Ob Krimi, Schlüsselroman oder literarisches Schurkenstück: Dieser Roman erzählt von den Erfahrungen eines Autors mit der Machtausübung im Kulturbetrieb im medialen Zeitalter. Sein Thema sind das Zustandekommen und die Wirkung der öffentlichen Meinung. Martin Walser hat das umstrittene Buch zu einer schlüssigen und ungemein spannenden Hörbuchfassung verdichtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2002Voll berechtigt
Walser-Roman in der Kritik
"Bereits der Titel ist skandalös. Deswegen verrate ich ihn nicht" - mit diesem Satz äußerte Martin Walser bereits im Februar gegenüber der Zeitschrift "Bunte" seine Erwartung, mit seinem neuen, bisher noch unveröffentlichten Roman "Tod eines Kritikers" einen Skandal auszulösen. In dem Gespräch berichtete er damals einige Details der Handlung. Auf die Frage, ob er selbst schon einmal den Wunsch gehabt hätte, ein Verbrecher zu sein, antwortete er: "Wer nicht?" Romane ohne autobiographischen Anteil seien keine Romane, "sondern Soziologie".
Nachdem der Suhrkamp Verlag am Donnerstag an verschiedene Redaktionen die vorläufige Fassung des umstrittenen Romans versandte, haben nun auch andere Zeitungen Stellung genommen. Dabei teilen fast alle Rezensenten der wichtigen Feuilletons den in dieser Zeitung geäußerten Eindruck (F.A.Z. vom 29. Mai). Frank Schirrmacher habe in "dem wesentlichen Punkt völlig recht", so Hellmuth Karasek im "Tagesspiegel". Das Buch sei ein "verstörendes übles Pamphlet": "Walser, und das ist das Schlimmste, holt literarisch nach (und bremst sich dabei nur im allerletzten Moment), was den Nazis nicht gelungen ist." Auch die "Frankfurter Rundschau" glaubt, daß der Roman die Heftigkeit der Vorwürfe "voll rechtfertigt": Nicht nur hantiere Walser mit antisemitischen Klischees, dem Text als Ganzem sei "eine höchst anrüchige motivische Matrix eingearbeitet, die die durch ,Schuld' und ,Schande' neurotisch gestörte deutsche Seele in den direkten Zusammenhang von individuellen und kollektiven Mordphantasien bringt". Auch wenn Rezensionen sich später den Details dieses "geschmacklosen und gefährlichen Buchs" widmen werden, "ausgesprochen werden darf und muß es schon jetzt".
Die "Süddeutsche Zeitung" glaubt als einzige nicht, daß das Buch in irgendeiner Weise Reich-Ranickis Judentum attackiere. Die "skandalöse Schärfe" des Romans erblickt sie vielmehr in der "durchgängigen Sexualisierung des Starkritikers". Doch auch sie hält "Tod eines Kritikers" für ein "Buch des Ressentiments gegen Marcel Reich-Ranicki", das die "Regionen des Degoutanten" nicht scheue. Der Abrechnungsfuror richte sich gegen den Fernsehkritiker und sei "so groß, daß er sich durch die Unausweichlichkeit, im Kritiker zugleich den Juden zu treffen, nicht aufhalten läßt". Die "Welt" dagegen hält den Antisemitismus für zentral, wenn es auch zwei Interpretationsmöglichkeiten gebe: "Nach der einen haben wir es mit einem antisemitischen Schlüsselroman zu tun, nach der anderen mit einem vom Schlüsselromancier dargestellten antisemitischen deutschen Literaturbetrieb." Doch sei der parodistische Zungenschlag vieler Romanfiguren "verräterisch": "Es fällt schwer, solche Witzelei angesichts des Schicksals der realen Frau Reich-Ranicki, die mit ihrem Mann das Warschauer Ghetto und in einem Kellerversteck überlebte, nicht als unerträgliche Geschmacklosigkeit zu empfinden, zumal da sich der Vater von Teofila Reich-Ranicki im Ghetto aus Verzweiflung erhängt hat."
Walser selbst widersprach derweil Gerüchten, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld habe Bedenken gegen die Veröffentlichung gehabt. Er habe im Gegenteil begeistert reagiert und das Buch ein "Meisterstück genannt". Hans Magnus Enzensberger, der wie Walser bei Suhrkamp verlegt wird, kündigte an, den Roman nicht lesen zu wollen. Ein Verlag müsse den Kopf selbst hinhalten, wenn er ein Buch annehme.
F.A.Z.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Walser-Roman in der Kritik
"Bereits der Titel ist skandalös. Deswegen verrate ich ihn nicht" - mit diesem Satz äußerte Martin Walser bereits im Februar gegenüber der Zeitschrift "Bunte" seine Erwartung, mit seinem neuen, bisher noch unveröffentlichten Roman "Tod eines Kritikers" einen Skandal auszulösen. In dem Gespräch berichtete er damals einige Details der Handlung. Auf die Frage, ob er selbst schon einmal den Wunsch gehabt hätte, ein Verbrecher zu sein, antwortete er: "Wer nicht?" Romane ohne autobiographischen Anteil seien keine Romane, "sondern Soziologie".
