Raupen, die sich ihr eigenes Grab schaufeln, Haie, die künstlich beatmet werden, Enten, die noch im Schlaf nach Fressfeinden Ausschau halten, Schafe, die ihre Wolle von selbst abwerfen. Jede von Eva Menasses Erzählungen geht von einer kuriosen Tiermeldung aus und widmet sich doch ganz der Gattung Mensch.
Die Autorin studiert ihre Objekte mit einem liebevollen und unerbittlichen Forscherinnenblick und erzählt in einer wunderbaren Mischung aus pointiertem Witz und melancholischem Ernst.
Die Autorin studiert ihre Objekte mit einem liebevollen und unerbittlichen Forscherinnenblick und erzählt in einer wunderbaren Mischung aus pointiertem Witz und melancholischem Ernst.
buecher-magazin.deWas auch immer der Titel dieses Erzählbandes suggerieren mag, geht es doch darin die ganze Zeit nur um eine einzige Spezies Tier: den Menschen. Davon allerdings gibt es ganz verschiedene. Und Eva Menasse kommt so dicht an sie heran, dass ihre innersten Regungen zu erkennen sind. Die Männer und Frauen, von denen sie erzählt, haben wenig miteinander gemein - außer, dass sie in ihren jeweiligen Eigenarten eben äußerst eigen erscheinen. Da gibt es den alten Mann, der mit seiner dementen Frau zusammenlebt und seinen mühsamen Alltag verbissen gegen die Töchter verteidigt, die ihre Mutter lieber ins Heim bringen würden. Oder da wäre die Großstadt-Mutter, die über die Grundschule ihrer Tochter eine heimliche Faszination für einen Mit-Vater entwickelt, der möglicherweise ins organisierte Verbrechen verwickelt ist. Wieder eine andere Erzählung handelt von einer Frau, attraktiv und in den besten Jahren, die über jede Menge kreatives Potenzial verfügt, aber die oberflächliche Existenz einer Lebedame führt und sich von ihrem Mann finanzieren lässt. So verschieden all diese Personen auch sind, so glaubhaft gelingen Menasse ihre Porträts. Der Mensch, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, ist doch in seiner Vielfalt ein ungemein faszinierendes Wesen! Wenn auch letzten Endes wohl unergründlich.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Wer die
Ente stört
Von Frauen, die in Fallen gehen:
Eva Menasse begründet eine Tierkunde
von Menschen in Beziehungen
VON MEIKE FESSMANN
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und selten froh, wenn seine Routinen unterbrochen werden. Auch wer vom wilden Leben träumt, liebt oft nur die Rhetorik des Ausbruchs. So zumindest ist es bei der Spezies, die in diesem Erzählband am häufigsten beschrieben wird: Mütter in einer Patchwork-Konstellation. Das ohnehin strapaziöse Familienleben wird doppelt und dreifach anstrengend, wenn zum eigenen Kind noch die Kinder der anderen Mutter mit in den Urlaub fahren und deren prüfender Blick gleich mit auf Reisen geht.
So geschieht es in der ersten Geschichte, in der die Heldin ein ausgeklügeltes System gegen die ständigen Klagen ihrer Vorgängerin entwickelt, im neuen Haushalt ihres Ex-Mannes gingen immer Sachen verloren. Die selbst gekaufte Kinderkleidung markiert sie mit verdeckten Ösen, die mitgebrachten Taschen schüttet sie aus, um ihren Inhalt zu fotografieren. Kein Wunder, dass der Türkeiurlaub keine Erholung bringt: „Aber wer gedacht hat, dass nichts so verbindet wie eine gemeinsame Herausforderung, der verkennt, dass die Entscheidung, eine Familie und mehrere Kinder zu haben, leider bedeutet, sich selbst für Jahre um Ressourcen, Reserven und manchmal um den Verstand zu bringen.“
„Tiere für Fortgeschrittene“ ist nach den Romanen „Vienna“ und „Quasikristalle“ sowie dem Erzählungsband „Lässliche Todsünden“ das vierte belletristische Werk der 1970 in Wien geborenen, in Berlin lebenden Journalistin und Schriftstellerin. Sie hat den acht Geschichten kleine, meist kurios anmutende Agenturmeldungen über Tiere vorangestellt. Nicht in jedem Fall leuchtet der Zusammenhang ein, das Signal versteht man trotzdem. „Tiere für Fortgeschrittene“ kultiviert den fremden Blick auf eine Spezies, zu deren Eigenart es gehört, den ganzen „Reproduktionsscheiß“ nicht aus purem Trieb mitzumachen, sondern sehenden Auges, und die sogar bereit ist, für eigene Nachkommen gehörige Anstrengungen auf sich zu nehmen; wie die Autorin selbst, die in Zeitungsartikeln offen darüber spricht, dass sie die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch genommen hat und mehrere Fehlgeburten erlitt.
