Verleger Helge Malchow, Übersetzer Ulrich Blumenbach sowie Literaturkritiker Elmar Krekeler und Denis Scheck stellen den Roman vor, aus dem acht Schauspieler ein Best-of zu Gehör bringen. Dieser Live-Mitschnitt ist so tiefgründig, satirisch, spannend, originell, eindrucksvoll und traurig wie das Original - als Hörbuch bekommt es gegenüber der literarischen Vorlage nun noch eine ganz eigene Intensität.
Nicht allein der schiere Umfang, sondern vor allem die sprachliche Kreativität, die ungeheure Themenvielfalt, die treffsichere Gesellschaftskritik, scharfe Analyse sowie der Humor machten diesen Roman zum Meilenstein der Literatur und zu DEM Feuilleton-Ereignis des Jahres 2009.
(2 CDs, Laufzeit: 2h 50)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Nicht allein der schiere Umfang, sondern vor allem die sprachliche Kreativität, die ungeheure Themenvielfalt, die treffsichere Gesellschaftskritik, scharfe Analyse sowie der Humor machten diesen Roman zum Meilenstein der Literatur und zu DEM Feuilleton-Ereignis des Jahres 2009.
(2 CDs, Laufzeit: 2h 50)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
CD 1 | |||
1 | Begrüßung | 00:00:20 | |
2 | Begrüßung | 00:06:40 | |
3 | Begrüßung | 00:05:47 | |
4 | Gately (Buch S. 80-87) | 00:05:04 | |
5 | Gately (Buch S. 80-87) | 00:04:59 | |
6 | Gately (Buch S. 80-87) | 00:04:54 | |
7 | Gately (Buch S. 80-87) | 00:05:37 | |
8 | Rückkehr der Tennisspieler (S. 404-407) | 00:04:16 | |
9 | Rückkehr der Tennisspieler (S. 404-407) | 00:05:05 | |
10 | Gespräch | 00:04:41 | |
11 | Gespräch | 00:04:39 | |
12 | Gespräch | 00:04:26 | |
13 | Marios Geburt (S. 450-454) | 00:04:30 | |
14 | Marios Geburt (S. 450-454) | 00:04:59 | |
15 | Marios Geburt (S. 450-454) | 00:05:05 | |
16 | MASH (S. 920-931, gekürzt) | 00:06:07 | |
17 | MASH (S. 920-931, gekürzt) | 00:07:25 | |
CD 2 | |||
1 | MASH (S. 920-931, gekürzt) (Fortsezung) | 00:05:04 | |
2 | MASH (S. 920-931, gekürzt) (Fortsezung) | 00:05:22 | |
3 | Mrs Psychosis (S. 263-265) | 00:04:00 | |
4 | Mrs Psychosis (S. 263-265) | 00:04:23 | |
5 | Maurer (S. 199-201) | 00:07:32 | |
6 | Gespräch | 00:05:13 | |
7 | Gespräch | 00:05:14 | |
8 | Gespräch | 00:05:15 | |
9 | Gespräch | 00:05:46 | |
10 | Poor Tony Krause (S. 432-441) | 00:04:48 | |
11 | Poor Tony Krause (S. 432-441) | 00:05:05 | |
12 | Poor Tony Krause (S. 432-441) | 00:04:05 | |
13 | Poor Tony Krause (S. 432-441) | 00:05:20 | |
14 | Poor Tony Krause (S. 432-441) | 00:05:23 | |
15 | Mikeys Rede vor den AA (S. 1377-1379) | 00:06:51 | |
16 | Nesquick (S. 631-633) | 00:04:30 |
"Harald Schmidt treibt einem mit dem sprichwörtlichen Abkacken des Extremdrogisten "Poor Tony Krause" den Schauer in die Ohren." DIE WELT
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2009Medusa in der Selbsthilfegruppe
Wenn Schrecken und Spaß sich gegenseitig hochschrauben: Warum man den Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace unbedingt lesen muss.
Von Richard Kämmerlings
Wenn man über Romane sagt, ihre Lektüre entschädige für die Anstrengung, sie sei eine Arbeit, die sich auszahlt und belohne die Hartnäckigkeit und Geduld des Lesers, oder welche der Kritikerphrasen mehr sind, dann lächeln die Verleger und ihre Pressedamen meist tapfer, obgleich sie wissen: Mit solch vergiftetem Lob werden sie kein Stück davon verkaufen. Wer mag sich schon gern selbst quälen?
Doch was tun mit einem Buch, das schon auf dem Umschlag mit dem Leser einen üblen Scherz zu treiben scheint? "Unendlicher Spaß" heißt da ein Roman, der doch allein schon ob seines schieren Umfangs von tausendfünfhundert Seiten unendliche Mühe verspricht. Soll man das etwa lustig finden, wenn man weiß, dass der Übersetzer jahrelang an der Eindeutschung seiner langen, irrwitzig verschachtelten Satzgebilde gearbeitet hat (F.A.Z. vom 18. August), dass der sprachverliebte Autor ein Faible für die Verwendung seltener, in keinem Wörterbuch zu findender Fremd- und Fachwörter hatte, dass das Buch Hunderte von Anmerkungen enthält, die sich insgesamt über 130 Seiten erstrecken und weitere Fußnoten enthalten? Soll das ein Witz sein?
