KWas soll eine Frau tun, die mit ihren Kindern auf engstem Raum in einer zerbombten Stadt lebt? Die kaum Geld hat, um Essen auf den Tisch zu bringen, mit einem Mann, der im Angesicht der Not zur Flasche greift, die Kinder schlägt und erschrocken vor sich selbst davonläuft? Die Ehe von Käthe und Fred steht kurz vor ihrem Ende. Vierundzwanzig Stunden ist der Hörer ganz nah bei ihnen, bei ihrem Leben, ihrem Leiden und ihrem Lieben. Vierundzwanzig Stunden, in denen die Ohnmacht und die Verzweiflung der Menschen im kriegszerstörten Deutschland unmittelbar spürbar werden. Eindrücklich und ungekürzt gelesen von Frauke Poolman und Daniel Minetti.Ungekürzte Lesung mit Daniel Minetti, Frauke Poolman1 mp3-CD ca. 5 h 28 min
»Der Roman darf ein Ereignis genannt werden!« F.A.Z.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.1999Eine Ehe in dieser Zeit
Heinrich Bölls Roman "Und sagte kein einziges Wort"
Heute vor fünfzig Jahren erschien die erste Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für das Feuilleton zeichnete im Herausgebergremium von 1949 bis 1973 Karl Korn verantwortlich. Korn (1908 bis 1991), aus Wiesbaden gebürtig, hatte den Redakteursberuf in Berlin erlernt und war 1940 mit Berufsverbot belegt worden. Bei Kriegsende geriet er in französische Gefangenschaft. Das Feuilleton dieser Zeitung prägte er durch eine Kulturkritik weiter Interessen und strenger Maßstäbe, die in der Rezension über das Rezensorische hinausging und in den neuen Formen der Kunst ihre alten Themen verwandelt wiederfand. Korn, der von sich sagte, er habe von Jugend an "den Widerspruch gewisser linker Neigungen mit erzkonservativen Grundneigungen zu verbinden" gelernt, erkannte früh den Rang von Heinrich Böll, mit dem ihn nicht nur die katholische Herkunft verband. Korns Erinnerungen "Lange Lehrzeit", dem Rechenschaftsbericht über seine moralische Erziehung, widmete der Nobelpreisträger 1975 eine Rezension in der "Zeit". Korns glückliche Jahre als Lektor in Toulouse von 1932 bis 1934 nahm Böll zum Anlass, eine Art Gebet an den "Gott in Frankreich" zu richten: "Warum hast du so wenig Urbanität und Gelassenheit für uns Allemands übriggelassen, so wenig Möglichkeit, beides zu sein: konservativ und links, ländlich und städtisch, gebildet und vital?"
F.A.Z.
In einem einzigen Zimmer, von dem sie einen Verschlag für den Jüngsten abgeteilt haben, haust eine Familie, Eltern und drei Kinder. Es ist Sonntagnachmittag. Die Frau hat den gräßlichen Kampf gegen den Kalkschmutz, der von der im Bombenkrieg morsch gewordenen Wand herunterrieselt, aufgegeben und lauscht in den Lärm, der aus dem großstädtischen Hof hereindringt: Drei Gottesdienste, zwei Unterhaltungskonzerte, ein Vortrag und der heisere Sang eines Negers quellen aus den Lautsprechern und überschreien sich. Die Frau hört den näselnden Neger singen: ". . . sie schlugen ihn ans Kreuz . . ., und er sagte kein einziges Wort!" Und sagte kein einziges Wort, hallt es in der Frau nach. Das Wort steht über der Passion ihres Lebens. Unschwer erkennt der Leser als den Schauplatz die düsteren Wohnviertel um den Kölner Hauptbahnhof, wo Bombenschutt, Buden und die von Alter und Krieg geschwärzten Mauern erhaltener und notdürftig geflickter Häuser wie stumme Zeugen des geheimen Leidens dieser Zeit anzutreffen sind.