Die meisten Erzählungen laufen keineswegs nur auf einem Gleis. Oft gibt es Nebenwege und überraschende Wendungen, auch wenn man Muster erkennt. Wie etwa in der „Raupen“ titulierten Geschichte, die von einem alten Mann und seiner demenzkranken Frau erzählt. Während er selbst seine Fürsorge für die „Essenz von Liebe“ hält, raten ihm die Töchter, sich lieber zeitgemäß von Dienstleistern helfen zu lassen. Unverkennbar schimmert Michael Hanekes Film „Liebe“ durch.
Ein anderer Mann wurde von seiner Frau verlassen, als die Tochter aus dem Haus ging. Auch der Sofatisch steht bald nur noch auf drei Beinen und wird zum Symbol seiner Demütigung, die sich noch steigert, als er sie überwinden will. Nach dem Kauf eines neuen Tisches wird er von der Ladenbesitzerin des Diebstahls bezichtigt, ausgerechnet in der Anwesenheit einer jungen Frau, die als Teil eines verliebten Paares ins Nachbarhaus gezogen ist.
In Form einer surrealen Posse erzählt Eva Menasse von Erfahrungen, die sie in der Villa Massimo in Rom und bei den von Günter Grass initiierten Lübecker Autorentreffen gesammelt haben dürfte. Auf einem italienischen Landgut kommt eine Elite aus Künstlern und Geisteswissenschaftlern zusammen. Sie soll zur Rettung der Welt beitragen, ohne genau zu wissen, was ihre Aufgabe ist. Die Hitze bringt das Soziallaboratorium zum Köcheln und wird schließlich zum Katalysator eines recht bescheidenen Aufstands. Während alle anderen Geschichten auktorial erzählt sind, protokolliert hier ein Ich-Erzähler das Geschehen. Dass es sich dabei um einen Psychologen in der Krise handeln soll, passt weder zum Setting noch zur Erzählweise mit ihren vielen Anspielungen, die von Lewis Carroll über Borges bis zu Gertrude Stein und Schrödingers Katze reichen.
Trotz des Geschicks im Umgang mit Stoff und Handlungsdramaturgie unterlaufen Eva Menasse gelegentlich stilistische Schnitzer. Viele Klischees finden sich in der einzigen Geschichte, in der die Tier-Parabel auch in die Handlung integriert wird. Bei der Rettung eines Igels stellt sich darin eine Liebe über Kreuz nach dem Wahlverwandtschaften-Modell ein. Da heißt es etwa über den einen der beiden älteren Herren, er sei gealtert „wie guter Wein“, und über den anderen, dass es ihn in den Augen kluger Frauen „ziert“, eine ungefähr gleichaltrige Frau zu haben: „es peppt solche Männer auf, wenn sie keine geruchlosen Jungpuppen an der Seite haben“. Wer soll so etwas sagen und das vermeintliche Kompliment mit einem Verb vergiften, das sich nach Schnittmuster-Heftchen der Fünfzigerjahre anhört?
