlob verliert, bezeichnet Kurzke Thomas Mann als „personifizierte Bügelfalte”, die gleichwohl im Innersten ein „scheues Reh” sei, und stellt ihn als einen Menschen dar, der „seinem Leben einen so überkorrekten Anstrich” geben musste, weil dahinter „Abgründe von Leidenschaften” verborgen waren.
Es ist nicht schwer, aus Tagebüchern und Notizheften Thomas Manns Alltag zu erfahren. Kurzke ist unermüdlich darin, dort nach Anspielungen auf das Werk zu suchen. Auch noch das kleinste Detail ist ihm wichtig genug, die poetische Inspiration von Lebensumständen abzuleiten; so etwa spiegelt sich Thomas Manns Zigarren- und Zigarettenkonsum in der entsprechenden Passion Hans Castorps im „Zauberberg”. „Lebensausbeutung” nennt Kurzke diese literarische Taktik Thomas Manns – und sie rechtfertigt auch Kurzkes eigene biographische Methode.
Die detektivische Aufmerksamkeit des Biographen beschäftigt sich vorwiegend, und sicherlich sehr zum Vergnügen des Lesers, mit den „Gefühlsabenteuern” im Leben des Dichters. Kurzke richtet sein Augenmerk vor allem auf die homoerotische Disposition Thomas Manns, die seit längerem kein Geheimnis mehr ist. Auch Heinrich Detering und Michael Maar haben sie als verborgenes, aber tragendes Motiv der Romankonstruktion analysiert. Im mittleren Teil seiner Biographie erstellt Kurzke eine Liste mit zwölf Personen, umschwärmte Jünglingen zumeist, deren Abglanz er dann in den Werken des Autors ausfindig zu machen sucht.
Die Qualität einer Biographie, die das Bild eines Autors aus kleinen Mosaiksteinen zusammensetzt, liegt in der Farbenvielfalt der Teile. Kurzkes erste, große Biographie „Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk” (1999) fesselte deshalb durch immer neue Eröffnungen seltsamer Lebensumstände. In der Kurzfassung, die er nun „für den Leser” vorlegt, bändigt Kurzke sein Wissen und schneidet es ganz auf die Interpretation der Werke zu. Die Ordnung der einzelnen Kapitel folgt daher nicht dem Leben, sondern einer Chronologie der Werke, sie beginnt mit der Erzählung „Tonio Kröger” (1903) und endet mit dem früh begonnenen, aber erst 1954 vollendeten Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull”.
Das Brevier des Lesers
Zum Teil leiten literaturwissenschaftliche Begriffe die Einteilung der Werkanalysen in Unterkapitel, etwa „Inspiration”, „Schreibtechnik”, „Lesetechnik”, „Leitmotiv”, „lange Sätze”. Daneben versprechen amüsantere Titel dem Laien unter den Thomas Mann-Lesern Nachrichten aus einem Leben, das seinem Tages- und Lebenslauf nicht so fern steht wie die Kunst des Schreibens: „Süßer Schlaf”, „Telefon”, „Ehrgeiz”, „Zigarre”, „Gott”, „Slums”, „Süßer Tod”. Diese Abschnitte, alle etwa zwei bis drei Seiten lang, ließen sich als Teile eines Breviers für eine tägliche Thomas Mann-Andacht auswählen.
Kurzke aber ist nicht nur Causeur, er nimmt den Dienst an seinem Autor ernst und hängt deshalb seiner kleinen, in unterhaltsame Kapitelchen gegliederten Biographie einen minutiösen chronologischen Abriss an. So tritt denn schließlich hinter dem erzählfreudigen Biographen jener „Literaturbeamte” hervor, den Kurzke auch in Thomas Mann selbst erkennt. Beide zusammen ergeben „für den Leser” eine Autorität, die ihm ein vertrauenswürdige Lektüre vorgelegt hat.
HANNELORE SCHLAFFER
HERMANN KURZKE: Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser. C. H. Beck Verlag, München 2009. 250 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Hermann Kurzke porträtiert Thomas Mann als Literaturbeamten
Den Roman „Lotte in Weimar” eröffnet Thomas Mann mit einer Szene, die das Verhältnis von Leben und Werk eines Dichters thematisiert. Im Hotel „Zum Elefanten” in Weimar empfängt der Kellner Mager, ein leidenschaftlicher Verehrer und Leser Goethes, die Hofrätin Kestner, eine dreiundsechzigjährige Dame, die als Vorbild der Lotte in den „Leiden des jungen Werthers” berühmt wurde. Charlotte Kestner ist verstört von so viel Verehrung, vor allem, da sie in der literarischen Figur so wenig von sich selbst zu entdecken vermag. Diese Konstellation dient Thomas Mann dazu zu zeigen, wie unvergleichlich eine lebende Person und eine literarische Figur sind. Ehe noch Thomas Mann mit dieser Szene den Roman beginnt, setzt er also ein ironisches Fragezeichen vor die Gleichung Literatur und Leben.
Auch Thomas Manns eigenem Leben und Werk ist solche Gleichsetzung oft genug widerfahren, und der Germanist Hermann Kurzke hat daran keinen geringen Anteil. Kurzkes Monographien über Thomas Mann – mit dem eben erschienenen neuesten „Porträt für seine Leser” sind es drei einander ähnelnde Bücher – stellen offenbare Lebensumstände wie verborgene Wunschträume des Schriftstellers dar und bilden sie auf Figuren, Szenen, Themen seiner Romane ab.
Die Ausbeutung des Lebens
Diese älteste und schlichteste aller literaturhistorischen Methoden, die biographische Erläuterung des Werks, forciert Kurzke in seinem neuen Buch noch einmal, und zwar nicht ohne Bedacht, soll es doch diesmal ein Porträt des Autors ausdrücklich „für seine Leser” sein, mit deren Neugier Kurzke durchaus rechnen darf. „Das Herz lag ihm nicht auf der Zunge”, sagt der Biograph über den Autor, der gleichwohl sein Leben ausgiebig genug dokumentiert hat, und leitet daraus die Verpflichtung ab, hinter die honette bürgerliche Fassade zu schauen. In einem poetisch gehöhten Stil, der sich im Fortgang des Buches gottlob verliert, bezeichnet Kurzke Thomas Mann als „personifizierte Bügelfalte”, die gleichwohl im Innersten ein „scheues Reh” sei, und stellt ihn als einen Menschen dar, der „seinem Leben einen so überkorrekten Anstrich” geben musste, weil dahinter „Abgründe von Leidenschaften” verborgen waren.
Es ist nicht schwer, aus Tagebüchern und Notizheften Thomas Manns Alltag zu erfahren. Kurzke ist unermüdlich darin, dort nach Anspielungen auf das Werk zu suchen. Auch noch das kleinste Detail ist ihm wichtig genug, die poetische Inspiration von Lebensumständen abzuleiten; so etwa spiegelt sich Thomas Manns Zigarren- und Zigarettenkonsum in der entsprechenden Passion Hans Castorps im „Zauberberg”. „Lebensausbeutung” nennt Kurzke diese literarische Taktik Thomas Manns – und sie rechtfertigt auch Kurzkes eigene biographische Methode.