David Foster Wallace, der genialische Autor dieses Werks, der sich nach jahrelangen Depressionen im vergangenen September das Leben nahm, war ein ernsthafter Mensch, unendlich ernsthaft, möchte man heute, nach seinem traurigen Ende, sagen. "Infinite Jest" ist ein moralisches, ja moralistisches Buch über den gegenwärtigen American way of life und damit über den Entwicklungsstand unserer Kultur. Es ist ein Buch über die Leere im innersten Zentrum unserer Gesellschaft, die der Einzelne mit Süchten, Zerstreuungen, Obsessionen und Unterhaltungen aller Art ersatzweise füllt und so verdeckt und verdrängt. Unendlicher Spaß ist das Codewort einer düsteren Zukunftsvision, als Endpunkt menschlicher Evolution bedeutet er den Tod der Kultur und den Tod des Subjekts - und zwar in einem ganz konkreten, nicht übertragenen Sinne. Dieses anstrengende, schwierige, die Geduld des Lesers strapazierende Buch mit dem Titel "Unendlicher Spaß" ist ein Gegengift.
Oberflächlich betrachtet ist "Infinite Jest" ein Science-Fiction-Roman, er spielt überwiegend in einer (beim Erscheinen des Originals 1996) nahen Zukunft, die ungefähr dem Jahr 2009 entspricht, in einem leicht, aber entscheidend modifizierten Nordamerika. Die Vereinigten Staaten haben sich mit Kanada und Mexiko zur "O.N.A.N.", der "Organization of North American Nations", vereinigt, in dem allerdings Teilen der Ostküste vor allem Kanadas die undankbare Rolle einer gigantischen Deponie hochradioaktiven Giftmülls zukommt. Dieses "experialistische" Staatsgebilde wird von einem ehemaligen Schlagersänger namens Johnny Gentle regiert; da man durch neue technische Entwicklungen in der Energieversorgung unabhängig ist, muss man sich um Außenpolitik nicht kümmern. Um die Steuereinnahmen zu erhöhen, hat man den Kalender an Sponsoren verkauft, man lebt im "Jahr des Whoppers" oder im "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" (in dem die Rahmenhandlung spielt). Ein Terrorismusproblem gibt es auch in dieser postfossilen Welt: Verschiedene québécois-kanadische Separatistengruppen wollen durch Anschläge die Unabhängigkeit erzwingen. Die gefährlichste unter ihnen sind die grotesk-unheimlichen "Assassins des Fauteuils Rollents", die "Rollstuhlattentäter".
Das Epizentrum der Handlung ist die "Enfield Tennis Academy" (die nicht zufällig E.T.A. abgekürzt wird) nahe Boston, eines jener für Amerika typischen privaten Drillinternate der Sampras und Agassis von morgen. Einer ihrer Musterschüler ist Hal Incandenza, ein sowohl sportlich als auch sprachlich hochbegabter Siebzehnjähriger, der ein in diesem Milieu offenbar vollkommen übliches Drogenproblem hat; vor brutalem Leistungsdruck und Konkurrenzkampf flüchtet sich hier jeder in irgendeine Sucht.
Hals Familie bildet das Grundgerüst der Romankonstruktion. Sein Vater James O. Incandenza gründete die Tennisakademie, nachdem er seine wissenschaftliche Arbeit im Bereich physikalischer Optik an den Nagel gehängt hatte, um fortan abgedrehte, post-postmoderne Experimentalfilme zu drehen und sich dem Alkoholismus zu ergeben. Hals Brüder Orin und Mario waren beziehungsweise sind ebenfalls Tennisschüler; die stets nur "Moms" genannte Mutter, eine zwangsneurotische Linguistin und Sprachpuristin, sowie ein Onkel gehören zur Akademieleitung. Höchste Erwartungen der Eltern, kindliches Begehren von Anerkennung, geschwisterliche Rivalität und Eifersucht gehören zur Grundausstattung dieser fragilen Familienkutsche, die zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung vor allem von einem Trauma zusammengehalten wird: Der Wissenschaftler-und-Künstler-Übervater beging wenige Jahre zuvor Selbstmord, indem er seinen Kopf in eine speziell präparierte Mikrowelle steckte.
Nachdem der Leser gleich zu Beginn in ein ödipales Psychodrama verstrickt wird, dessen Dimensionen er kaum überschauen kann, entwickelt sich zugleich ein klassischer Thriller-Plot. Die letzte Arbeit, die Hals Vater vor seinem Selbstmord fertiggestellt hatte, war ein Film mit dem Titel "Unendlicher Spaß", der so unterhaltsam ist, dass er jeden auch nur flüchtigen Betrachter in einen irreversiblen Zustand komatöser Erstarrung versetzt: "All diese Leute sind jetzt in geschlossenen Anstalten. Gefügig und kontinent, aber leer wie die Tiefenebene eines vom Rückenmark gekappten Reptiliengehirns." An verschiedenen Orten tauchen Kopien dieser mörderischen "Unterhaltung" auf und amüsieren ihre nichtsahnenden Opfer zu Tode. Die kanadischen Terroristen setzen sich auf die Spur des Films, um durch seine Einspeisung in das nordamerikanische Kabelnetz eine Katastrophe auszulösen. Die Spaßgesellschaft soll mit ihren eigenen Waffen vernichtend geschlagen werden.
