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Eine winzige Insel im Ozean als Brennpunkt der Sehnsucht von vier Menschen: drei Männer und eine Frau, deren Leben und Liebesgeschichten bestimmt werden von dem entlegensten Ort der Welt. Noomi Morholt, südafrikanische Wissenschaftlerin, Edwin Heron Dodgson, Priester und Bruder des berühmten Lewis Carroll; Christian Reval, Kartograph, und Mark Thompson, Briefmarkensammler: ein großer, vieldimensionaler Roman, eine zeitlose Geschichte unstillbarer Passionen und Obsessionen. Der Roman der Sehnsucht.

Produktbeschreibung
Eine winzige Insel im Ozean als Brennpunkt der Sehnsucht von vier Menschen: drei Männer und eine Frau, deren Leben und Liebesgeschichten bestimmt werden von dem entlegensten Ort der Welt. Noomi Morholt, südafrikanische Wissenschaftlerin, Edwin Heron Dodgson, Priester und Bruder des berühmten Lewis Carroll; Christian Reval, Kartograph, und Mark Thompson, Briefmarkensammler: ein großer, vieldimensionaler Roman, eine zeitlose Geschichte unstillbarer Passionen und Obsessionen. Der Roman der Sehnsucht.
Autorenporträt
Raoul Schrott, Jg. 1964, studierte Literatur und Sprachwissenschaft in Innsbruck, Norwich, Paris und Berlin. Er lebt in Innsbruck und Seillans (Provence). Für sein Werk wurde er bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Willst du meine Briefmarkensammlung sehen, Marah?
Der gehörnte Philatelist: Raoul Schrott schifft sich mit Tristan und Isolde in den Südatlantik ein und findet eine Utopie / Von Tilman Spreckelsen

Eigentlich hätte Noomi Morholt die Finger von der Bücherkiste lassen sollen, die irrtümlich in die Polarstation gelangt ist. Doch die Wissenschaftlerin, die zusammen mit neun Männern ein Jahr in der Antarktis verbringt, kann nicht widerstehen. Das Konvolut, das für ein geplantes Museum bestimmt ist, enthält dreizehn Bücher über die Atlantikinsel Tristan da Cunha, ferner ein paar Bände aus dem Privatbesitz des künftigen Kustoden und schließlich die handschriftlichen Aufzeichnungen dreier Männer über einen Zeitraum von neunzig Jahren. "Eine seltsame Auswahl", kommentiert Noomi ihren Fund, "aber von der Bibliothek von Alexandria ist auch nicht mehr übriggeblieben - und vielleicht ließe sich anhand ihrer ebenfalls eine ganze Welt rekonstruieren."

Natürlich wird das so deutlich markierte Vorhaben unmittelbar darauf in Angriff genommen. An dieser Stelle, nach kaum zwanzig Druckseiten, legt Raoul Schrotts üppiger Roman "Tristan da Cunha" bereits die Bedingungen offen, denen er seine Gestalt verdankt. Denn die Welt, die er so ausdauernd wie facettenreich nachzeichnet, ist das kreisrunde, karge und ständig sturmzerzauste Eiland im Nirgendwo des Südatlantik, das 1506 entdeckt und von 1816 an dauerhaft besiedelt wurde. Die Handbibliothek aus der fehlgeleiteten Bücherkiste liefert den Rohstoff zum Roman: Siedlungsgeschichte, Klima, Erfahrungsberichte von Seefahrern, Flora und Fauna, Naturbeobachtungen wie etwa die Schilderung des bislang letzten Vulkanausbruchs auf der Insel im Jahr 1961, der zu einem zweijährigen Exil der knapp 270 Bewohner in England führte, bis sie wieder in ihre unwirtliche Heimat zurückkehren konnten - ganz gegen den Willen der britischen Behörden, die das Eiland am liebsten menschenleer gesehen hätten.

Mit den drei Manuskripten enthält die Bücherkiste aber gleichzeitig auch schon den größten Teil des beginnenden Romans: die Berichte dreier Männer, die der Insel auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Zeiten verfallen sind, die sie aufsuchen, um auf ihr zu wohnen, die sie vermessen oder lediglich aus der Ferne erforschen. Wesentlich versteckter ist schließlich der Zusammenhang, den die "seltsame Auswahl" der übrigen Bücher aus dieser Kiste mit Schrotts Roman aufweisen: Lewis Carroll, Darwin, Dante und "ein Handbuch zum Gebrauch für Priester", ein brasilianischer Roman und vor allem das Epos von Tristan und Isolde. Dabei ist dieses scheinbar abseitige Konvolut das missing link zwischen den beiden anderen. Es spannt den Bezugsrahmen auf, vor dessen Hintergrund die Inselgeschichte erzählt und in die spezifische Form der drei Manuskripte überführt wird - in der Kiste sind paradoxerweise nebeneinander Stoff, Hinweise auf die Methode und das Ergebnis der literarischen Weltrekonstruktion zu finden, von der Noomi träumt. An ihr ist es nun, dem Fund ihre eigene Geschichte an die Seite zu stellen.