Die detektivische Aufmerksamkeit des Biographen beschäftigt sich vorwiegend, und sicherlich sehr zum Vergnügen des Lesers, mit den „Gefühlsabenteuern” im Leben des Dichters. Kurzke richtet sein Augenmerk vor allem auf die homoerotische Disposition Thomas Manns, die seit längerem kein Geheimnis mehr ist. Auch Heinrich Detering und Michael Maar haben sie als verborgenes, aber tragendes Motiv der Romankonstruktion analysiert. Im mittleren Teil seiner Biographie erstellt Kurzke eine Liste mit zwölf Personen, umschwärmte Jünglingen zumeist, deren Abglanz er dann in den Werken des Autors ausfindig zu machen sucht.
Die Qualität einer Biographie, die das Bild eines Autors aus kleinen Mosaiksteinen zusammensetzt, liegt in der Farbenvielfalt der Teile. Kurzkes erste, große Biographie „Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk” (1999) fesselte deshalb durch immer neue Eröffnungen seltsamer Lebensumstände. In der Kurzfassung, die er nun „für den Leser” vorlegt, bändigt Kurzke sein Wissen und schneidet es ganz auf die Interpretation der Werke zu. Die Ordnung der einzelnen Kapitel folgt daher nicht dem Leben, sondern einer Chronologie der Werke, sie beginnt mit der Erzählung „Tonio Kröger” (1903) und endet mit dem früh begonnenen, aber erst 1954 vollendeten Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull”.
Das Brevier des Lesers
Zum Teil leiten literaturwissenschaftliche Begriffe die Einteilung der Werkanalysen in Unterkapitel, etwa „Inspiration”, „Schreibtechnik”, „Lesetechnik”, „Leitmotiv”, „lange Sätze”. Daneben versprechen amüsantere Titel dem Laien unter den Thomas Mann-Lesern Nachrichten aus einem Leben, das seinem Tages- und Lebenslauf nicht so fern steht wie die Kunst des Schreibens: „Süßer Schlaf”, „Telefon”, „Ehrgeiz”, „Zigarre”, „Gott”, „Slums”, „Süßer Tod”. Diese Abschnitte, alle etwa zwei bis drei Seiten lang, ließen sich als Teile eines Breviers für eine tägliche Thomas Mann-Andacht auswählen.
Kurzke aber ist nicht nur Causeur, er nimmt den Dienst an seinem Autor ernst und hängt deshalb seiner kleinen, in unterhaltsame Kapitelchen gegliederten Biographie einen minutiösen chronologischen Abriss an. So tritt denn schließlich hinter dem erzählfreudigen Biographen jener „Literaturbeamte” hervor, den Kurzke auch in Thomas Mann selbst erkennt. Beide zusammen ergeben „für den Leser” eine Autorität, die ihm ein vertrauenswürdige Lektüre vorgelegt hat.
HANNELORE SCHLAFFER
HERMANN KURZKE: Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser. C. H. Beck Verlag, München 2009. 250 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2002Man spürt nichts als Kultur
Blüthenzweig und Co.: Die Juden im Werk Thomas Manns - Eine Bestandsaufnahme vor der Tagung der Thomas-Mann-Gesellschaft / Von Wolfgang Schneider
Im Juli 1919 reist Thomas Mann mit dem Zug nach Berlin. Das Abteil erster Klasse teilt er mit einem Ehepaar; umgängliche Leute. "Konversierte wiederholt mit ihnen", heißt es im Tagebuch. Aber er hält nicht nur freundliche Eindrücke fest: "Während der ersten Hälfte des Tages war ich mit einem jüdischen Ehepaar allein, dessen weibliche Hälfte wohl das Abscheulichste an ,Weib' darstellte, was mir erdenklich, fett und kurzbeinig zum Erbrechen, krummnasig mit bleichem, sinnlich-melancholischem Gesicht, penetrant parfümiert . . . Die Juden aßen beständig, . . . kauften von allem, was angeboten wurde, trotz fetter Vorräte. Sinnlich." Das klingt nach antisemitischen Stereotypen. Zum Typus gehören auch die Melancholie und die wiederholt festgestellte Sinnlichkeit. Das pausenlose Essen wird notiert, weil Thomas Mann es offenbar für charakteristisch hält, ebenso wie die indezente Körperlichkeit.
Immer wieder betont Thomas Mann auch bei der Darstellung jüdischer Figuren die niedere Sinnlichkeit, das Riechen und Schmecken. In der frühen Novelle "Gladius Dei" gibt es einen Kunsthändler namens M. Blüthenzweig. Obwohl er doch qua Profession für das Verfeinerte zuständig ist, wird zusammen mit dem physiognomischen Stigma der jüdischen Nase seine animalische Sensitivität hervorgekehrt: "Seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe, so daß er beständig mit einem leicht fauchenden Geräusch in seinen Schnurrbart schnüffelte. Manchmal näherte er sich dabei dem Käufer in gebückter Haltung, als beröche er ihn." Diese Nase ist ein Geld-Detektor: "Herr Blüthenzweig beroch ihn kurz, als wollte er den Grad seiner Kauffähigkeit erkunden."
Die Kunsthandlung bezeichnet der Erzähler bewußt zweideutig als "Schönheitsgeschäft". Der Übergang zwischen Kunstgewerbe und Pornographie soll fließend sein, wie die Begutachtung eines Kunden beweist: "Die ziere Gestalt eines nackten kleinen Mädchens, welche, unreif und zart gegliedert, ihre Händchen in koketter Keuschheit auf der Brust kreuzte, hielt er am Kopfe erfaßt und musterte sie eingehend . . . Herr Blüthenzweig . . . bewegte sich händereibend um ihn herum, indem er das kleine Mädchen mit allen Vokabeln pries, deren er habhaft werden konnte." Nein, es handelt sich nicht um Kinderprostitution und Mädchenhandel, sondern um eine Bronzestatuette. Aber die Erzählung spielt mit derartigen Assoziationen.
Der Literaturwissenschaftler Yahya Elsaghe attestiert der Novelle "faustdicken Antisemitismus". Der Thomas-Mann-Forschung warf er eine "entspannte Haltung" zu Problemen des Rassismus sowie eine affirmative Rezeptionshaltung vor, die das "Boshafte und Bösartige der Texte systematisch ausspart". Elsaghe untersucht die Werke auf kollektive Vorstellungen, die sich möglicherweise auch gegen die bewußte Autorintention durchsetzen - insbesondere antisemitische Stereotypen bei erklärtermaßen philosemitischer Einstellung.