Die Kapitel dieses erschütternden Romans sind wie ein Wechselgesang aufgeteilt. Der Mann, der es in der düsteren Enge nicht mehr aushielt, einer, dessen Nerven im russischen Feldzug schwach und krank wurden, der ein armseliges Angestelltenleben fristet, den die Wildnis seiner heimischen Stadt zum Lungern, Trinken und Spielen an ärmlichen Groschenautomaten verlockt, berichtet, wie er aus dem einzigen Familienzimmer entflohen ist und sich nur von Zeit zu Zeit mit seiner Frau auf dem Niemandsland des Stadtrands zwischen Straßenbahndepots und Fabrikmauern oder in den lichtlosen Zimmern ärmlicher Absteigequartiere trifft, wie er auf Bahnhöfen pennt und sich des Morgens manchmal in eine kalte Kirche stiehlt, um von fern der sanften Liturgie einer stillen Frühmesse zu lauschen. Der Mann ist einer aus der Millionenzahl der Hoffnungslosen, zu früh Enttäuschten. Er hat die Energie und die Fähigkeit zu Illusionen verloren. Als er eines Tages in böser Gereiztheit seine Kinder schlug, weil sie ihn mit ihrem Spiel und bloßen Dasein störten und an sein Elend erinnerten, ist er ausgebrochen und zum herumstreunenden Strolch geworden.
Die Frau erlebt ihr Leben wie in einem intensiven Traum. Ihr Teil ist: kein einziges Wort. Sie schickt die Kinder zur Prozession, erträgt, daß die dreimal Gottgefälligen der in der Gemeinde Vorbildlichen sie als schlechte Christin mißachten, fügt sich in die tägliche Misere der hundert und aberhundert Sorgen um Kleider und Essen und die schmalen Freuden der Kinder, stiehlt sich auf jeden Anruf des herumstreunenden Mannes aus dem Haus, um ihm zu gehören, rechnet mit den Groschen - und sagt kein Wort. Man wird in moderner Literatur lange suchen müssen, bis man eine ähnlich tief angelegte weibliche Gestalt wiederfindet.
Der Leser wird sich in manchem an Graham Greene erinnert fühlen. Aber Bölls Buch ist wesentlicher, es kann nicht mit dem Aufweis literarischer Verwandtschaft abgetan werden. Die Umwelt, die Formen des Denkens und Empfindens, die Gebundenheit, die Schicksalserfahrung in diesem Roman sind wesenhaft katholisch. Aber die Probleme bleiben nicht im Konfessionellen eingegrenzt. Das Leiden der Menschen dieses Buches ist das Leiden des Menschen dieser Zeit. Der Konflikt, der durch den Ausbruch des Mannes aus der Lebensgemeinschaft mit seiner Frau entsteht, hat nichts mit erotischer Anarchie zu tun. Die Ehe bleibt intakt und wird vollzogen. Der Konflikt ist tiefer, schmerzlicher und menschlicher. Der Mann erträgt die Verdammung zur Armut und zur Unfreiheit nicht. Er versucht die Freiheit nicht durch Energie, das hieße durch Konkurrenz, er bleibt arm, weil er weiß, daß es für ihn kein Ausbrechen gibt - er versucht seine Ehe als Eros zu retten. Er scheut das Opfer oder, christlich konkret gesprochen, das Kreuz. Die Frau dagegen erfüllt; sie ist, verachtet und hintangesetzt von den äußerlich Heiligen, die in den Gemeinden glänzen und in den Vereinen und Kommissionen Macht haben, die wirkliche Kreuzträgerin, ob sie sich nun die Lippen schminkt, um mit dem Manne tanzen und schlafen zu gehen, ob sie die Groschen zählt und den Putzeimer zum tausendsten Mal in den Ausguß leert, ob sie betet oder nachts in ihrer Verlassenheit weint, ob sie Schaufenster mustert oder die Lossprechung von einem armseligen, unsicheren Priester begehrt. Zu ihr kehrt der Mann in einem ans Herz greifenden Schlußkapitel, dessen Verhaltenheit und Schlichtheit den Autor als einen Mann ausweisen, der mehr kann als literarische Experimente, zurück. Es gibt unseres Wissens kein modernes Buch, das die Ehe deutlicher und überzeugter unter das Kreuz stellte. Leiden und Gnade, Kreuz und Glück, Bindung und Freiheit werden hier ein und dasselbe.