Nachdem der Suhrkamp Verlag am Donnerstag an verschiedene Redaktionen die vorläufige Fassung des umstrittenen Romans versandte, haben nun auch andere Zeitungen Stellung genommen. Dabei teilen fast alle Rezensenten der wichtigen Feuilletons den in dieser Zeitung geäußerten Eindruck (F.A.Z. vom 29. Mai). Frank Schirrmacher habe in "dem wesentlichen Punkt völlig recht", so Hellmuth Karasek im "Tagesspiegel". Das Buch sei ein "verstörendes übles Pamphlet": "Walser, und das ist das Schlimmste, holt literarisch nach (und bremst sich dabei nur im allerletzten Moment), was den Nazis nicht gelungen ist." Auch die "Frankfurter Rundschau" glaubt, daß der Roman die Heftigkeit der Vorwürfe "voll rechtfertigt": Nicht nur hantiere Walser mit antisemitischen Klischees, dem Text als Ganzem sei "eine höchst anrüchige motivische Matrix eingearbeitet, die die durch ,Schuld' und ,Schande' neurotisch gestörte deutsche Seele in den direkten Zusammenhang von individuellen und kollektiven Mordphantasien bringt". Auch wenn Rezensionen sich später den Details dieses "geschmacklosen und gefährlichen Buchs" widmen werden, "ausgesprochen werden darf und muß es schon jetzt".
Die "Süddeutsche Zeitung" glaubt als einzige nicht, daß das Buch in irgendeiner Weise Reich-Ranickis Judentum attackiere. Die "skandalöse Schärfe" des Romans erblickt sie vielmehr in der "durchgängigen Sexualisierung des Starkritikers". Doch auch sie hält "Tod eines Kritikers" für ein "Buch des Ressentiments gegen Marcel Reich-Ranicki", das die "Regionen des Degoutanten" nicht scheue. Der Abrechnungsfuror richte sich gegen den Fernsehkritiker und sei "so groß, daß er sich durch die Unausweichlichkeit, im Kritiker zugleich den Juden zu treffen, nicht aufhalten läßt". Die "Welt" dagegen hält den Antisemitismus für zentral, wenn es auch zwei Interpretationsmöglichkeiten gebe: "Nach der einen haben wir es mit einem antisemitischen Schlüsselroman zu tun, nach der anderen mit einem vom Schlüsselromancier dargestellten antisemitischen deutschen Literaturbetrieb." Doch sei der parodistische Zungenschlag vieler Romanfiguren "verräterisch": "Es fällt schwer, solche Witzelei angesichts des Schicksals der realen Frau Reich-Ranicki, die mit ihrem Mann das Warschauer Ghetto und in einem Kellerversteck überlebte, nicht als unerträgliche Geschmacklosigkeit zu empfinden, zumal da sich der Vater von Teofila Reich-Ranicki im Ghetto aus Verzweiflung erhängt hat."
Walser selbst widersprach derweil Gerüchten, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld habe Bedenken gegen die Veröffentlichung gehabt. Er habe im Gegenteil begeistert reagiert und das Buch ein "Meisterstück genannt". Hans Magnus Enzensberger, der wie Walser bei Suhrkamp verlegt wird, kündigte an, den Roman nicht lesen zu wollen. Ein Verlag müsse den Kopf selbst hinhalten, wenn er ein Buch annehme.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Inzwischen sei es ja üblich geworden, in recht kurzem Abstand auf eine Buchpublikation das Hörbuch folgen zu lassen, schreibt Christiane Zintzen in zunächst abschätzigem Ton. Im Falle von Martin Walsers umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" sei dies allerdings nicht zu dessen Schaden, versichert sie uns. Erstens sei die akustische Fassung seines Buches gestrafft, zweitens träte die vielfache Brechung der Textstimmen in seiner Lesart viel deutlicher hervor, findet Zintzen. Was zunächst einen Lustgewinn als Schlüsselroman verspreche, weil man die literarischen Figuren stets mit den lebenden Personen vergleichen wolle, so Zintzen, habe sich paradoxerweise schnell erledigt, da man nämlich über das bereits Bekannte heraus nichts Neues erfahre. Damit sei der Vorwurf der polemischen (und antisemitischen ) Zuspitzung eigentlich vom Tisch, lautet Zintzens Schlussfolgerung. Die Rezensentin war dann ganz Ohr für die Sorgen des Literaten Walser: ihr sei nämlich aufgegangen, schreibt Zintzen, was für eine "lustlose Last die Kunst" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Noch nie in der deutschen Verlagsgeschichte hat die Publikation eines Romans eine Vorgeschichte gehabt, die man als einen Prozess beschreiben kann, der mit der Urteilsverkündung begann." (Tilman Krause, Die Welt)