So verliert manches Detail plötzlich seine Harmlosigkeit. Etwa jene "Füße von seltenem Umfange", die dem unproduktiven Schriftsteller und Schönheitsmenschen Detlev Spinell in der berühmten Novelle "Tristan" zu eigen sind. Nicht nur der Edelstein-Name, sondern auch die "ein wenig zu fleischige" Nase und der ironisch mitgeteilte Geburtsort ("bloß aus Lemberg") kennzeichnen die Figur als Juden, und so mögen auch die großen Füße eine Reminiszenz des "jüdischen Plattfußes" sein, der seinerzeit zur militärischen Diskriminierung jüdischer Männer herhalten mußte. Wenn Dr. Leander - der jüdische Oberarzt des Sanatoriums, das dem dekadenten Schriftsteller zur Heimat geworden ist - einen Bart trägt, "der hart und kraus ist wie das Roßhaar, mit dem man die Möbel stopft", dann liegt für Elsaghe hier mehr als nur ein Beispiel für die übliche "Vertierung" in der Darstellung von Juden vor. Es sei zugleich eine "unheimliche Antizipation der materiellen Verwertung jüdischer Menschen einige Jahrzehnte später", in Auschwitz. Die beklagte Ignoranz der Thomas-Mann-Experten ersetzt Elsaghe durch den geschärften Blick eines literaturwissenschaftlichen Rassismusbeauftragten.
Mit etwas weniger Entlarvungsehrgeiz hat Rolf Thiede an den "Buddenbrooks" Symptome des Antisemitismus festgestellt. Wenn es mit einem "deutschen" Unternehmen bergab ging, wurde gerne der skrupellosen jüdischen Konkurrenz die Schuld gegeben. Der Roman Thomas Manns scheint dieser Rollenverteilung zu entsprechen. Die mit den Buddenbrooks rivalisierende Familie sollte zunächst Cohn heißen; aber auch der Name Hagenström, der zur Götterdämmerungs-Motivik des Romans gehört, ist deutlich genug. Je mehr der Drachentöter Siegfried in völkisch-wagnerianischer Deutung zum Urbild des germanischen Menschen wurde, desto mehr verdunkelte sich das Bild seines Meuchelmörders Hagen: Er wurde zur Verkörperung alles Fremden. In Wagners Dichotomie rückt er ein in die Position des Juden. Hagens Vater Alberich, der die Liebe verflucht und zum unerbittlichen Goldraffer wird, nachdem die Rheintöchter seine "Lust" verhöhnt haben, wurde von Adorno als Judenkarikatur gedeutet.
Im Roman sind Hagenströms die Prototypen jener Aufsteiger, die über etablierte Traditionen hinweg zu Reichtum und Macht streben. Das Jüdische der Familie steht außer Zweifel: "Ihr Vater, Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Ort ansässig war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß." Die mangelnde Ortsgebundenheit, das "tierische" Haar, der indezente Schmuck und schließlich der Name (ein "Sem-ling" ist ein "Semit") - die Stereotypen sind eigentlich nicht zu übersehen. Von Tony Buddenbrook wird diese Frau bei Gelegenheit abfällig "Sara Semlinger" genannt, worauf die Konsulin entgegnet: "Sie heißt übrigens Laura, mein Kind, man muß gerecht sein." Der Hagenström-Sohn, der später als "imposanter Börsentypus" zum erfolgreichen Gegenspieler Thomas Buddenbrooks werden wird, hat die charakteristischen physiognomischen Merkmale: "Hermann war blond, aber seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe. Auch schmatzte er beständig mit den Lippen, denn er atmete nur durch den Mund." Hermanns orale Begehrlichkeit (ähnlich ausgeprägt wie bei der Dame im Zug) drückt sich nicht nur in seiner Gefräßigkeit aus. Berühmt ist die Kinderszene, in der er von Tony Buddenbrook einen Kuß für seine Gänsebrustsemmel eintauschen will - Körperlust gegen Ware. Der Erzähler läßt ihn den Leckerbissen zweideutig als "das pure Fleisch" anpreisen. "Oversexed", schon in jungen Jahren. Demnach wäre in der heiteren Episode ein übles antisemitisches Klischee zu entdecken.
Tonys krankhafter Haß auf das "Geschmeiß" und die "hergelaufene Familie" hat rassistische Untertöne. Allerdings vertritt Tony nicht die Meinung des Autors. Jeder Leser des Buches weiß, daß ihrer Sicht der Dinge am wenigsten zu trauen ist. Die antisemitischen Motive, die der Roman enthält, sind ebenso mit den Vorzeichen von Komik und Ironie versehen wie all die anderen Klischees, mit denen Thomas Mann zu arbeiten liebte. Und die Buddenbrooks gehen nicht an der "jüdischen" Konkurrenz zugrunde, sondern an ihrer eigenen Dekadenz und Verfeinerung. Thiede und Elsaghe gelingt es zwar, übersehene historische Kontexte zurückzugewinnen, aber die Kontexte der Erzählungen und Romane selbst werden dabei des öfteren aus den Augen verloren. Vor allem in seinen frühen Werken hat Thomas Mann die Nebenfiguren fast durchgehend als Karikaturen gestaltet. Ob Nationalitäten, Berufsbilder oder gesellschaftliche Klassen - er scheute vor keinem Stereotyp zurück. Der Typisierung verdankt sich nicht zuletzt die Plastizität seiner Gestalten.
Hier die Darstellung von Juden zu isolieren führt zu verzerrten Einschätzungen. Christian und Tony Buddenbrook werden kaum weniger "diskreditiert" als die Hagenströms. Im "Tristan" ist die Gegenfigur zu Spinell, der dröhnend bornierte Kaufmann Klöterjahn, noch lächerlicher als der jüdische Schriftsteller, und in "Gladius Dei" ist die gröbste Karikatur nicht der Kunsthändler Blüthenzweig, sondern der Urbayer Krauthuber. Auch die Nase von Dr. Sammet in "Königliche Hoheit" (1909) fällt "zu flach auf den Schnurrbart ab". Diese Figur ist deshalb interessant, weil Thomas Mann - seit kurzem mit einer Jüdin verheiratet - sich hier erstmals an einer explizit philosemitischen Argumentation versucht. Im Roman erkundigt sich ein Repräsentant des Königshauses nicht ohne Herablassung bei dem jüdischen Arzt, ob dieser seine Herkunft je als Hindernis empfunden habe. Ganz im Gegenteil, versichert Dr. Sammet, man sei gegen die "regelrechte und darum bequeme Mehrzahl" nicht im Nachteil, wenn man "eine Veranlassung mehr zu ungewöhnlichen Leistungen" habe. So wird Diskriminierung zum Vorteil umgebogen. Die Stigmatisierung soll zugleich eine Auszeichnung sein. Immerhin: wie die aristokratische Repräsentationsexistenz wird für Thomas Mann nun auch der aus dem sozialen Normalmaß fallende Jude zur Parallelgestalt des Künstlers, geprägt von ähnlichen Außenseitergefühlen. Das ist schön gemeint; der heutige Leser wundert sich trotzdem darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit das Judesein mit der körperlichen Mißbildung des Thronfolgers gleichgesetzt wird.