Die letzte Geschichte trägt als Wappentier die Ente, von der wir erfahren, dass sie immer nur mit einer Gehirnhälfte schläft. Sie ist das Glanzstück des Bandes. Psychologisch präzise erzählt Eva Menasse hier auf dem seit ihrem Debütroman erprobten Terrain ihrer jüdisch-katholischen Familiengeschichte von der Entfremdung eines Paars, das nicht nur in der Altstadt von Florenz in eine Sackgasse geraten ist, sondern auch in seiner Ehe. „Mit minderen Problemen als dem Tod“ durfte Jenna ihren Eltern nicht kommen. Sie wird von Panikattacken heimgesucht, während ihr deutscher Mann dem Sohn von den Nazis erzählt. Der Plüschaffe, der als Abschiedsgeschenk für den Geliebten gedacht war, liegt im Arm des Sohnes. Er wird ihn wohl behalten wollen. Und der „Patchwork-Wahnsinn“ nimmt seinen Lauf.
Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017. 317 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Der Tisch hat nur drei Beine
und ist ein Symbol für
Niederlage und Demütigung
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ente stört
Von Frauen, die in Fallen gehen:
Eva Menasse begründet eine Tierkunde
von Menschen in Beziehungen
VON MEIKE FESSMANN
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und selten froh, wenn seine Routinen unterbrochen werden. Auch wer vom wilden Leben träumt, liebt oft nur die Rhetorik des Ausbruchs. So zumindest ist es bei der Spezies, die in diesem Erzählband am häufigsten beschrieben wird: Mütter in einer Patchwork-Konstellation. Das ohnehin strapaziöse Familienleben wird doppelt und dreifach anstrengend, wenn zum eigenen Kind noch die Kinder der anderen Mutter mit in den Urlaub fahren und deren prüfender Blick gleich mit auf Reisen geht.
So geschieht es in der ersten Geschichte, in der die Heldin ein ausgeklügeltes System gegen die ständigen Klagen ihrer Vorgängerin entwickelt, im neuen Haushalt ihres Ex-Mannes gingen immer Sachen verloren. Die selbst gekaufte Kinderkleidung markiert sie mit verdeckten Ösen, die mitgebrachten Taschen schüttet sie aus, um ihren Inhalt zu fotografieren. Kein Wunder, dass der Türkeiurlaub keine Erholung bringt: „Aber wer gedacht hat, dass nichts so verbindet wie eine gemeinsame Herausforderung, der verkennt, dass die Entscheidung, eine Familie und mehrere Kinder zu haben, leider bedeutet, sich selbst für Jahre um Ressourcen, Reserven und manchmal um den Verstand zu bringen.“
„Tiere für Fortgeschrittene“ ist nach den Romanen „Vienna“ und „Quasikristalle“ sowie dem Erzählungsband „Lässliche Todsünden“ das vierte belletristische Werk der 1970 in Wien geborenen, in Berlin lebenden Journalistin und Schriftstellerin. Sie hat den acht Geschichten kleine, meist kurios anmutende Agenturmeldungen über Tiere vorangestellt. Nicht in jedem Fall leuchtet der Zusammenhang ein, das Signal versteht man trotzdem. „Tiere für Fortgeschrittene“ kultiviert den fremden Blick auf eine Spezies, zu deren Eigenart es gehört, den ganzen „Reproduktionsscheiß“ nicht aus purem Trieb mitzumachen, sondern sehenden Auges, und die sogar bereit ist, für eigene Nachkommen gehörige Anstrengungen auf sich zu nehmen; wie die Autorin selbst, die in Zeitungsartikeln offen darüber spricht, dass sie die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch genommen hat und mehrere Fehlgeburten erlitt.
Die meisten Erzählungen laufen keineswegs nur auf einem Gleis. Oft gibt es Nebenwege und überraschende Wendungen, auch wenn man Muster erkennt. Wie etwa in der „Raupen“ titulierten Geschichte, die von einem alten Mann und seiner demenzkranken Frau erzählt. Während er selbst seine Fürsorge für die „Essenz von Liebe“ hält, raten ihm die Töchter, sich lieber zeitgemäß von Dienstleistern helfen zu lassen. Unverkennbar schimmert Michael Hanekes Film „Liebe“ durch.