Vom Regisseur dieser tödlichen Lustbarkeit heißt es einmal, alle seine Arbeiten seien "grundsätzlich ironisch" gewesen: "Jims Humor war ein trockener Humor." Das besondere Verhältnis von Ernst und Ironie, von erzählerischem Realismus und postmoderner Aufhebung ist bei Wallace nicht nur Gegenstand ästhetischer Reflexion (am Beispiel der "Aprèsgarde"-Filme Incandenzas), sondern auch Formprinzip. Die stilistischen Mittel satirischer Überzeichnung werden ausgiebig eingesetzt, ohne dass sie der Ernsthaftigkeit der Aussage zuwiderliefen. So wird die ganze irre, blut-, schweiß- und tränentriefende Leistungssportwelt detailreich ausgemalt, mit vielen eindrücklichen Nebenfiguren, und zugleich ins Irreale und Absurde verschoben. Unter der Akademie erstreckt sich ein kafkaeskes Tunnelnetz; die Nachwuchsasse haben einen Zeitvertreib erfunden, der einen Nuklearkrieg mit Tennisbällen nachstellt und mit realen Verletzten endet. Immer wieder macht sich Wallace ausgiebig über den Therapeutentick der Amerikaner lustig, wo doch außer Frage steht, dass seine am Rande des Zusammenbruchs traumwandelnden Hauptfiguren dringend professionelle Hilfe brauchen.
Die pseudowissenschaftliche Verzweigungsstruktur, die bei der Lektüre in den Wahnsinn treiben kann, ist ebenfalls eine ironische Volte, da gerade hier wichtige Dinge passieren. Die ersten Anmerkungen erläutern lediglich, hilfreich und harmlos, einige Slang-Ausdrücke für Drogen. Dann plötzlich Anmerkung 24, die sich über zwölf Seiten erstreckt und eine vollständige, kommentierte Filmographie der Werke James O. Incandenzas bietet. Als Quelle wird dazu ein wissenschaftlicher Aufsatz angegeben: "Comstock/Posner/Duquette, ,Die Lachenden Pathologen: Exemplarische Werke der Antikonfluentiellen Aprèsgarde: Einige Analysen der Tendenz zur Stasis im nordamerikanischen Konzeptfilm'." Nicht nur taucht hier ganz beiläufig mit "Stasis" der zentrale Begriff von Wallace' Kulturkritik auf. Liest man die hanebüchenen Abstracts der fiktiven Filme aufmerksam, hat man einige Schlüssel für viele Rätsel des Buchs in der Tasche.
Zugleich kann man hier unter der Lupe studieren, wie sich bei Wallace Schrecken und Witz gegenseitig hochschrauben. Die Handlung des Films "Der Ehevertrag von Himmel und Hölle" wird so zusammengefasst: "Gott und Satan pokern mit Tarotkarten um die Seele eines alkoholabhängigen Snacktütenverkäufers, der von Berninis ,Verzückung der heiligen Theresa' besessen ist." "Spaß mit Zähnen" dagegen geht so: "35 mm; 73 Minuten; schwarzweiß; stumm mit nichtmenschlichem Gebrüll und Geheul. Parodie auf Kosinski/Updike/Peckinpah; Zahnarzt führt bei einem Akademiker, dem er eine Affäre mit seiner Frau unterstellt, sechzehn Wurzelkanalbehandlungen ohne Betäubung durch." Ein letztes, besonders wichtiges Beispiel ist "Medusa gegen Odaliske": "Mobile Hologramme zweier sichtlich todbringender mythischer Frauengestalten duellieren sich vor reflektierenden Flächen auf der Bühne, während ein Live-Publikum langsam versteinert." Je mehr man liest, desto komischer wird es. Es versteht sich, dass sich der Roman selbst ähnlich durchgeknallt zusammenfassen ließe, etwa so: Ein frankophones Terrorkommando in Rollstühlen macht Jagd auf eine Filmkopie, deren Betrachtung arabische Gesundheitsattachés zu windeltragenden, sabbernden Schwachmaten macht.
Macht sich Wallace hier selbst über eine Avantgarde lustig, die die Selbstreflexion bis zum Exzess getrieben hat und nur noch vollkommen Ungenießbares produziert? Oder spiegelt er nicht vielmehr darin sein eigenes Verfahren, das sich auf postmoderne Filmemacher wie Lynch, Tarantino oder Greenaway bezieht? Die Gestalt der Medusa, ein Anblick, der so schön und schrecklich zugleich ist, dass er den Anblickenden versteinert, ist der mythische Kern des Romans. Der philosophisch und mathematisch höchst versierte Autor folgt einer Ästhetik der Fraktale, bei der sich die Grundstrukturen auf jeder kleineren Ebene nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit wiederholen.