Dem realen Vorbild von Dr. Sammet, dem jüdischen Arzt Maurice Hutzler, hat im übrigen aller Leistungswille nichts genutzt. Er beging Selbstmord nach einer vermeintlichen Verfehlung, die mit einem Berufsverbot geahndet wurde - der Antisemitismus ist bei dem Vorgang nicht zu übersehen. Dieses Schicksal hätte die Leistungsethik der Romanfigur durchkreuzt, und so bringt sich Dr. Sammet nach dem Willen seines Autors nicht um, sondern bekommt für seine Verdienste das "Albrechtskreuz" verliehen, wenn auch nur "dritter Klasse". Den Selbstmord hat Thomas Mann an anderer Stelle verwertet. Die Parallelgestalt zu Sammet, der Erzieher Dr. Raoul Überbein, erschießt sich aus gekränktem Ehrgeiz. Damit steht das Motiv allerdings nicht mehr in Zusammenhang mit der antisemitischen Diskriminierung, was Elsaghe als zynische Verharmlosung wertet. Indes hatte Thomas Mann keinen Reportage-Roman über den Fall Hutzler beabsichtigt.
Ganz ähnlich wie Sammet hat er 1907 auf eine Umfrage "Zur Lösung der Judenfrage" geantwortet, indem er Voltaire zitierte: "Übrigens ist es nicht schlecht, wenn man einen Fehler gutzumachen hat. Es verpflichtet zu großen Anstrengungen." Erst recht die anschließende, durchaus projüdisch gemeinte Argumentation liest sich heute wie eine groteske Entgleisung: "Es besteht schlechterdings keine Notwendigkeit, daß der Jude immer einen Fettbuckel, krumme Beine und rote, mauschelnde Hände behalte, ein leidvoll-unverschämtes Wesen zur Schau trage und im ganzen einen fremdartig schmierigen Aspekt gewähre. Im Gegenteil: Der Typus des Juden, ,wie er im Buche steht', des fremden, physisch antipathischen Tschandala ist eigentlich schon recht selten geworden, und unter dem wirtschaftlich bevorzugten Judentum gibt es heute schon junge Leute, die . . . einen Grad von Wohlgeratenheit, Eleganz und Appetitlichkeit und Körperkultur darstellen, der jedem germanischen Mägdlein oder Jüngling den Gedanken einer ,Mischehe' recht leidlich erscheinen lassen muß."
Daß ein mit einer Jüdin verheirateter Kulturträger dergleichen in guter Absicht schreiben konnte, läßt auf das Ausmaß von selbstverständlichem Antisemitismus im deutschen Alltag rückschließen. Im Streit mit den Kritikern Alfred Kerr und Theodor Lessing hat Thomas Mann gelegentlich noch gehässigere Töne produziert. Darüber ist viel diskutiert worden; oft wurde vergessen, daß Thomas Mann zuvor von Kerr und Lessing mit einem kaum nachvollziehbaren Haß und Willen zur persönlichen Beleidigung attackiert worden war. Beide Seiten scheinen sich in ihrer verbalen Vehemenz um eine Neuauflage der Heine-Platen-Kontroverse bemüht zu haben. Während Elsaghe bei seiner Rekonstruktion des rassistischen Diskurses um 1900 die Moral des Jahres 2000 geltend macht, vertritt Kurzke die Auffassung, daß die damals entstandenen Texte nicht mit den Wertungen und dem Sprachgefühl von heute kritisiert werden sollten. Bei ihm verflüchtigt sich das Problem allerdings ins Philosophische: "In Thomas Manns vermeintlichem Antisemitismus steckt als Kern die Angst vor der Bedrohung des Lebens durch den Geist." Kurzke läßt keinen Zweifel, wo man den Schriftsteller einzuordnen habe: "Ein Philosemit."
Zu skeptischeren Schlüssen kommt Thomas Klugkist in seiner monumentalen Thomas-Mann-Deutung "Sehnsuchtskosmogonie". Die psychologisierende Sympathie mit den Juden sei weit entfernt von einer vorurteilsfreien Sichtweise, denn der hochrespektable Vertreter des Judentums hebe sich immer nur singulär von dessen "häßlicher" Erscheinung ab und erfülle auch dann nichts weiter als das positive Stereotyp außergewöhnlicher Geistigkeit und Kultiviertheit. Am Ende seiner Sublimierungskarriere ist der Jude kein Jude mehr. Der von Kurzke sehr freundlich interpretierte Satz, mit dem Thomas Mann den ersten Eindruck von der Familie seiner späteren Frau festhielt, ist der beste Beleg dafür: "Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur."
Als die Assimilation im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts fortschritt, änderte sich die Taktik des Antisemitismus. Jüdische Andersartigkeit sollte sich nicht länger in Sprache, Kultur und Habitus manifestieren, sondern rassenbiologisch; die Symptome verlagerten sich nach innen. Auch wenn Thomas Mann, dankbar für alles typologische Material, bis in seine letzten Werke an gewissen "pittoresken" Zügen und Klischees des Jüdischen festhielt - als öffentlicher Redner und Publizist übte er seit Anfang der zwanziger Jahre kompromißlose Kritik an der Rassenideologie. Immer wieder fand er klare Worte für das "Rassengefasel" mit seiner "Groschenwissenschaftlichkeit": "rassischer Pöbelmythus", "idiotische Rassentheorie", "Not-Aristokratismus kleiner, sehr kleiner Leute", "blöde Überheblichkeit", "vollendete Niedertracht", um nur einige zu nennen. Während selbst führende Nazis sich nach 1945 darauf hinausredeten, leider von nichts gewußt zu haben, sprach der kalifornische Emigrant in seiner regelmäßigen BBC-Sendung schon wenige Tage nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 über die "Probevergasung" von 500 holländischen Juden. Die Details von Thomas Manns praktiziertem "Anti-Antisemitismus" sind bei Kurzke nachzulesen.
Auch das literarische Werk bezog Stellung. Ungefähr so lange, wie das Nazi-Regime dauerte, schrieb Thomas Mann an der Romantetralogie "Joseph und seine Brüder". Eine eindrucksvolle Koinzidenz: Während die Nazis die Juden aus der Geschichte streichen wollten, versenkte sich der angesehenste Schriftsteller Deutschlands in die Welt des Alten Testaments und verlebendigte sie mit den Mitteln des modernen Romans. Die Romankomödie "Lotte in Weimar" hat ebenfalls direkte zeitpolitische Bezüge. Im nicht lange nach der "Reichskristallnacht" geschriebenen achten Kapitel unterhält Goethe seine Tischgäste mit der ausführlichen Erzählung eines spätmittelalterlichen Judenpogroms, der "Blutnacht" von Eger. Als der mörderische Rausch vorbei ist, verlangt es die Täter nach preiswerter Versöhnung. Der einzige Überlebende des Massakers wird "feierlich als Bürger von Eger" anerkannt. "Als Bürger von Eger! Da war er denn was und fand sich prächtig entschädigt. Er hatte vermutlich Weib und Kinder, sein Hab und Gut, all seine Freunde und Verwandte, seine ganze Gemeinschaft verloren. Nackt und bloß stand er da, war aber nun Bürger von Eger . . ." Der fiktive Goethe gibt im folgenden mit "leicht belustigter Hochachtung" Charakterisierungen der Juden. Eine der Typisierungen läßt aufhorchen: "Die Juden, sagte er, seien pathetisch . . . Das Wort sei hier genau zu verstehen, nämlich im Sinne des Leidens, und das jüdische Pathos eine Leidensemphase . . ." Hier wird deutlich, was Thomas Mann faszinierte. Denn diese den Juden zugeschriebene enge Beziehung zu einer archaischen "Sphäre des Pathos", deren Formeln und Redeweisen mit komischer Außenwirkung gerne auch für die alltägliche Erfahrung in Anspruch genommen werden, findet sich durchgehend auch bei den Figuren der Josephsromane, sie bewirkt den eigenwilligen Humor dieses Werkes.