Diese Konstellation ist es, die Schrotts polyperspektivische und alles andere als geradlinige Inselgeschichte von ähnlichen Versuchen unterscheidet, in einem starkleibigen Roman diachron von einer möglichst entlegenen Region zu berichten. Seine vier Erzähler - neben Noomi sind das ein Pfarrer, den es 1881 bis 1886 auf Tristan da Cunha verschlägt, ein Funker, der hier seine große Liebe findet und wieder verliert, ein Briefmarkensammler, der eine philatelistisch inspirierte Geschichte der Insel verfaßt - steuern einen jeweils eigenen Blickwinkel, Sprachstil und Hintergrund bei. Und weil die Konvolute in einzelne Abschnitte aufgelöst und munter gemischt dargeboten werden, ist oft die assoziative Verknüpfung dieser Teile von hohem Reiz, die unterschwelligen Signale, die das Journal Revals mit den Briefen Dogdsons, der Studie Thomsens und Notizen Noomi Morholts in Bezug setzen, gerade wenn sich Sprache und Stil der Manuskripte so auffällig voneinander unterscheiden.

Da ist der ängstlich eingefärbte religiöse Überschwang des Pfarrers Edwin Heron Dodgson, der in Briefen an seinen Bruder Lewis Carroll von seinen Kämpfen um einen Kirchenbau und seiner Verstrickung in eine Liebesgeschichte mit einer mystischen Schwärmerin berichtet, die schließlich sogar in den Todessturz eines Rivalen mündet (das "Handbuch zum Gebrauch für Priester" wird sich für die Schilderung der Zeremonien als nützlich erwiesen haben). Da ist der bemüht sachliche Bericht des Abenteurers Christian Reval, der von seiner lebenslangen Liebe zur herben, nach Tristan da Cunha verheirateten Irin Marah wie mit zusammengekniffenen Zähnen erzählt und dabei seine Ratlosigkeit über den Fortgang dieser Liebe kaum zu verbergen weiß - unter den Büchern aus Noomis Kiste ist auch der hilfreiche Bericht des Funkers D. M. Booy, der wie Christian Reval während des Zweiten Weltkriegs auf der Insel stationiert war.

Und da ist die Wut und Resignation des gehörnten Philatelisten Mark Thomsen, die in seinen mit winzigen Buchstaben unter der Lupe gekritzelten Zeilen aufscheint, in denen er vom Verlust seiner Frau - auch sie heißt Marah - an einen rivalisierenden Briefmarkenhändler berichtet. Seiner unter der Fahne der Sachlichkeit segelnden Erzählung von fünfhundert Jahren tristanitischer Geschichte ist die Einfärbung durch das Selbsterlebte am deutlichsten anzumerken. Denn wenn er von Entdeckungsreisenden und Siedlern, von Hochstaplern, Soldaten, Fischern und Händlern erzählt, die sich die Insel einverleiben wollten und dabei doch viel stärker von deren Ödnis und Kargheit geprägt wurden, als sie selbst auf ihr Spuren hinterlassen konnten, entwirft er immer wieder Konstellationen, die ihm aus dem eigenen Leben vertraut sind: Die Frauen in diesen fünf Jahrhunderte umspannenden Berichten heißen sehr oft Marah, sie wenden sich von ihren Ehemännern ab, demütigen sie offen oder schleichen sich heimlich davon, sie verfallen dem rätselhaften Zauber von Fremden, neben dem die solide heimische Langeweile aufgehoben scheint.

Sosehr sich die Erzähler und die Erzählungen in diesem Roman unterscheiden, ergänzen oder widersprechen, so deutlich wird doch in diesem polyphonen Gewebe, daß sie neben der Insel, über die sie schreiben, ein Zweites teilen, das die Texte in verblüffender Weise prägt - und dadurch auch den Zusammenhalt des gesamten Romans befördert. Es ist der gelegentlich überdeutliche, oft auch versteckte Verweis auf den mittelalterlichen Tristanroman. Schrotts Erzähler sind ausnahmslos Liebende, und die Dreiecksgeschichten, in die sie geraten oder die sie beobachten, folgen zumeist dem Muster, das im "Tristan" vorgegeben ist. So liebt Christian Reval eine Frau seines Alters, die dem deutlich älteren Fischer Marcus versprochen ist und die er auf seinem Boot aus Irland auf die Atlantikinsel bringt - natürlich nehmen Christian und Marah unterwegs gemeinsam einen Trank zu sich, den ihnen Marahs Schwester bereitet hat, die zu allem Überfluß den Namen von Isoldes Amme trägt: Brangain. Es fehlt auch nicht die berühmte Belauschungsszene, in der die Liebenden eines Morgens an den Fußspuren in der Nähe ihres Lagers feststellen, daß sie von dem eifersüchtigen Ehemann beobachtet wurden - Marke heißt er bei Gottfried von Straßburg, Marcus bei Schrott. Die Zahl dieser Anklänge ist hoch, kaum eine Szene aus der Lebensgeschichte Christian Revals, die sich nicht mit der Vorlage in Beziehung setzen ließe und wo Schrott nicht mit Namensgleichheit oder wenigstens Vokalfolgen (wie in "Tristan" / "Christian") spielt, sind es Figurenkonstellationen oder Episoden, die ein Entsprechungsverhältnis eingehen.