Was an Argumenten wider die Gesellschaft und ihre Scheinordnung, die in Wahrheit eine Unordnung ist, in dem Buch steckt, wird allein von diesem Schluß her richtig einzuschätzen sein. Es bedarf wohl keiner Prophetengabe, um vorauszusagen, daß das Buch mißverstanden und gerade von mancher katholischen Seite als ärgerlich angesehen werden wird. Böll hat einen nur aus tiefem Drinnenstehen möglichen Blick für den Zwiespalt, der in der sakramentalen Macht und der menschlichen Schwäche und Hinfälligkeit des Priestertums liegt. Manchmal sind Sätze der Enttäuschung und des Abscheus vor der Fassade der katholischen Institution nicht genügend distanziert. Man meint gelegentlich den Autor zu hören statt seiner Romanfigur. Doch wäre es ein schlimmes Zeichen, wenn ein gewisser Traditionskatholizismus, der seine Stärke in Demonstrationen und Organisationen sieht, die Kritik aus dem Munde derer, die das Kreuz tragen, nicht vertrüge.
Ein anders mögliches Mißverständnis könnte aus der Spannung entstehen, in der Böll die beiden Hauptfiguren seines Romans zur christlich "geordneten" Gesellschaft stehend zeigt. Wenn hinter dem Leiden und Aufbegehren das Konzept einer konfliktlosen Gesellschaft der Zukunft stünde, dann wäre das Buch ganz anders. Das Buch ist aber gerade darum so stark und echt, weil es nicht von sogenannten Ideologien getrübt ist, weil es das Leiden stehen läßt. Freilich ist das Kreuz immer ein Entlarver. Man kann es auch eine Predigt nennen. Und Böll hat einen Roman geschrieben, nicht eine Heiligenlegende. In seinem Buch sind auch die Niedrigen begierig nach Glück und Lust, schwach und der Schwermut als der bittersten Versuchung ausgeliefert.
Der Roman darf ein Ereignis genannt werden, weil er undoktrinär ist, sich von literarischen Experimenten und Richtungen fernhält, die unmittelbare menschliche Not ehrlich und wahrhaftig ausspricht, nicht gescheit sein will, nur wahr, nichts als wahr, rücksichtslos wahr. Seit wir dieses Buch gelesen haben, ist uns wieder klar, daß die Literatur trotz Kino und Toto, trotz Ideologien, trotz Klüngeln und Meinungsstatistik, trotz Serien und Bestsellerrummel eine, die eine entscheidende Chance hat: den Menschen zu packen, ihn um und um zu wenden, ihn neu zu machen. Böll ist keiner von denen, die noch dem Aberglauben des neunzehnten Jahrhunderts anhängen, man könne mit Philosophie und Dialektik die Welt verändern. Böll ist ein Christ. Was er ändern will, ist der Mensch, der er, der Autor, selbst ist. Wenn mich künftig einer fragt, was denn die Deutschen heute an Büchern von wirklicher Kraft und Wahrhaftigkeit vorzuweisen hätten, werde ich den Böll nennen.
Zur Form des Buches ist mit solcher Aussage das Wesentliche schon vermerkt. Es gibt keine Trennung von Form und Inhalt - es sei denn in der Theorie und aus Gründen der Disposition. Wenn Bölls Buch das, was wir thesenhaft herauszupräparieren suchten, thesenhaft enthielte, dann wäre es schwach und eine Dissertation. Das ist es gerade nicht. Das Buch ist durch und durch episch konkret. Besonders die verhaltene Lyrik, die gelegentlich an Trakls Sensibilität denken läßt, ist immer epische Aktion. Wie werden die vereinsamten Straßen an Sonntagnachmittagen Aktion, wie die Szenen in abseitigen Winkeln der Kirche Sieben Schmerzen! Böll versteht sich - darin dem vielfach mißverstandenen Wolfgang Koeppen verwandt - großartig auf die Darstellung des Phänomens: Großstadt. Wie das durcheinanderkreischt, wie sich aus dem Banalen der Reklame und der Spruchbänder und Tagungsparolen (Vertrau dich deinem Drogisten an!) eine makabre Kulisse für das verschüttete, nicht zu Wort kommende Menschenschicksal ergibt, beziehungsvoll, ironisch, unmenschlich! Oder wie Böll in Spiegeln den vordergründigen Realismus Tiefe gewinnen läßt, immer wieder in Spiegeln, in die seine Menschen sehen. Und die Kinder! Da ist jede Regung der Scheu und der Freude aus einem Mitvollzug erkannt, der über die äußeren Regungen ins Innere dringt. Böll setzt die Dialoge sicher und knapp, vermag plötzlich abzuschalten und in eine Art von innerem Monolog überzuwechseln, der einen geheimen Gesprächspartner hat - Gott.
KARL KORN.