Ein anderer Mann wurde von seiner Frau verlassen, als die Tochter aus dem Haus ging. Auch der Sofatisch steht bald nur noch auf drei Beinen und wird zum Symbol seiner Demütigung, die sich noch steigert, als er sie überwinden will. Nach dem Kauf eines neuen Tisches wird er von der Ladenbesitzerin des Diebstahls bezichtigt, ausgerechnet in der Anwesenheit einer jungen Frau, die als Teil eines verliebten Paares ins Nachbarhaus gezogen ist.
In Form einer surrealen Posse erzählt Eva Menasse von Erfahrungen, die sie in der Villa Massimo in Rom und bei den von Günter Grass initiierten Lübecker Autorentreffen gesammelt haben dürfte. Auf einem italienischen Landgut kommt eine Elite aus Künstlern und Geisteswissenschaftlern zusammen. Sie soll zur Rettung der Welt beitragen, ohne genau zu wissen, was ihre Aufgabe ist. Die Hitze bringt das Soziallaboratorium zum Köcheln und wird schließlich zum Katalysator eines recht bescheidenen Aufstands. Während alle anderen Geschichten auktorial erzählt sind, protokolliert hier ein Ich-Erzähler das Geschehen. Dass es sich dabei um einen Psychologen in der Krise handeln soll, passt weder zum Setting noch zur Erzählweise mit ihren vielen Anspielungen, die von Lewis Carroll über Borges bis zu Gertrude Stein und Schrödingers Katze reichen.
Trotz des Geschicks im Umgang mit Stoff und Handlungsdramaturgie unterlaufen Eva Menasse gelegentlich stilistische Schnitzer. Viele Klischees finden sich in der einzigen Geschichte, in der die Tier-Parabel auch in die Handlung integriert wird. Bei der Rettung eines Igels stellt sich darin eine Liebe über Kreuz nach dem Wahlverwandtschaften-Modell ein. Da heißt es etwa über den einen der beiden älteren Herren, er sei gealtert „wie guter Wein“, und über den anderen, dass es ihn in den Augen kluger Frauen „ziert“, eine ungefähr gleichaltrige Frau zu haben: „es peppt solche Männer auf, wenn sie keine geruchlosen Jungpuppen an der Seite haben“. Wer soll so etwas sagen und das vermeintliche Kompliment mit einem Verb vergiften, das sich nach Schnittmuster-Heftchen der Fünfzigerjahre anhört?
Die letzte Geschichte trägt als Wappentier die Ente, von der wir erfahren, dass sie immer nur mit einer Gehirnhälfte schläft. Sie ist das Glanzstück des Bandes. Psychologisch präzise erzählt Eva Menasse hier auf dem seit ihrem Debütroman erprobten Terrain ihrer jüdisch-katholischen Familiengeschichte von der Entfremdung eines Paars, das nicht nur in der Altstadt von Florenz in eine Sackgasse geraten ist, sondern auch in seiner Ehe. „Mit minderen Problemen als dem Tod“ durfte Jenna ihren Eltern nicht kommen. Sie wird von Panikattacken heimgesucht, während ihr deutscher Mann dem Sohn von den Nazis erzählt. Der Plüschaffe, der als Abschiedsgeschenk für den Geliebten gedacht war, liegt im Arm des Sohnes. Er wird ihn wohl behalten wollen. Und der „Patchwork-Wahnsinn“ nimmt seinen Lauf.
Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2017. 317 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Der Tisch hat nur drei Beine
und ist ein Symbol für
Niederlage und Demütigung
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2017Aufstand in der Villa Massimo
Fürsorge? Dominanz? In ihren neuen Erzählungen "Tiere für Fortgeschrittene" lotet Eva Menasse familiäre Untiefen aus.
Ist das nun Fluch oder Segen? "In letzter Zeit kann man sich auf überhaupt nichts mehr einigen", beklagt sich die Gastgeberin, als im Freundeskreis die alten Gewissheiten bröckeln: Sollen Berichte über Verbrechen auch die Nationalität der Täter enthalten, oder ist das, wie einer meint, rassistisch und bedient Vorurteile? Lenkt die Diskussion um kriminelle libanesische Clans von den deutschen "Wirtschaftskriminellen und Steuerhinterziehern" ab? Ist die Kontroverse ein Zeichen, wie ein Gast meint, dass es "unter uns auch immer rechter" wird? Oder kann man, wie Nora, froh sein, dass es in den Gesprächen "ausnahmsweise um etwas geht"?