Besonders liebevoll schmückt Schrott die "Isolde Weißhand"-Episode am Ende des Romans aus, die Geschichte jener Frau, die Tristan statt der verbotenen Geliebten heiratet - hier heißt sie Maria, ihre "schlanken weißen Finger" werden gleich mehrfach gerühmt, ihr Familienname entspricht dem von Tristans letztem Gefährten, aber Schrott erspart ihr, wie ihr literarisches Vorbild den Tod ihres Gatten herbeizuführen. Statt dessen stirbt sie mit ihm, und das berühmte Schlußbild des "Tristan", das sein Grab neben Markes Frau Isolde zeigt, wird hier entscheidend verändert: Jetzt liegt Christian Reval neben seiner Frau Maria, nicht neben Marah. Der bleibt nur, die Toten zu identifizieren.

Die Perspektive des betrogenen Dritten steuert schließlich Mark Thomsen bei, schon durch seinen Namen auf diese Rolle festgelegt, und auch die Geschichte der Insel, wie er sie niederschreibt, ist gespickt mit verborgenen Verweisen auf den mittelalterlichen Roman. All dies kann man als literarisches Puzzlespiel goutieren, als Versuch werten, der auseinanderdriftenden Erzählung von der Atlantikinsel einen nachträglichen Zusammenhang zu verschaffen. Und wer dem Gleichklang der Worte vertraut, wird Schrott auf seinen additiven Streifzügen durch die Welt- und Literaturgeschichte folgen, wird von der Markensammlung über Mark Thomsen zu König Marke, von Tristan da Cunha über Tristan den Liebenden zu Christian Reval, von Maria über Marah zur biblischen Marah gelangen, und weil die eigentlich Naemi heißt, wird er auch den Namen Noomi Morholt keineswegs weit hergeholt finden, zumal auch Morholt eine Gestalt aus dem "Tristan"-Roman ist - immer wieder scheint sich der Kreis der Anspielungen zu schließen, um sich dann doch ins Uferlose zu weiten.

Natürlich ist das oft zuviel, und wenn man im Übermaß Episoden hinehmen muß, die erkennbar um der literarischen Vorlage oder der durch das Buch mäandernden Figurennamen willen entworfen wurden, wünscht man sich statt dessen ein bißchen mehr von jenen großartigen Naturschilderungen, den regenfeuchten Wanderungen, den Besuchen auf den Vogelklippen oder in den klammen Steinhäusern der Inselbewohner, die Raoul Schrott immer wieder mit überzeugender Hingabe entwirft.

Und auch seine Deutung Tristan da Cunhas als Ort, an dem sich Utopien ansiedeln und sogar kurzzeitig leben lassen, bis umgekehrt aus der Warte der Insulaner die übrige Welt als staunenswerte Utopie erscheint, ist evident. Denn die große Faszination, die Tristan da Cunha als Sehnsuchtsort in der Literatur besitzt (und die so merkwürdig an den tatsächlichen Lebensbedingungen der Vulkaninsel vorbeigeht), hat eine lange Tradition - schon Johann Gottfried Schnabel hat im frühen achtzehnten Jahrhundert seine Fabel von der Insel Felsenburg dort angesiedelt, wie Arno Schmidt herausgefunden hat. Der zivilisationsmüde Schmidt beließ es allerdings nicht dabei: "Müßte man nicht mir, der ich diese fremdeste aller Inseln als eine nunmehr hochinteressant=besungene nachwies, eine Siedlerstelle dortselbst vergönnen=zuweisen? Dicht neben der kleinen Funkstation, so twenty acres, und ein Wellblechhüttchen von 50 Quadratmetern? Überfahrt bezahle=pumpe ich selbst:?!" Vermutlich hätte er sich schon bald das Geld für die Rückreise beschaffen müssen. Daß die Insel ein Ort der Literatur ist, macht Schrott eindringlich klar. Daß sie nicht unbedingt ein Ort zum Leben ist, allerdings auch.

Raoul Schrott: "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Welt." Roman. Hanser Verlag, München 2003. 720 S., geb., 24,90 [Euro].

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