Mehr oder weniger komisch gebrochene Pathetiker sind fast alle jüdischen Gestalten in Thomas Manns Werk, bis hin zu Chaim Breisacher und Saul Fitelberg im "Doktor Faustus". Beide Figuren haben Kritik auf sich gezogen. Es wurde bemängelt, daß der einzige dargestellte Faschist in diesem Roman des deutschen Verhängnisses ausgerechnet ein Jude sei. Daß es sich bei dem rechtsrevolutionären Salontheoretiker Breisacher um einen Juden handelt, begründet sich jedoch nicht nur mit dem realen Vorbild der Figur, Oskar Goldberg. Da Thomas Mann jüdischen Intellektuellen ein außerordentliches Sensorium für geistig-kulturelle Tendenzen attestierte, hat es seine innere Logik, daß dieser Part im Roman von einem Juden übernommen wird. Breisacher ist kein Sympathieträger, aber ein hochbegabter Zeitgeist-Witterer, ein Mann, der verstanden hat, was die Stunde gleich schlagen wird: reaktionäre Avantgarde. Und noch ein ästhetisches Motiv ist zu nennen: die zunehmende Komplexität der Figurendarstellung Thomas Manns. Er liebte es, Gegensätze zusammenzuzwingen. Schon im "Zauberberg" lebt der programmatisch sinnenfrohe Aufklärer Settembrini enthaltsam in seiner spärlichen Kammer; sein Widersacher Leo Naphta, der jüdische Theoretiker der Askese und des frommen Terrors, ist dagegen luxuriös installiert. Während manche Figuren des Frühwerks an Einsinnigkeit kranken, sind die Gestalten der späten Werke oft widerspruchsvoll bis zum Zerreißen. In diesem Sinn ist ein jüdischer Faschist zwar unter dem Gesichtspunkt des Realismus keineswegs repräsentativ, aber figurenästhetisch sehr viel spannender als ein repräsentativer "deutscher".
Noch mehr erregte der clowneske Musik-Impresario Fitelberg Anstoß. An Agnes E. Meyer schrieb Thomas Mann im September 1948: "Die Besorgnis, die Sie wegen Fitelbergs äußern, hat mir zuerst unser Klaus zu bedenken gegeben, als ich das Kapitel ganz frisch im Familienkreise vorlas. Er meinte, die Figur könnte antisemitisch wirken. Andere, auch Juden, wollten das durchaus nicht zugeben, und wirklich ist Saul ja ein reizender, gescheiter Kerl . . . Freilich ist er nun ein jüdischer Typ; es gibt weiß Gott ernstere und würdigere . . . Aber das ist nun nicht mehr zu ändern. Das Buch hat es so gewollt." Kurzerhand lehnt Thomas Mann jede Verantwortung für seine Figur ab. Dennoch: nachdem er ein Leben lang ohne Skrupel jüdische Figuren geschildert hat, wie es ihm gerade ins Konzept paßte, ist er drei Jahre nach dem Holocaust bei genau jener Bedenklichkeit angekommen (hier vom korrekten Klaus vertreten), die noch und jetzt erst recht die aktuellen Debatten prägt. Das berühmte Diktum von Adorno hätte anders lauten müssen: Nach Auschwitz lassen sich keine "jüdischen Typen" mehr beschreiben - es sei denn von Juden.
Wolfgang Schneider lebt als Publizist und Literaturkritiker in Berlin.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blüthenzweig und Co.: Die Juden im Werk Thomas Manns - Eine Bestandsaufnahme vor der Tagung der Thomas-Mann-Gesellschaft / Von Wolfgang Schneider
Im Juli 1919 reist Thomas Mann mit dem Zug nach Berlin. Das Abteil erster Klasse teilt er mit einem Ehepaar; umgängliche Leute. "Konversierte wiederholt mit ihnen", heißt es im Tagebuch. Aber er hält nicht nur freundliche Eindrücke fest: "Während der ersten Hälfte des Tages war ich mit einem jüdischen Ehepaar allein, dessen weibliche Hälfte wohl das Abscheulichste an ,Weib' darstellte, was mir erdenklich, fett und kurzbeinig zum Erbrechen, krummnasig mit bleichem, sinnlich-melancholischem Gesicht, penetrant parfümiert . . . Die Juden aßen beständig, . . . kauften von allem, was angeboten wurde, trotz fetter Vorräte. Sinnlich." Das klingt nach antisemitischen Stereotypen. Zum Typus gehören auch die Melancholie und die wiederholt festgestellte Sinnlichkeit. Das pausenlose Essen wird notiert, weil Thomas Mann es offenbar für charakteristisch hält, ebenso wie die indezente Körperlichkeit.
Immer wieder betont Thomas Mann auch bei der Darstellung jüdischer Figuren die niedere Sinnlichkeit, das Riechen und Schmecken. In der frühen Novelle "Gladius Dei" gibt es einen Kunsthändler namens M. Blüthenzweig. Obwohl er doch qua Profession für das Verfeinerte zuständig ist, wird zusammen mit dem physiognomischen Stigma der jüdischen Nase seine animalische Sensitivität hervorgekehrt: "Seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe, so daß er beständig mit einem leicht fauchenden Geräusch in seinen Schnurrbart schnüffelte. Manchmal näherte er sich dabei dem Käufer in gebückter Haltung, als beröche er ihn." Diese Nase ist ein Geld-Detektor: "Herr Blüthenzweig beroch ihn kurz, als wollte er den Grad seiner Kauffähigkeit erkunden."
Die Kunsthandlung bezeichnet der Erzähler bewußt zweideutig als "Schönheitsgeschäft". Der Übergang zwischen Kunstgewerbe und Pornographie soll fließend sein, wie die Begutachtung eines Kunden beweist: "Die ziere Gestalt eines nackten kleinen Mädchens, welche, unreif und zart gegliedert, ihre Händchen in koketter Keuschheit auf der Brust kreuzte, hielt er am Kopfe erfaßt und musterte sie eingehend . . . Herr Blüthenzweig . . . bewegte sich händereibend um ihn herum, indem er das kleine Mädchen mit allen Vokabeln pries, deren er habhaft werden konnte." Nein, es handelt sich nicht um Kinderprostitution und Mädchenhandel, sondern um eine Bronzestatuette. Aber die Erzählung spielt mit derartigen Assoziationen.