Für sie ist das keine abstrakte Diskussion, denn ihre Tochter Clara ist gerade eingeschult worden, gleich am allerersten Tag hat der kleine Frederic ihr gesagt, dass er sie heiraten will, es kommt in der Klasse zu Streit und Destruktion, und Frederic wird unter den Eltern als Unruhestifter ausgemacht. Sein Vater kommt aus dem Libanon und ist offenbar reich, zudem trägt er den Namen eines Clans, dem kriminelle Geschäfte nachgesagt werden, und spätestens nach einem weiteren Gespräch mit Freunden ist sich Claras Mutter keineswegs mehr sicher, wie sie sich zu den Ereignissen verhalten soll. Zu denken gibt ihr, was der Biologe Gustav über das organisierte Verbrechen sagt und wie schwer es wegen der vielen beteiligten Clanmitglieder und ihren unterschiedlichen Aufgaben im Dienst eines gemeinsamen kriminellen Ziels zu bekämpfen sei - "ihr schien, er denke von den Termiten her."
Die Frage, ob das ein sinnvoller Ansatz ist und wohin er letztlich führt, gibt Eva Menasses gerade erschienenem Erzählungsband die äußere Struktur. Er heißt "Tiere für Fortgeschrittene", seine Kapitel tragen Überschriften wie "Raupen", "Schafe", "Schlangen" oder, wie Noras Geschichte, "Haie", und jedem dieser acht Texte ist eine kleine Wissenschaftsmeldung vorangestellt, die von Tieren handelt. Sie erzählen von Enten, die noch im Schlaf ein Auge wachsam offen halten können, von einem Mann, der ein überfahrenes Opossum per Mund-zu-Mund-Beatmung retten will, oder von Schmetterlingen, die sich an Krokodilstränen laben.
In welchem Zusammenhang sie mit den dann folgenden literarischen Texten jeweils stehen, wechselt von Mal zu Mal, ein enggeführtes und allegorisch eindeutiges Bestiarium nach mittelalterlichem Vorbild strebt Menasse glücklicherweise nicht an. Statt dessen leitet das Tränentrinken eine Erzählung ein, in der eine Patchworkfamilie in den Urlaub fährt und unter den Bösartigkeiten der zu Hause gebliebenen Ex-Frau des Mannes leidet, die sich also buchstäblich am Kummer der Familie nährt.
Andere Erzählungen nehmen das Motiv der vorangestellten Nachricht sehr viel direkter auf: Dem totgefahrenen Opossum folgt in der in Deutschland spielenden Geschichte ein Reh, das zum Verkehrsopfer wird, aber auch zum deutlich markierten Symbol für das Verhalten des Protagonisten Charlie Reincke: So wie er zwischen zwei Frauen lebt, so wollte auch das Reh Wildwechsel betreiben, der auf der Straße zwischen den beiden Revieren sein Ende fand. Noch direkter ist die Verbindung zwischen Nachricht und Text in "Igel", denn die Todesfalle, die weggeworfene Eisbecher für Igel werden können, spielt auch in der Erzählung eine Rolle. Nicht immer leuchten diese Verknüpfungen ein, und schwerer wiegt, dass die Erzählungen sie nicht einmal benötigen. Das gilt etwa für "Raupen", ein Kabinettstück aus jener Hölle, die Familie eben auch bedeuten kann, wenn die Machtverhältnisse allzu ungleich verteilt und zudem über die Jahrzehnte statisch sind, allem Größer- und Älterwerden zum Trotz. Dabei gelingt es Menasse, aus der Perspektive eines alten Mannes und Pflegers seiner demenzkranken Frau so zu erzählen, dass die wahnhaften mit den scharfsichtigen Zügen eine enge, mitunter schwer auseinanderzuhaltende Verbindung eingehen und sein Verhalten je nach Beleuchtung als Fürsorge, Kontrolle und Despotie erscheint.