Die Gedankenfigur einer das menschliche Fassungsvermögen übersteigenden Erfüllung, ob als Lustgewinn, als Drogentrip, als Schönheit oder als Unterhaltung, findet sich auf jeder Seite und organisiert den Text stärker als eine herkömmliche, kausale Plotstruktur. Auch das überaus kryptische Ende des Romans lässt sich nicht deuten, wenn man nicht die konventionelle Logik der Narration verlässt und etwa zulässt, dass Figuren auf einer strukturellen Ebene miteinander verschmelzen können. Auch dann bleibt immer noch genug für hermeneutische Rätselfreaks. Mark Z. Danielewski, Wallace' genialischer Musterschüler, hat in seinem Meisterwerk "House of Leaves" diese Form philologischer Schnitzeljagd zur Perfektion getrieben.
Nur ein Beispiel: Aus den Anmerkungen ist zu erfahren, dass die Produktionsfirma der letzten Incandenza-Filme "Poor Yorick Entertainment Unlimited" heißt, was auf die Friedhofsszene in Hamlet anspielt, der der Romantitel "Infinite Jest" entlehnt ist: Yorick war der Hofnarr von unendlichem Witz, der nun ebenso unter der Erde liegt, wie James O. Incandenza mit seinem "trockenen Humor".
Ein philosophisches Streitgespräch von "Zauberberg"-Dimensionen zwischen einem amerikanischen Agenten und einem kanadischen (Rollstuhl-)Terroristen spitzt das Thema des Romans auf die politische Frage zu, ob die uneingeschränkte Freiheit des Einzelnen auch seine Selbstzerstörung einschließt, ja ob unter den Bedingungen der modernen Unterhaltungs- und Freizeitkultur der Einzelne noch autonome Entscheidungen treffen kann: Warum ist der "Unendliche Spaß" überhaupt illegal, wenn der Einzelne doch die freie Entscheidung treffen kann, sich grenzenlos, also eben auch tödlich unterhalten zu lassen? Warum nicht jedem die Droge geben, nach der er verlangt?
Um ein bekanntes Bonmot abzuwandeln: "Unendlicher Spaß" als einen Tennisroman zu bezeichnen ist so ähnlich, als würde man sagen, "Moby-Dick" handle vom Walfang. Und doch gelingen Wallace, selbst in jungen Jahren ein vielversprechender Profispieler, wunderschöne Beschreibungen der Faszinationskraft dieses Sports. Ebenso wird man in der Gegenwartsliteratur schwerlich vergleichbar dichte und beklemmende Bilder aus der Innenwelt der Sucht finden, vom titanischen Kampf des Willens gegen seine Entmachtung durch die Droge.
Unterhalb der Tennisakademie liegt eine Entzugsklinik, deren Insassen von David Foster Wallace mit großem Einfühlungsvermögen und Empathie porträtiert werden. Was zunächst wie der größte denkbare Kontrast aussieht, ist tatsächlich ein dunkles Spiegelbild der blitzsauberen Tennissockenwelt auf dem Hügel. Rund um den charismatischen Sozialarbeiter Don Gately, den zweiten Brennpunkt des Romans, entwickelt Wallace ein Kaleidoskop menschlicher Süchte: Gesundheitsfanatiker, Ruhmsüchtige, Alkoholiker, perverse Tierkiller. Schließlich gehört auch die Darstellerin der letzten Incandenza-Filme, eine cracksüchtige Femme fatale namens Madame Psychosis, die wegen ihrer unmenschlichen Schönheit stets verschleiert auftritt, zu den Insassen. Auch Medusa braucht ihren Stoff.
Bei einem Buch wie diesem klingt die Feststellung, es habe "Längen", absurd. Und doch erfordert vor allem der Mittelteil besonderes Stehvermögen. Man sollte aber der Versuchung widerstehen, ganze Kapitel zu überblättern. Denn nicht nur werden hier entscheidende Hinweise gegeben, auch läuft Wallace in mancher Miniatur zu Höchstform auf. So endet die liebevolle Beschreibung eines Trödelladens zweier französischstämmiger Brüder in einer atemraubenden Folter- und Mordszene, die einem Steven King alle Ehre machen würde. Immer wieder werden groteske Szenen aus dem Familienroman der Tennis- und Experimentalfilmdynastie mit hypernaturalistischen Passagen aus dem Junkie-Milieu versetzt, so dass plötzlich eine Schärfe und eine blitzende Gefährlichkeit in den Roman kommen, die es verbieten, sein Thema als eine Spielerei poststrukturalistisch verbildeter Intellektueller abzutun. Wer seine Beschreibungen von Drogenselbsthilfegruppen gelesen hat, wird Wallace auch da ernst nehmen, wo er nur zu spielen scheint.
Der Tod von David Foster Wallace jährt sich am 12. September zum ersten Mal. Dass nun, nach Jahren schwerster Übersetzungsarbeit, sein Hauptwerk auf Deutsch erscheint, ist ein Zufall des Verlagsgeschäfts, der die Rezeption des Buches hierzulande unvermeidlich bestimmen wird. Die Ausweglosigkeit vieler Figuren, die Ausführungen über Depressionen und den Wunsch, dem Leben ein Ende zu setzen, muss man einfach auf den Autor beziehen. Und doch ist dieses Werk viel mehr als nur Ausdruck einer gefährdeten Seele.