Der Literaturwissenschaftler Yahya Elsaghe attestiert der Novelle "faustdicken Antisemitismus". Der Thomas-Mann-Forschung warf er eine "entspannte Haltung" zu Problemen des Rassismus sowie eine affirmative Rezeptionshaltung vor, die das "Boshafte und Bösartige der Texte systematisch ausspart". Elsaghe untersucht die Werke auf kollektive Vorstellungen, die sich möglicherweise auch gegen die bewußte Autorintention durchsetzen - insbesondere antisemitische Stereotypen bei erklärtermaßen philosemitischer Einstellung.
So verliert manches Detail plötzlich seine Harmlosigkeit. Etwa jene "Füße von seltenem Umfange", die dem unproduktiven Schriftsteller und Schönheitsmenschen Detlev Spinell in der berühmten Novelle "Tristan" zu eigen sind. Nicht nur der Edelstein-Name, sondern auch die "ein wenig zu fleischige" Nase und der ironisch mitgeteilte Geburtsort ("bloß aus Lemberg") kennzeichnen die Figur als Juden, und so mögen auch die großen Füße eine Reminiszenz des "jüdischen Plattfußes" sein, der seinerzeit zur militärischen Diskriminierung jüdischer Männer herhalten mußte. Wenn Dr. Leander - der jüdische Oberarzt des Sanatoriums, das dem dekadenten Schriftsteller zur Heimat geworden ist - einen Bart trägt, "der hart und kraus ist wie das Roßhaar, mit dem man die Möbel stopft", dann liegt für Elsaghe hier mehr als nur ein Beispiel für die übliche "Vertierung" in der Darstellung von Juden vor. Es sei zugleich eine "unheimliche Antizipation der materiellen Verwertung jüdischer Menschen einige Jahrzehnte später", in Auschwitz. Die beklagte Ignoranz der Thomas-Mann-Experten ersetzt Elsaghe durch den geschärften Blick eines literaturwissenschaftlichen Rassismusbeauftragten.
Mit etwas weniger Entlarvungsehrgeiz hat Rolf Thiede an den "Buddenbrooks" Symptome des Antisemitismus festgestellt. Wenn es mit einem "deutschen" Unternehmen bergab ging, wurde gerne der skrupellosen jüdischen Konkurrenz die Schuld gegeben. Der Roman Thomas Manns scheint dieser Rollenverteilung zu entsprechen. Die mit den Buddenbrooks rivalisierende Familie sollte zunächst Cohn heißen; aber auch der Name Hagenström, der zur Götterdämmerungs-Motivik des Romans gehört, ist deutlich genug. Je mehr der Drachentöter Siegfried in völkisch-wagnerianischer Deutung zum Urbild des germanischen Menschen wurde, desto mehr verdunkelte sich das Bild seines Meuchelmörders Hagen: Er wurde zur Verkörperung alles Fremden. In Wagners Dichotomie rückt er ein in die Position des Juden. Hagens Vater Alberich, der die Liebe verflucht und zum unerbittlichen Goldraffer wird, nachdem die Rheintöchter seine "Lust" verhöhnt haben, wurde von Adorno als Judenkarikatur gedeutet.
Im Roman sind Hagenströms die Prototypen jener Aufsteiger, die über etablierte Traditionen hinweg zu Reichtum und Macht streben. Das Jüdische der Familie steht außer Zweifel: "Ihr Vater, Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Ort ansässig war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren, die übrigens Semlinger hieß." Die mangelnde Ortsgebundenheit, das "tierische" Haar, der indezente Schmuck und schließlich der Name (ein "Sem-ling" ist ein "Semit") - die Stereotypen sind eigentlich nicht zu übersehen. Von Tony Buddenbrook wird diese Frau bei Gelegenheit abfällig "Sara Semlinger" genannt, worauf die Konsulin entgegnet: "Sie heißt übrigens Laura, mein Kind, man muß gerecht sein." Der Hagenström-Sohn, der später als "imposanter Börsentypus" zum erfolgreichen Gegenspieler Thomas Buddenbrooks werden wird, hat die charakteristischen physiognomischen Merkmale: "Hermann war blond, aber seine Nase lag ein wenig platt auf der Oberlippe. Auch schmatzte er beständig mit den Lippen, denn er atmete nur durch den Mund." Hermanns orale Begehrlichkeit (ähnlich ausgeprägt wie bei der Dame im Zug) drückt sich nicht nur in seiner Gefräßigkeit aus. Berühmt ist die Kinderszene, in der er von Tony Buddenbrook einen Kuß für seine Gänsebrustsemmel eintauschen will - Körperlust gegen Ware. Der Erzähler läßt ihn den Leckerbissen zweideutig als "das pure Fleisch" anpreisen. "Oversexed", schon in jungen Jahren. Demnach wäre in der heiteren Episode ein übles antisemitisches Klischee zu entdecken.
Tonys krankhafter Haß auf das "Geschmeiß" und die "hergelaufene Familie" hat rassistische Untertöne. Allerdings vertritt Tony nicht die Meinung des Autors. Jeder Leser des Buches weiß, daß ihrer Sicht der Dinge am wenigsten zu trauen ist. Die antisemitischen Motive, die der Roman enthält, sind ebenso mit den Vorzeichen von Komik und Ironie versehen wie all die anderen Klischees, mit denen Thomas Mann zu arbeiten liebte. Und die Buddenbrooks gehen nicht an der "jüdischen" Konkurrenz zugrunde, sondern an ihrer eigenen Dekadenz und Verfeinerung. Thiede und Elsaghe gelingt es zwar, übersehene historische Kontexte zurückzugewinnen, aber die Kontexte der Erzählungen und Romane selbst werden dabei des öfteren aus den Augen verloren. Vor allem in seinen frühen Werken hat Thomas Mann die Nebenfiguren fast durchgehend als Karikaturen gestaltet. Ob Nationalitäten, Berufsbilder oder gesellschaftliche Klassen - er scheute vor keinem Stereotyp zurück. Der Typisierung verdankt sich nicht zuletzt die Plastizität seiner Gestalten.