Heinrich Böll: "Und sagte kein einziges Wort". Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 1953. 215 S., 10,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinrich Bölls Roman "Und sagte kein einziges Wort"
Heute vor fünfzig Jahren erschien die erste Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für das Feuilleton zeichnete im Herausgebergremium von 1949 bis 1973 Karl Korn verantwortlich. Korn (1908 bis 1991), aus Wiesbaden gebürtig, hatte den Redakteursberuf in Berlin erlernt und war 1940 mit Berufsverbot belegt worden. Bei Kriegsende geriet er in französische Gefangenschaft. Das Feuilleton dieser Zeitung prägte er durch eine Kulturkritik weiter Interessen und strenger Maßstäbe, die in der Rezension über das Rezensorische hinausging und in den neuen Formen der Kunst ihre alten Themen verwandelt wiederfand. Korn, der von sich sagte, er habe von Jugend an "den Widerspruch gewisser linker Neigungen mit erzkonservativen Grundneigungen zu verbinden" gelernt, erkannte früh den Rang von Heinrich Böll, mit dem ihn nicht nur die katholische Herkunft verband. Korns Erinnerungen "Lange Lehrzeit", dem Rechenschaftsbericht über seine moralische Erziehung, widmete der Nobelpreisträger 1975 eine Rezension in der "Zeit". Korns glückliche Jahre als Lektor in Toulouse von 1932 bis 1934 nahm Böll zum Anlass, eine Art Gebet an den "Gott in Frankreich" zu richten: "Warum hast du so wenig Urbanität und Gelassenheit für uns Allemands übriggelassen, so wenig Möglichkeit, beides zu sein: konservativ und links, ländlich und städtisch, gebildet und vital?"
F.A.Z.
In einem einzigen Zimmer, von dem sie einen Verschlag für den Jüngsten abgeteilt haben, haust eine Familie, Eltern und drei Kinder. Es ist Sonntagnachmittag. Die Frau hat den gräßlichen Kampf gegen den Kalkschmutz, der von der im Bombenkrieg morsch gewordenen Wand herunterrieselt, aufgegeben und lauscht in den Lärm, der aus dem großstädtischen Hof hereindringt: Drei Gottesdienste, zwei Unterhaltungskonzerte, ein Vortrag und der heisere Sang eines Negers quellen aus den Lautsprechern und überschreien sich. Die Frau hört den näselnden Neger singen: ". . . sie schlugen ihn ans Kreuz . . ., und er sagte kein einziges Wort!" Und sagte kein einziges Wort, hallt es in der Frau nach. Das Wort steht über der Passion ihres Lebens. Unschwer erkennt der Leser als den Schauplatz die düsteren Wohnviertel um den Kölner Hauptbahnhof, wo Bombenschutt, Buden und die von Alter und Krieg geschwärzten Mauern erhaltener und notdürftig geflickter Häuser wie stumme Zeugen des geheimen Leidens dieser Zeit anzutreffen sind.
Die Kapitel dieses erschütternden Romans sind wie ein Wechselgesang aufgeteilt. Der Mann, der es in der düsteren Enge nicht mehr aushielt, einer, dessen Nerven im russischen Feldzug schwach und krank wurden, der ein armseliges Angestelltenleben fristet, den die Wildnis seiner heimischen Stadt zum Lungern, Trinken und Spielen an ärmlichen Groschenautomaten verlockt, berichtet, wie er aus dem einzigen Familienzimmer entflohen ist und sich nur von Zeit zu Zeit mit seiner Frau auf dem Niemandsland des Stadtrands zwischen Straßenbahndepots und Fabrikmauern oder in den lichtlosen Zimmern ärmlicher Absteigequartiere trifft, wie er auf Bahnhöfen pennt und sich des Morgens manchmal in eine kalte Kirche stiehlt, um von fern der sanften Liturgie einer stillen Frühmesse zu lauschen. Der Mann ist einer aus der Millionenzahl der Hoffnungslosen, zu früh Enttäuschten. Er hat die Energie und die Fähigkeit zu Illusionen verloren. Als er eines Tages in böser Gereiztheit seine Kinder schlug, weil sie ihn mit ihrem Spiel und bloßen Dasein störten und an sein Elend erinnerten, ist er ausgebrochen und zum herumstreunenden Strolch geworden.