Obwohl manche seiner Zukunftsvisionen unserer Internet- und Smartphone-Welt heute fast rührend erscheinen (und anderes, etwa die ökologische Krise, übertrieben), ist sein kulturkritischer Kern von glühender Aktualität. "Infinite Jest" ist für den Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts das, was Musils "Mann ohne Eigenschaften" für das vergangene Jahrhundert war. Dazwischen passt dann noch "Gravity's Rainbow" von Thomas Pynchon, dessen gerade erschienener jüngster Roman "Inherent Vice" im Titel eine versteckte Hommage an Wallace enthält.
Dave Eggers hat in seinem Vorwort zu amerikanischen Taschenbuchausgabe - natürlich ironisch - die Frage gestellt, ob man verpflichtet sei, "Infinite Jest" zu lesen. Bislang konnte der deutschsprachige Leser sich dieser Pflicht entziehen, denn selbst mit guten Englischkenntnissen war das Original eine Zumutung. Zu Ulrich Blumenbachs unglaublicher Leistung könnte man vieles (Lobende) sagen. Dazu hier nur ein Satz: Sie macht es dem deutschen Leser so leicht wie nur möglich.
Wallace wusste, dass man den unendlichen Spaß nur mit seinen eigenen Waffen schlagen kann, mit einen Buch, das man nicht mehr weglegen will. Um die Medusa zu besiegen, muss man ihr einen Spiegel vorhalten.
David Foster Wallace: "Unendlicher Spaß". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1548 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Schrecken und Spaß sich gegenseitig hochschrauben: Warum man den Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace unbedingt lesen muss.
Von Richard Kämmerlings
Wenn man über Romane sagt, ihre Lektüre entschädige für die Anstrengung, sie sei eine Arbeit, die sich auszahlt und belohne die Hartnäckigkeit und Geduld des Lesers, oder welche der Kritikerphrasen mehr sind, dann lächeln die Verleger und ihre Pressedamen meist tapfer, obgleich sie wissen: Mit solch vergiftetem Lob werden sie kein Stück davon verkaufen. Wer mag sich schon gern selbst quälen?
Doch was tun mit einem Buch, das schon auf dem Umschlag mit dem Leser einen üblen Scherz zu treiben scheint? "Unendlicher Spaß" heißt da ein Roman, der doch allein schon ob seines schieren Umfangs von tausendfünfhundert Seiten unendliche Mühe verspricht. Soll man das etwa lustig finden, wenn man weiß, dass der Übersetzer jahrelang an der Eindeutschung seiner langen, irrwitzig verschachtelten Satzgebilde gearbeitet hat (F.A.Z. vom 18. August), dass der sprachverliebte Autor ein Faible für die Verwendung seltener, in keinem Wörterbuch zu findender Fremd- und Fachwörter hatte, dass das Buch Hunderte von Anmerkungen enthält, die sich insgesamt über 130 Seiten erstrecken und weitere Fußnoten enthalten? Soll das ein Witz sein?
David Foster Wallace, der genialische Autor dieses Werks, der sich nach jahrelangen Depressionen im vergangenen September das Leben nahm, war ein ernsthafter Mensch, unendlich ernsthaft, möchte man heute, nach seinem traurigen Ende, sagen. "Infinite Jest" ist ein moralisches, ja moralistisches Buch über den gegenwärtigen American way of life und damit über den Entwicklungsstand unserer Kultur. Es ist ein Buch über die Leere im innersten Zentrum unserer Gesellschaft, die der Einzelne mit Süchten, Zerstreuungen, Obsessionen und Unterhaltungen aller Art ersatzweise füllt und so verdeckt und verdrängt. Unendlicher Spaß ist das Codewort einer düsteren Zukunftsvision, als Endpunkt menschlicher Evolution bedeutet er den Tod der Kultur und den Tod des Subjekts - und zwar in einem ganz konkreten, nicht übertragenen Sinne. Dieses anstrengende, schwierige, die Geduld des Lesers strapazierende Buch mit dem Titel "Unendlicher Spaß" ist ein Gegengift.
Oberflächlich betrachtet ist "Infinite Jest" ein Science-Fiction-Roman, er spielt überwiegend in einer (beim Erscheinen des Originals 1996) nahen Zukunft, die ungefähr dem Jahr 2009 entspricht, in einem leicht, aber entscheidend modifizierten Nordamerika. Die Vereinigten Staaten haben sich mit Kanada und Mexiko zur "O.N.A.N.", der "Organization of North American Nations", vereinigt, in dem allerdings Teilen der Ostküste vor allem Kanadas die undankbare Rolle einer gigantischen Deponie hochradioaktiven Giftmülls zukommt. Dieses "experialistische" Staatsgebilde wird von einem ehemaligen Schlagersänger namens Johnny Gentle regiert; da man durch neue technische Entwicklungen in der Energieversorgung unabhängig ist, muss man sich um Außenpolitik nicht kümmern. Um die Steuereinnahmen zu erhöhen, hat man den Kalender an Sponsoren verkauft, man lebt im "Jahr des Whoppers" oder im "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" (in dem die Rahmenhandlung spielt). Ein Terrorismusproblem gibt es auch in dieser postfossilen Welt: Verschiedene québécois-kanadische Separatistengruppen wollen durch Anschläge die Unabhängigkeit erzwingen. Die gefährlichste unter ihnen sind die grotesk-unheimlichen "Assassins des Fauteuils Rollents", die "Rollstuhlattentäter".