Wer da erzählt, wechselt von Geschichte zu Geschichte, ein Ich-Erzähler ist darunter, der aus einer Künstlerkolonie in Rom berichtet - Eva Menasse war vor knapp zwei Jahren Stipendiatin der Villa Massimo - und wie aus der Lethargie und Irritation der dort Eingeladenen schließlich eine Revolte mit kümmerlichem Ergebnis wird. Die zugehörige Meldung erzählt von Schafen, die explizit ohne Wolle gezüchtet werden, und auch von den Bewohnern des Künstlerhauses scheint man kein konkretes Ergebnis des Aufenthalts zu erwarten.
Dass der Ich-Erzähler in "Schafe" das passende rhetorische Mittel ist, erschließt sich sofort, während man in anderen Geschichten rätselt: Warum liegt so viel ausgestellte Distanz in der Stimme des "Igel"-Erzählers, warum die fast altfränkischen Elemente der Sprache, warum die Pointenseligkeit mancher Passagen, die dem sonst oft souveränen Ton entgegenstehen, zumal sie dann die Figuren in eine Nähe zum Klischee bringen, die ihnen nicht angemessen ist. Da ist etwa die sinnsuchende Gattin eines reichen Mannes, die einen Restaurator alter Häuser kennenlernt: "Er war jemand, der etwas mit seinen Händen schuf. Sie konnte bloß Zigaretten drehen", heißt es. Wenig später fährt sie riskant Auto, wobei sie "ihren Schutzengel bis an die Grenze der Taktlosigkeit herausforderte" und dergleichen mehr.
Auf der Habenseite des Bandes aber stehen die Miniaturen familiärer Verstrickungen, der Abhängigkeiten zwischen den Generationen und innerhalb der Paare, des schwankenden Bodens, den man betritt, wenn man sich an einen anderen bindet, von dem man nicht weiß, wie lange und wie ernsthaft er diese Bereitschaft erwidern wird.
Immer wieder lässt Menasse hinter den Beteuerungen der Beteiligten eine andere Perspektive aufleuchten, am unheimlichsten dort, wo es um Abwesende geht, Gestorbene, Verlassene, Geflohene. Ihre Stimmen sind anfangs stumm, später werden sie vernehmlich, in einem Halbsatz der Anwesenden, in einem flüchtigen Gedanken oder aber, wie in "Schlangen", in einem jähen Ausbruch eines betrogenen Ehemanns, der im schroffen Kontrast zu der Opferrolle steht, die er zuvor eingenommen hatte und der doch wieder nur eine weitere Variante des Geschehens darstellt.
Immerhin ringt er sich dazu durch. Die zweifelnde Mutter in "Haie" dagegen macht den Mund erst auf, als es zu spät ist, als der vermeintliche Unruhestifter Frederic bereits die Schule gewechselt hat und all die liberalen Eltern aufatmen. Ob ihre Tochter Clara tatsächlich, wie Frederic einmal sagte, das Mädchen sei, das ihn am schlimmsten quäle, wird nun nicht mehr herauszufinden sein. Indem die Autorin ihre Geschichte auf diesen Befund hinsteuert, zeigt sie den Preis der Termiten-Metapher auf. Für beide Seiten.
TILMAN SPRECKELSEN
Eva Menasse:
"Tiere für Fortgeschrittene". Erzählungen.
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fürsorge? Dominanz? In ihren neuen Erzählungen "Tiere für Fortgeschrittene" lotet Eva Menasse familiäre Untiefen aus.
Ist das nun Fluch oder Segen? "In letzter Zeit kann man sich auf überhaupt nichts mehr einigen", beklagt sich die Gastgeberin, als im Freundeskreis die alten Gewissheiten bröckeln: Sollen Berichte über Verbrechen auch die Nationalität der Täter enthalten, oder ist das, wie einer meint, rassistisch und bedient Vorurteile? Lenkt die Diskussion um kriminelle libanesische Clans von den deutschen "Wirtschaftskriminellen und Steuerhinterziehern" ab? Ist die Kontroverse ein Zeichen, wie ein Gast meint, dass es "unter uns auch immer rechter" wird? Oder kann man, wie Nora, froh sein, dass es in den Gesprächen "ausnahmsweise um etwas geht"?