Die Frau erlebt ihr Leben wie in einem intensiven Traum. Ihr Teil ist: kein einziges Wort. Sie schickt die Kinder zur Prozession, erträgt, daß die dreimal Gottgefälligen der in der Gemeinde Vorbildlichen sie als schlechte Christin mißachten, fügt sich in die tägliche Misere der hundert und aberhundert Sorgen um Kleider und Essen und die schmalen Freuden der Kinder, stiehlt sich auf jeden Anruf des herumstreunenden Mannes aus dem Haus, um ihm zu gehören, rechnet mit den Groschen - und sagt kein Wort. Man wird in moderner Literatur lange suchen müssen, bis man eine ähnlich tief angelegte weibliche Gestalt wiederfindet.
Der Leser wird sich in manchem an Graham Greene erinnert fühlen. Aber Bölls Buch ist wesentlicher, es kann nicht mit dem Aufweis literarischer Verwandtschaft abgetan werden. Die Umwelt, die Formen des Denkens und Empfindens, die Gebundenheit, die Schicksalserfahrung in diesem Roman sind wesenhaft katholisch. Aber die Probleme bleiben nicht im Konfessionellen eingegrenzt. Das Leiden der Menschen dieses Buches ist das Leiden des Menschen dieser Zeit. Der Konflikt, der durch den Ausbruch des Mannes aus der Lebensgemeinschaft mit seiner Frau entsteht, hat nichts mit erotischer Anarchie zu tun. Die Ehe bleibt intakt und wird vollzogen. Der Konflikt ist tiefer, schmerzlicher und menschlicher. Der Mann erträgt die Verdammung zur Armut und zur Unfreiheit nicht. Er versucht die Freiheit nicht durch Energie, das hieße durch Konkurrenz, er bleibt arm, weil er weiß, daß es für ihn kein Ausbrechen gibt - er versucht seine Ehe als Eros zu retten. Er scheut das Opfer oder, christlich konkret gesprochen, das Kreuz. Die Frau dagegen erfüllt; sie ist, verachtet und hintangesetzt von den äußerlich Heiligen, die in den Gemeinden glänzen und in den Vereinen und Kommissionen Macht haben, die wirkliche Kreuzträgerin, ob sie sich nun die Lippen schminkt, um mit dem Manne tanzen und schlafen zu gehen, ob sie die Groschen zählt und den Putzeimer zum tausendsten Mal in den Ausguß leert, ob sie betet oder nachts in ihrer Verlassenheit weint, ob sie Schaufenster mustert oder die Lossprechung von einem armseligen, unsicheren Priester begehrt. Zu ihr kehrt der Mann in einem ans Herz greifenden Schlußkapitel, dessen Verhaltenheit und Schlichtheit den Autor als einen Mann ausweisen, der mehr kann als literarische Experimente, zurück. Es gibt unseres Wissens kein modernes Buch, das die Ehe deutlicher und überzeugter unter das Kreuz stellte. Leiden und Gnade, Kreuz und Glück, Bindung und Freiheit werden hier ein und dasselbe.
Was an Argumenten wider die Gesellschaft und ihre Scheinordnung, die in Wahrheit eine Unordnung ist, in dem Buch steckt, wird allein von diesem Schluß her richtig einzuschätzen sein. Es bedarf wohl keiner Prophetengabe, um vorauszusagen, daß das Buch mißverstanden und gerade von mancher katholischen Seite als ärgerlich angesehen werden wird. Böll hat einen nur aus tiefem Drinnenstehen möglichen Blick für den Zwiespalt, der in der sakramentalen Macht und der menschlichen Schwäche und Hinfälligkeit des Priestertums liegt. Manchmal sind Sätze der Enttäuschung und des Abscheus vor der Fassade der katholischen Institution nicht genügend distanziert. Man meint gelegentlich den Autor zu hören statt seiner Romanfigur. Doch wäre es ein schlimmes Zeichen, wenn ein gewisser Traditionskatholizismus, der seine Stärke in Demonstrationen und Organisationen sieht, die Kritik aus dem Munde derer, die das Kreuz tragen, nicht vertrüge.
Ein anders mögliches Mißverständnis könnte aus der Spannung entstehen, in der Böll die beiden Hauptfiguren seines Romans zur christlich "geordneten" Gesellschaft stehend zeigt. Wenn hinter dem Leiden und Aufbegehren das Konzept einer konfliktlosen Gesellschaft der Zukunft stünde, dann wäre das Buch ganz anders. Das Buch ist aber gerade darum so stark und echt, weil es nicht von sogenannten Ideologien getrübt ist, weil es das Leiden stehen läßt. Freilich ist das Kreuz immer ein Entlarver. Man kann es auch eine Predigt nennen. Und Böll hat einen Roman geschrieben, nicht eine Heiligenlegende. In seinem Buch sind auch die Niedrigen begierig nach Glück und Lust, schwach und der Schwermut als der bittersten Versuchung ausgeliefert.