Das Epizentrum der Handlung ist die "Enfield Tennis Academy" (die nicht zufällig E.T.A. abgekürzt wird) nahe Boston, eines jener für Amerika typischen privaten Drillinternate der Sampras und Agassis von morgen. Einer ihrer Musterschüler ist Hal Incandenza, ein sowohl sportlich als auch sprachlich hochbegabter Siebzehnjähriger, der ein in diesem Milieu offenbar vollkommen übliches Drogenproblem hat; vor brutalem Leistungsdruck und Konkurrenzkampf flüchtet sich hier jeder in irgendeine Sucht.
Hals Familie bildet das Grundgerüst der Romankonstruktion. Sein Vater James O. Incandenza gründete die Tennisakademie, nachdem er seine wissenschaftliche Arbeit im Bereich physikalischer Optik an den Nagel gehängt hatte, um fortan abgedrehte, post-postmoderne Experimentalfilme zu drehen und sich dem Alkoholismus zu ergeben. Hals Brüder Orin und Mario waren beziehungsweise sind ebenfalls Tennisschüler; die stets nur "Moms" genannte Mutter, eine zwangsneurotische Linguistin und Sprachpuristin, sowie ein Onkel gehören zur Akademieleitung. Höchste Erwartungen der Eltern, kindliches Begehren von Anerkennung, geschwisterliche Rivalität und Eifersucht gehören zur Grundausstattung dieser fragilen Familienkutsche, die zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung vor allem von einem Trauma zusammengehalten wird: Der Wissenschaftler-und-Künstler-Übervater beging wenige Jahre zuvor Selbstmord, indem er seinen Kopf in eine speziell präparierte Mikrowelle steckte.
Nachdem der Leser gleich zu Beginn in ein ödipales Psychodrama verstrickt wird, dessen Dimensionen er kaum überschauen kann, entwickelt sich zugleich ein klassischer Thriller-Plot. Die letzte Arbeit, die Hals Vater vor seinem Selbstmord fertiggestellt hatte, war ein Film mit dem Titel "Unendlicher Spaß", der so unterhaltsam ist, dass er jeden auch nur flüchtigen Betrachter in einen irreversiblen Zustand komatöser Erstarrung versetzt: "All diese Leute sind jetzt in geschlossenen Anstalten. Gefügig und kontinent, aber leer wie die Tiefenebene eines vom Rückenmark gekappten Reptiliengehirns." An verschiedenen Orten tauchen Kopien dieser mörderischen "Unterhaltung" auf und amüsieren ihre nichtsahnenden Opfer zu Tode. Die kanadischen Terroristen setzen sich auf die Spur des Films, um durch seine Einspeisung in das nordamerikanische Kabelnetz eine Katastrophe auszulösen. Die Spaßgesellschaft soll mit ihren eigenen Waffen vernichtend geschlagen werden.
Vom Regisseur dieser tödlichen Lustbarkeit heißt es einmal, alle seine Arbeiten seien "grundsätzlich ironisch" gewesen: "Jims Humor war ein trockener Humor." Das besondere Verhältnis von Ernst und Ironie, von erzählerischem Realismus und postmoderner Aufhebung ist bei Wallace nicht nur Gegenstand ästhetischer Reflexion (am Beispiel der "Aprèsgarde"-Filme Incandenzas), sondern auch Formprinzip. Die stilistischen Mittel satirischer Überzeichnung werden ausgiebig eingesetzt, ohne dass sie der Ernsthaftigkeit der Aussage zuwiderliefen. So wird die ganze irre, blut-, schweiß- und tränentriefende Leistungssportwelt detailreich ausgemalt, mit vielen eindrücklichen Nebenfiguren, und zugleich ins Irreale und Absurde verschoben. Unter der Akademie erstreckt sich ein kafkaeskes Tunnelnetz; die Nachwuchsasse haben einen Zeitvertreib erfunden, der einen Nuklearkrieg mit Tennisbällen nachstellt und mit realen Verletzten endet. Immer wieder macht sich Wallace ausgiebig über den Therapeutentick der Amerikaner lustig, wo doch außer Frage steht, dass seine am Rande des Zusammenbruchs traumwandelnden Hauptfiguren dringend professionelle Hilfe brauchen.
Die pseudowissenschaftliche Verzweigungsstruktur, die bei der Lektüre in den Wahnsinn treiben kann, ist ebenfalls eine ironische Volte, da gerade hier wichtige Dinge passieren. Die ersten Anmerkungen erläutern lediglich, hilfreich und harmlos, einige Slang-Ausdrücke für Drogen. Dann plötzlich Anmerkung 24, die sich über zwölf Seiten erstreckt und eine vollständige, kommentierte Filmographie der Werke James O. Incandenzas bietet. Als Quelle wird dazu ein wissenschaftlicher Aufsatz angegeben: "Comstock/Posner/Duquette, ,Die Lachenden Pathologen: Exemplarische Werke der Antikonfluentiellen Aprèsgarde: Einige Analysen der Tendenz zur Stasis im nordamerikanischen Konzeptfilm'." Nicht nur taucht hier ganz beiläufig mit "Stasis" der zentrale Begriff von Wallace' Kulturkritik auf. Liest man die hanebüchenen Abstracts der fiktiven Filme aufmerksam, hat man einige Schlüssel für viele Rätsel des Buchs in der Tasche.