Für sie ist das keine abstrakte Diskussion, denn ihre Tochter Clara ist gerade eingeschult worden, gleich am allerersten Tag hat der kleine Frederic ihr gesagt, dass er sie heiraten will, es kommt in der Klasse zu Streit und Destruktion, und Frederic wird unter den Eltern als Unruhestifter ausgemacht. Sein Vater kommt aus dem Libanon und ist offenbar reich, zudem trägt er den Namen eines Clans, dem kriminelle Geschäfte nachgesagt werden, und spätestens nach einem weiteren Gespräch mit Freunden ist sich Claras Mutter keineswegs mehr sicher, wie sie sich zu den Ereignissen verhalten soll. Zu denken gibt ihr, was der Biologe Gustav über das organisierte Verbrechen sagt und wie schwer es wegen der vielen beteiligten Clanmitglieder und ihren unterschiedlichen Aufgaben im Dienst eines gemeinsamen kriminellen Ziels zu bekämpfen sei - "ihr schien, er denke von den Termiten her."
Die Frage, ob das ein sinnvoller Ansatz ist und wohin er letztlich führt, gibt Eva Menasses gerade erschienenem Erzählungsband die äußere Struktur. Er heißt "Tiere für Fortgeschrittene", seine Kapitel tragen Überschriften wie "Raupen", "Schafe", "Schlangen" oder, wie Noras Geschichte, "Haie", und jedem dieser acht Texte ist eine kleine Wissenschaftsmeldung vorangestellt, die von Tieren handelt. Sie erzählen von Enten, die noch im Schlaf ein Auge wachsam offen halten können, von einem Mann, der ein überfahrenes Opossum per Mund-zu-Mund-Beatmung retten will, oder von Schmetterlingen, die sich an Krokodilstränen laben.
In welchem Zusammenhang sie mit den dann folgenden literarischen Texten jeweils stehen, wechselt von Mal zu Mal, ein enggeführtes und allegorisch eindeutiges Bestiarium nach mittelalterlichem Vorbild strebt Menasse glücklicherweise nicht an. Statt dessen leitet das Tränentrinken eine Erzählung ein, in der eine Patchworkfamilie in den Urlaub fährt und unter den Bösartigkeiten der zu Hause gebliebenen Ex-Frau des Mannes leidet, die sich also buchstäblich am Kummer der Familie nährt.
Andere Erzählungen nehmen das Motiv der vorangestellten Nachricht sehr viel direkter auf: Dem totgefahrenen Opossum folgt in der in Deutschland spielenden Geschichte ein Reh, das zum Verkehrsopfer wird, aber auch zum deutlich markierten Symbol für das Verhalten des Protagonisten Charlie Reincke: So wie er zwischen zwei Frauen lebt, so wollte auch das Reh Wildwechsel betreiben, der auf der Straße zwischen den beiden Revieren sein Ende fand. Noch direkter ist die Verbindung zwischen Nachricht und Text in "Igel", denn die Todesfalle, die weggeworfene Eisbecher für Igel werden können, spielt auch in der Erzählung eine Rolle. Nicht immer leuchten diese Verknüpfungen ein, und schwerer wiegt, dass die Erzählungen sie nicht einmal benötigen. Das gilt etwa für "Raupen", ein Kabinettstück aus jener Hölle, die Familie eben auch bedeuten kann, wenn die Machtverhältnisse allzu ungleich verteilt und zudem über die Jahrzehnte statisch sind, allem Größer- und Älterwerden zum Trotz. Dabei gelingt es Menasse, aus der Perspektive eines alten Mannes und Pflegers seiner demenzkranken Frau so zu erzählen, dass die wahnhaften mit den scharfsichtigen Zügen eine enge, mitunter schwer auseinanderzuhaltende Verbindung eingehen und sein Verhalten je nach Beleuchtung als Fürsorge, Kontrolle und Despotie erscheint.