Der Roman darf ein Ereignis genannt werden, weil er undoktrinär ist, sich von literarischen Experimenten und Richtungen fernhält, die unmittelbare menschliche Not ehrlich und wahrhaftig ausspricht, nicht gescheit sein will, nur wahr, nichts als wahr, rücksichtslos wahr. Seit wir dieses Buch gelesen haben, ist uns wieder klar, daß die Literatur trotz Kino und Toto, trotz Ideologien, trotz Klüngeln und Meinungsstatistik, trotz Serien und Bestsellerrummel eine, die eine entscheidende Chance hat: den Menschen zu packen, ihn um und um zu wenden, ihn neu zu machen. Böll ist keiner von denen, die noch dem Aberglauben des neunzehnten Jahrhunderts anhängen, man könne mit Philosophie und Dialektik die Welt verändern. Böll ist ein Christ. Was er ändern will, ist der Mensch, der er, der Autor, selbst ist. Wenn mich künftig einer fragt, was denn die Deutschen heute an Büchern von wirklicher Kraft und Wahrhaftigkeit vorzuweisen hätten, werde ich den Böll nennen.
Zur Form des Buches ist mit solcher Aussage das Wesentliche schon vermerkt. Es gibt keine Trennung von Form und Inhalt - es sei denn in der Theorie und aus Gründen der Disposition. Wenn Bölls Buch das, was wir thesenhaft herauszupräparieren suchten, thesenhaft enthielte, dann wäre es schwach und eine Dissertation. Das ist es gerade nicht. Das Buch ist durch und durch episch konkret. Besonders die verhaltene Lyrik, die gelegentlich an Trakls Sensibilität denken läßt, ist immer epische Aktion. Wie werden die vereinsamten Straßen an Sonntagnachmittagen Aktion, wie die Szenen in abseitigen Winkeln der Kirche Sieben Schmerzen! Böll versteht sich - darin dem vielfach mißverstandenen Wolfgang Koeppen verwandt - großartig auf die Darstellung des Phänomens: Großstadt. Wie das durcheinanderkreischt, wie sich aus dem Banalen der Reklame und der Spruchbänder und Tagungsparolen (Vertrau dich deinem Drogisten an!) eine makabre Kulisse für das verschüttete, nicht zu Wort kommende Menschenschicksal ergibt, beziehungsvoll, ironisch, unmenschlich! Oder wie Böll in Spiegeln den vordergründigen Realismus Tiefe gewinnen läßt, immer wieder in Spiegeln, in die seine Menschen sehen. Und die Kinder! Da ist jede Regung der Scheu und der Freude aus einem Mitvollzug erkannt, der über die äußeren Regungen ins Innere dringt. Böll setzt die Dialoge sicher und knapp, vermag plötzlich abzuschalten und in eine Art von innerem Monolog überzuwechseln, der einen geheimen Gesprächspartner hat - Gott.
KARL KORN.
Heinrich Böll: "Und sagte kein einziges Wort". Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 1953. 215 S., 10,80 DM.
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»Wie so oft stellte der Katholik Heinrich Böll auch in diesem Roman die Frage nach christlichem Denken und Handeln. Auf der einen Seite steht der Glaube der Armen, dem Gebot der Nächstenliebe und der Nachfolge Christi auch im Leiden verpflichtet, auf der anderen Seite eine arrogante Amtskirche, die sich in erster Linie institutionell behaupten will und die Gescheiterten mit moralischen Urteilen abkanzelt. Man mag Bölls Antithesen von Armut und Wohlstand, auch seine Symbolik sozialer Räume als klischeehaft empfinden. Entgegenzuhalten ist, dass das Leben manchmal nichts anderes bietet als Klischees. Hans Werner Richter, der langjährige Mentor der Gruppe 47, hielt jedenfalls >Und sagte kein einziges Wort< für das "beste Buch, das in der Nachkriegszeit geschrieben worden ist.".« Schacherreiters Bücherregal, OÖNachrichten 30.07.2008