Zugleich kann man hier unter der Lupe studieren, wie sich bei Wallace Schrecken und Witz gegenseitig hochschrauben. Die Handlung des Films "Der Ehevertrag von Himmel und Hölle" wird so zusammengefasst: "Gott und Satan pokern mit Tarotkarten um die Seele eines alkoholabhängigen Snacktütenverkäufers, der von Berninis ,Verzückung der heiligen Theresa' besessen ist." "Spaß mit Zähnen" dagegen geht so: "35 mm; 73 Minuten; schwarzweiß; stumm mit nichtmenschlichem Gebrüll und Geheul. Parodie auf Kosinski/Updike/Peckinpah; Zahnarzt führt bei einem Akademiker, dem er eine Affäre mit seiner Frau unterstellt, sechzehn Wurzelkanalbehandlungen ohne Betäubung durch." Ein letztes, besonders wichtiges Beispiel ist "Medusa gegen Odaliske": "Mobile Hologramme zweier sichtlich todbringender mythischer Frauengestalten duellieren sich vor reflektierenden Flächen auf der Bühne, während ein Live-Publikum langsam versteinert." Je mehr man liest, desto komischer wird es. Es versteht sich, dass sich der Roman selbst ähnlich durchgeknallt zusammenfassen ließe, etwa so: Ein frankophones Terrorkommando in Rollstühlen macht Jagd auf eine Filmkopie, deren Betrachtung arabische Gesundheitsattachés zu windeltragenden, sabbernden Schwachmaten macht.
Macht sich Wallace hier selbst über eine Avantgarde lustig, die die Selbstreflexion bis zum Exzess getrieben hat und nur noch vollkommen Ungenießbares produziert? Oder spiegelt er nicht vielmehr darin sein eigenes Verfahren, das sich auf postmoderne Filmemacher wie Lynch, Tarantino oder Greenaway bezieht? Die Gestalt der Medusa, ein Anblick, der so schön und schrecklich zugleich ist, dass er den Anblickenden versteinert, ist der mythische Kern des Romans. Der philosophisch und mathematisch höchst versierte Autor folgt einer Ästhetik der Fraktale, bei der sich die Grundstrukturen auf jeder kleineren Ebene nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit wiederholen.
Die Gedankenfigur einer das menschliche Fassungsvermögen übersteigenden Erfüllung, ob als Lustgewinn, als Drogentrip, als Schönheit oder als Unterhaltung, findet sich auf jeder Seite und organisiert den Text stärker als eine herkömmliche, kausale Plotstruktur. Auch das überaus kryptische Ende des Romans lässt sich nicht deuten, wenn man nicht die konventionelle Logik der Narration verlässt und etwa zulässt, dass Figuren auf einer strukturellen Ebene miteinander verschmelzen können. Auch dann bleibt immer noch genug für hermeneutische Rätselfreaks. Mark Z. Danielewski, Wallace' genialischer Musterschüler, hat in seinem Meisterwerk "House of Leaves" diese Form philologischer Schnitzeljagd zur Perfektion getrieben.
Nur ein Beispiel: Aus den Anmerkungen ist zu erfahren, dass die Produktionsfirma der letzten Incandenza-Filme "Poor Yorick Entertainment Unlimited" heißt, was auf die Friedhofsszene in Hamlet anspielt, der der Romantitel "Infinite Jest" entlehnt ist: Yorick war der Hofnarr von unendlichem Witz, der nun ebenso unter der Erde liegt, wie James O. Incandenza mit seinem "trockenen Humor".
Ein philosophisches Streitgespräch von "Zauberberg"-Dimensionen zwischen einem amerikanischen Agenten und einem kanadischen (Rollstuhl-)Terroristen spitzt das Thema des Romans auf die politische Frage zu, ob die uneingeschränkte Freiheit des Einzelnen auch seine Selbstzerstörung einschließt, ja ob unter den Bedingungen der modernen Unterhaltungs- und Freizeitkultur der Einzelne noch autonome Entscheidungen treffen kann: Warum ist der "Unendliche Spaß" überhaupt illegal, wenn der Einzelne doch die freie Entscheidung treffen kann, sich grenzenlos, also eben auch tödlich unterhalten zu lassen? Warum nicht jedem die Droge geben, nach der er verlangt?
Um ein bekanntes Bonmot abzuwandeln: "Unendlicher Spaß" als einen Tennisroman zu bezeichnen ist so ähnlich, als würde man sagen, "Moby-Dick" handle vom Walfang. Und doch gelingen Wallace, selbst in jungen Jahren ein vielversprechender Profispieler, wunderschöne Beschreibungen der Faszinationskraft dieses Sports. Ebenso wird man in der Gegenwartsliteratur schwerlich vergleichbar dichte und beklemmende Bilder aus der Innenwelt der Sucht finden, vom titanischen Kampf des Willens gegen seine Entmachtung durch die Droge.