Hier die Darstellung von Juden zu isolieren führt zu verzerrten Einschätzungen. Christian und Tony Buddenbrook werden kaum weniger "diskreditiert" als die Hagenströms. Im "Tristan" ist die Gegenfigur zu Spinell, der dröhnend bornierte Kaufmann Klöterjahn, noch lächerlicher als der jüdische Schriftsteller, und in "Gladius Dei" ist die gröbste Karikatur nicht der Kunsthändler Blüthenzweig, sondern der Urbayer Krauthuber. Auch die Nase von Dr. Sammet in "Königliche Hoheit" (1909) fällt "zu flach auf den Schnurrbart ab". Diese Figur ist deshalb interessant, weil Thomas Mann - seit kurzem mit einer Jüdin verheiratet - sich hier erstmals an einer explizit philosemitischen Argumentation versucht. Im Roman erkundigt sich ein Repräsentant des Königshauses nicht ohne Herablassung bei dem jüdischen Arzt, ob dieser seine Herkunft je als Hindernis empfunden habe. Ganz im Gegenteil, versichert Dr. Sammet, man sei gegen die "regelrechte und darum bequeme Mehrzahl" nicht im Nachteil, wenn man "eine Veranlassung mehr zu ungewöhnlichen Leistungen" habe. So wird Diskriminierung zum Vorteil umgebogen. Die Stigmatisierung soll zugleich eine Auszeichnung sein. Immerhin: wie die aristokratische Repräsentationsexistenz wird für Thomas Mann nun auch der aus dem sozialen Normalmaß fallende Jude zur Parallelgestalt des Künstlers, geprägt von ähnlichen Außenseitergefühlen. Das ist schön gemeint; der heutige Leser wundert sich trotzdem darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit das Judesein mit der körperlichen Mißbildung des Thronfolgers gleichgesetzt wird.
Dem realen Vorbild von Dr. Sammet, dem jüdischen Arzt Maurice Hutzler, hat im übrigen aller Leistungswille nichts genutzt. Er beging Selbstmord nach einer vermeintlichen Verfehlung, die mit einem Berufsverbot geahndet wurde - der Antisemitismus ist bei dem Vorgang nicht zu übersehen. Dieses Schicksal hätte die Leistungsethik der Romanfigur durchkreuzt, und so bringt sich Dr. Sammet nach dem Willen seines Autors nicht um, sondern bekommt für seine Verdienste das "Albrechtskreuz" verliehen, wenn auch nur "dritter Klasse". Den Selbstmord hat Thomas Mann an anderer Stelle verwertet. Die Parallelgestalt zu Sammet, der Erzieher Dr. Raoul Überbein, erschießt sich aus gekränktem Ehrgeiz. Damit steht das Motiv allerdings nicht mehr in Zusammenhang mit der antisemitischen Diskriminierung, was Elsaghe als zynische Verharmlosung wertet. Indes hatte Thomas Mann keinen Reportage-Roman über den Fall Hutzler beabsichtigt.
Ganz ähnlich wie Sammet hat er 1907 auf eine Umfrage "Zur Lösung der Judenfrage" geantwortet, indem er Voltaire zitierte: "Übrigens ist es nicht schlecht, wenn man einen Fehler gutzumachen hat. Es verpflichtet zu großen Anstrengungen." Erst recht die anschließende, durchaus projüdisch gemeinte Argumentation liest sich heute wie eine groteske Entgleisung: "Es besteht schlechterdings keine Notwendigkeit, daß der Jude immer einen Fettbuckel, krumme Beine und rote, mauschelnde Hände behalte, ein leidvoll-unverschämtes Wesen zur Schau trage und im ganzen einen fremdartig schmierigen Aspekt gewähre. Im Gegenteil: Der Typus des Juden, ,wie er im Buche steht', des fremden, physisch antipathischen Tschandala ist eigentlich schon recht selten geworden, und unter dem wirtschaftlich bevorzugten Judentum gibt es heute schon junge Leute, die . . . einen Grad von Wohlgeratenheit, Eleganz und Appetitlichkeit und Körperkultur darstellen, der jedem germanischen Mägdlein oder Jüngling den Gedanken einer ,Mischehe' recht leidlich erscheinen lassen muß."
Daß ein mit einer Jüdin verheirateter Kulturträger dergleichen in guter Absicht schreiben konnte, läßt auf das Ausmaß von selbstverständlichem Antisemitismus im deutschen Alltag rückschließen. Im Streit mit den Kritikern Alfred Kerr und Theodor Lessing hat Thomas Mann gelegentlich noch gehässigere Töne produziert. Darüber ist viel diskutiert worden; oft wurde vergessen, daß Thomas Mann zuvor von Kerr und Lessing mit einem kaum nachvollziehbaren Haß und Willen zur persönlichen Beleidigung attackiert worden war. Beide Seiten scheinen sich in ihrer verbalen Vehemenz um eine Neuauflage der Heine-Platen-Kontroverse bemüht zu haben. Während Elsaghe bei seiner Rekonstruktion des rassistischen Diskurses um 1900 die Moral des Jahres 2000 geltend macht, vertritt Kurzke die Auffassung, daß die damals entstandenen Texte nicht mit den Wertungen und dem Sprachgefühl von heute kritisiert werden sollten. Bei ihm verflüchtigt sich das Problem allerdings ins Philosophische: "In Thomas Manns vermeintlichem Antisemitismus steckt als Kern die Angst vor der Bedrohung des Lebens durch den Geist." Kurzke läßt keinen Zweifel, wo man den Schriftsteller einzuordnen habe: "Ein Philosemit."
Zu skeptischeren Schlüssen kommt Thomas Klugkist in seiner monumentalen Thomas-Mann-Deutung "Sehnsuchtskosmogonie". Die psychologisierende Sympathie mit den Juden sei weit entfernt von einer vorurteilsfreien Sichtweise, denn der hochrespektable Vertreter des Judentums hebe sich immer nur singulär von dessen "häßlicher" Erscheinung ab und erfülle auch dann nichts weiter als das positive Stereotyp außergewöhnlicher Geistigkeit und Kultiviertheit. Am Ende seiner Sublimierungskarriere ist der Jude kein Jude mehr. Der von Kurzke sehr freundlich interpretierte Satz, mit dem Thomas Mann den ersten Eindruck von der Familie seiner späteren Frau festhielt, ist der beste Beleg dafür: "Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur."
Als die Assimilation im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts fortschritt, änderte sich die Taktik des Antisemitismus. Jüdische Andersartigkeit sollte sich nicht länger in Sprache, Kultur und Habitus manifestieren, sondern rassenbiologisch; die Symptome verlagerten sich nach innen. Auch wenn Thomas Mann, dankbar für alles typologische Material, bis in seine letzten Werke an gewissen "pittoresken" Zügen und Klischees des Jüdischen festhielt - als öffentlicher Redner und Publizist übte er seit Anfang der zwanziger Jahre kompromißlose Kritik an der Rassenideologie. Immer wieder fand er klare Worte für das "Rassengefasel" mit seiner "Groschenwissenschaftlichkeit": "rassischer Pöbelmythus", "idiotische Rassentheorie", "Not-Aristokratismus kleiner, sehr kleiner Leute", "blöde Überheblichkeit", "vollendete Niedertracht", um nur einige zu nennen. Während selbst führende Nazis sich nach 1945 darauf hinausredeten, leider von nichts gewußt zu haben, sprach der kalifornische Emigrant in seiner regelmäßigen BBC-Sendung schon wenige Tage nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 über die "Probevergasung" von 500 holländischen Juden. Die Details von Thomas Manns praktiziertem "Anti-Antisemitismus" sind bei Kurzke nachzulesen.