Wer da erzählt, wechselt von Geschichte zu Geschichte, ein Ich-Erzähler ist darunter, der aus einer Künstlerkolonie in Rom berichtet - Eva Menasse war vor knapp zwei Jahren Stipendiatin der Villa Massimo - und wie aus der Lethargie und Irritation der dort Eingeladenen schließlich eine Revolte mit kümmerlichem Ergebnis wird. Die zugehörige Meldung erzählt von Schafen, die explizit ohne Wolle gezüchtet werden, und auch von den Bewohnern des Künstlerhauses scheint man kein konkretes Ergebnis des Aufenthalts zu erwarten.
Dass der Ich-Erzähler in "Schafe" das passende rhetorische Mittel ist, erschließt sich sofort, während man in anderen Geschichten rätselt: Warum liegt so viel ausgestellte Distanz in der Stimme des "Igel"-Erzählers, warum die fast altfränkischen Elemente der Sprache, warum die Pointenseligkeit mancher Passagen, die dem sonst oft souveränen Ton entgegenstehen, zumal sie dann die Figuren in eine Nähe zum Klischee bringen, die ihnen nicht angemessen ist. Da ist etwa die sinnsuchende Gattin eines reichen Mannes, die einen Restaurator alter Häuser kennenlernt: "Er war jemand, der etwas mit seinen Händen schuf. Sie konnte bloß Zigaretten drehen", heißt es. Wenig später fährt sie riskant Auto, wobei sie "ihren Schutzengel bis an die Grenze der Taktlosigkeit herausforderte" und dergleichen mehr.
Auf der Habenseite des Bandes aber stehen die Miniaturen familiärer Verstrickungen, der Abhängigkeiten zwischen den Generationen und innerhalb der Paare, des schwankenden Bodens, den man betritt, wenn man sich an einen anderen bindet, von dem man nicht weiß, wie lange und wie ernsthaft er diese Bereitschaft erwidern wird.
Immer wieder lässt Menasse hinter den Beteuerungen der Beteiligten eine andere Perspektive aufleuchten, am unheimlichsten dort, wo es um Abwesende geht, Gestorbene, Verlassene, Geflohene. Ihre Stimmen sind anfangs stumm, später werden sie vernehmlich, in einem Halbsatz der Anwesenden, in einem flüchtigen Gedanken oder aber, wie in "Schlangen", in einem jähen Ausbruch eines betrogenen Ehemanns, der im schroffen Kontrast zu der Opferrolle steht, die er zuvor eingenommen hatte und der doch wieder nur eine weitere Variante des Geschehens darstellt.
Immerhin ringt er sich dazu durch. Die zweifelnde Mutter in "Haie" dagegen macht den Mund erst auf, als es zu spät ist, als der vermeintliche Unruhestifter Frederic bereits die Schule gewechselt hat und all die liberalen Eltern aufatmen. Ob ihre Tochter Clara tatsächlich, wie Frederic einmal sagte, das Mädchen sei, das ihn am schlimmsten quäle, wird nun nicht mehr herauszufinden sein. Indem die Autorin ihre Geschichte auf diesen Befund hinsteuert, zeigt sie den Preis der Termiten-Metapher auf. Für beide Seiten.
TILMAN SPRECKELSEN
Eva Menasse:
"Tiere für Fortgeschrittene". Erzählungen.
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Die Tiermetaphern, die Eva Menasse ihren hier versammelten acht Erzählungen vorangestellt hat, ächzen schon ein wenig, meint Katharina Granzin. Abgesehen von solchen Manierismen überzeugt die Autorin aber mit ihrem "naturwissenschaftlichen" Blick auf die Spezies Mensch, fährt die Rezensentin fort, die hier in einen "Kosmos von Monaden" eintaucht und erlebt, wie zerbrechlich menschliche Beziehungen sein können. Wie Menasse ihre einzelnen Erzählungen durch das Grundgefühl der Traurigkeit miteinander verwebt, hat Granzin gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Diese Erzählungen vibrieren vor Lebensnähe, sind wirklichkeitsgesättigt und wahrhaftig... Eva Menasse schreibt brillant.« Augsburger Allgemeine
»Keine Theorie, echtes Leben. Mal anrührend, mal mit bösem Witz, immer in hinreißender Sprache erzählt. Großartig.« taz, zeozwei Magazin