Auch das literarische Werk bezog Stellung. Ungefähr so lange, wie das Nazi-Regime dauerte, schrieb Thomas Mann an der Romantetralogie "Joseph und seine Brüder". Eine eindrucksvolle Koinzidenz: Während die Nazis die Juden aus der Geschichte streichen wollten, versenkte sich der angesehenste Schriftsteller Deutschlands in die Welt des Alten Testaments und verlebendigte sie mit den Mitteln des modernen Romans. Die Romankomödie "Lotte in Weimar" hat ebenfalls direkte zeitpolitische Bezüge. Im nicht lange nach der "Reichskristallnacht" geschriebenen achten Kapitel unterhält Goethe seine Tischgäste mit der ausführlichen Erzählung eines spätmittelalterlichen Judenpogroms, der "Blutnacht" von Eger. Als der mörderische Rausch vorbei ist, verlangt es die Täter nach preiswerter Versöhnung. Der einzige Überlebende des Massakers wird "feierlich als Bürger von Eger" anerkannt. "Als Bürger von Eger! Da war er denn was und fand sich prächtig entschädigt. Er hatte vermutlich Weib und Kinder, sein Hab und Gut, all seine Freunde und Verwandte, seine ganze Gemeinschaft verloren. Nackt und bloß stand er da, war aber nun Bürger von Eger . . ." Der fiktive Goethe gibt im folgenden mit "leicht belustigter Hochachtung" Charakterisierungen der Juden. Eine der Typisierungen läßt aufhorchen: "Die Juden, sagte er, seien pathetisch . . . Das Wort sei hier genau zu verstehen, nämlich im Sinne des Leidens, und das jüdische Pathos eine Leidensemphase . . ." Hier wird deutlich, was Thomas Mann faszinierte. Denn diese den Juden zugeschriebene enge Beziehung zu einer archaischen "Sphäre des Pathos", deren Formeln und Redeweisen mit komischer Außenwirkung gerne auch für die alltägliche Erfahrung in Anspruch genommen werden, findet sich durchgehend auch bei den Figuren der Josephsromane, sie bewirkt den eigenwilligen Humor dieses Werkes.
Mehr oder weniger komisch gebrochene Pathetiker sind fast alle jüdischen Gestalten in Thomas Manns Werk, bis hin zu Chaim Breisacher und Saul Fitelberg im "Doktor Faustus". Beide Figuren haben Kritik auf sich gezogen. Es wurde bemängelt, daß der einzige dargestellte Faschist in diesem Roman des deutschen Verhängnisses ausgerechnet ein Jude sei. Daß es sich bei dem rechtsrevolutionären Salontheoretiker Breisacher um einen Juden handelt, begründet sich jedoch nicht nur mit dem realen Vorbild der Figur, Oskar Goldberg. Da Thomas Mann jüdischen Intellektuellen ein außerordentliches Sensorium für geistig-kulturelle Tendenzen attestierte, hat es seine innere Logik, daß dieser Part im Roman von einem Juden übernommen wird. Breisacher ist kein Sympathieträger, aber ein hochbegabter Zeitgeist-Witterer, ein Mann, der verstanden hat, was die Stunde gleich schlagen wird: reaktionäre Avantgarde. Und noch ein ästhetisches Motiv ist zu nennen: die zunehmende Komplexität der Figurendarstellung Thomas Manns. Er liebte es, Gegensätze zusammenzuzwingen. Schon im "Zauberberg" lebt der programmatisch sinnenfrohe Aufklärer Settembrini enthaltsam in seiner spärlichen Kammer; sein Widersacher Leo Naphta, der jüdische Theoretiker der Askese und des frommen Terrors, ist dagegen luxuriös installiert. Während manche Figuren des Frühwerks an Einsinnigkeit kranken, sind die Gestalten der späten Werke oft widerspruchsvoll bis zum Zerreißen. In diesem Sinn ist ein jüdischer Faschist zwar unter dem Gesichtspunkt des Realismus keineswegs repräsentativ, aber figurenästhetisch sehr viel spannender als ein repräsentativer "deutscher".
Noch mehr erregte der clowneske Musik-Impresario Fitelberg Anstoß. An Agnes E. Meyer schrieb Thomas Mann im September 1948: "Die Besorgnis, die Sie wegen Fitelbergs äußern, hat mir zuerst unser Klaus zu bedenken gegeben, als ich das Kapitel ganz frisch im Familienkreise vorlas. Er meinte, die Figur könnte antisemitisch wirken. Andere, auch Juden, wollten das durchaus nicht zugeben, und wirklich ist Saul ja ein reizender, gescheiter Kerl . . . Freilich ist er nun ein jüdischer Typ; es gibt weiß Gott ernstere und würdigere . . . Aber das ist nun nicht mehr zu ändern. Das Buch hat es so gewollt." Kurzerhand lehnt Thomas Mann jede Verantwortung für seine Figur ab. Dennoch: nachdem er ein Leben lang ohne Skrupel jüdische Figuren geschildert hat, wie es ihm gerade ins Konzept paßte, ist er drei Jahre nach dem Holocaust bei genau jener Bedenklichkeit angekommen (hier vom korrekten Klaus vertreten), die noch und jetzt erst recht die aktuellen Debatten prägt. Das berühmte Diktum von Adorno hätte anders lauten müssen: Nach Auschwitz lassen sich keine "jüdischen Typen" mehr beschreiben - es sei denn von Juden.
Wolfgang Schneider lebt als Publizist und Literaturkritiker in Berlin.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Nett" und "durchaus auch informativ", aber mit einer "seelenlosen Nachtmärchenstimmen" gesprochen kommt Hermann Kurzkes Doppel-CD über Leben und Werk Thomas Manns daher, findet Rezensent Martin Z. Schröder. Aber trotz der "fehlgeschlagenen Inszenierung" wünscht er der CD einige Aufmerksamkeit. Denn neben den Stimmen von Thomas Mann sind auch die der Kinder Erika und Golo festgehalten, die beispielsweise einen typischen Arbeitstag des Vaters schildern, berichtet Schröder. Insbesondere jenen, die sich in ihrer Freizeit dem Genuss der Mann-Lektüre hingeben, jedoch nicht die Muse finden, ein Fachbuch über den Zauberer zu lesen, legt Schröder Kurzkes CD ans Herz, "um nun auf diesem Wege Irrtümer, Einsichten, Fährnisse, Leidenschaften dieses Künstlers überblicken können".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein faireres, nobleres Bild von Thomans Mann wird man nicht finden.« (Die Zeit)
»Hermann Kurzke lässt dem Dichter, dem man schon zu Lebzeiten dieses Prädikat abzusprechen beliebte, (endlich!) die Gerechtigkeit widerfahren, die ihm gebührt.« (Süddeutsche Zeitung)
»Hermann Kurzke lässt dem Dichter, dem man schon zu Lebzeiten dieses Prädikat abzusprechen beliebte, (endlich!) die Gerechtigkeit widerfahren, die ihm gebührt.« (Süddeutsche Zeitung)