Unterhalb der Tennisakademie liegt eine Entzugsklinik, deren Insassen von David Foster Wallace mit großem Einfühlungsvermögen und Empathie porträtiert werden. Was zunächst wie der größte denkbare Kontrast aussieht, ist tatsächlich ein dunkles Spiegelbild der blitzsauberen Tennissockenwelt auf dem Hügel. Rund um den charismatischen Sozialarbeiter Don Gately, den zweiten Brennpunkt des Romans, entwickelt Wallace ein Kaleidoskop menschlicher Süchte: Gesundheitsfanatiker, Ruhmsüchtige, Alkoholiker, perverse Tierkiller. Schließlich gehört auch die Darstellerin der letzten Incandenza-Filme, eine cracksüchtige Femme fatale namens Madame Psychosis, die wegen ihrer unmenschlichen Schönheit stets verschleiert auftritt, zu den Insassen. Auch Medusa braucht ihren Stoff.
Bei einem Buch wie diesem klingt die Feststellung, es habe "Längen", absurd. Und doch erfordert vor allem der Mittelteil besonderes Stehvermögen. Man sollte aber der Versuchung widerstehen, ganze Kapitel zu überblättern. Denn nicht nur werden hier entscheidende Hinweise gegeben, auch läuft Wallace in mancher Miniatur zu Höchstform auf. So endet die liebevolle Beschreibung eines Trödelladens zweier französischstämmiger Brüder in einer atemraubenden Folter- und Mordszene, die einem Steven King alle Ehre machen würde. Immer wieder werden groteske Szenen aus dem Familienroman der Tennis- und Experimentalfilmdynastie mit hypernaturalistischen Passagen aus dem Junkie-Milieu versetzt, so dass plötzlich eine Schärfe und eine blitzende Gefährlichkeit in den Roman kommen, die es verbieten, sein Thema als eine Spielerei poststrukturalistisch verbildeter Intellektueller abzutun. Wer seine Beschreibungen von Drogenselbsthilfegruppen gelesen hat, wird Wallace auch da ernst nehmen, wo er nur zu spielen scheint.
Der Tod von David Foster Wallace jährt sich am 12. September zum ersten Mal. Dass nun, nach Jahren schwerster Übersetzungsarbeit, sein Hauptwerk auf Deutsch erscheint, ist ein Zufall des Verlagsgeschäfts, der die Rezeption des Buches hierzulande unvermeidlich bestimmen wird. Die Ausweglosigkeit vieler Figuren, die Ausführungen über Depressionen und den Wunsch, dem Leben ein Ende zu setzen, muss man einfach auf den Autor beziehen. Und doch ist dieses Werk viel mehr als nur Ausdruck einer gefährdeten Seele.
Obwohl manche seiner Zukunftsvisionen unserer Internet- und Smartphone-Welt heute fast rührend erscheinen (und anderes, etwa die ökologische Krise, übertrieben), ist sein kulturkritischer Kern von glühender Aktualität. "Infinite Jest" ist für den Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts das, was Musils "Mann ohne Eigenschaften" für das vergangene Jahrhundert war. Dazwischen passt dann noch "Gravity's Rainbow" von Thomas Pynchon, dessen gerade erschienener jüngster Roman "Inherent Vice" im Titel eine versteckte Hommage an Wallace enthält.
Dave Eggers hat in seinem Vorwort zu amerikanischen Taschenbuchausgabe - natürlich ironisch - die Frage gestellt, ob man verpflichtet sei, "Infinite Jest" zu lesen. Bislang konnte der deutschsprachige Leser sich dieser Pflicht entziehen, denn selbst mit guten Englischkenntnissen war das Original eine Zumutung. Zu Ulrich Blumenbachs unglaublicher Leistung könnte man vieles (Lobende) sagen. Dazu hier nur ein Satz: Sie macht es dem deutschen Leser so leicht wie nur möglich.
Wallace wusste, dass man den unendlichen Spaß nur mit seinen eigenen Waffen schlagen kann, mit einen Buch, das man nicht mehr weglegen will. Um die Medusa zu besiegen, muss man ihr einen Spiegel vorhalten.
David Foster Wallace: "Unendlicher Spaß". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1548 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.08.2009Die Verabschiedung der Ironie
Endlich auch auf Deutsch: „Unendlicher Spaß”, der große Roman des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace
Wahrscheinlich muss man doch mit seinem Selbstmord anfangen. Schließlich hängt David Foster Wallace seit dem
12. September 2008, dem Tag, an dem er sich in seiner Garage einen Strick knotete, über seinem eigenen Werk. Wallace wurde nur 46 Jahre alt, am Ende hatte er die Depressionen, unter denen er seit seiner Jugend litt, nicht mehr ausgehalten. All die selbstironischen Sprüche, die er im Verlauf seines Lebens geklopft hatte – „Ich hatte mit 20 eine Art Midlifecrisis, weshalb ich in Sachen Langlebigkeit schlechte Karten haben dürfte”, sagte er in einem Interview – färbten sich im Nachhinein tiefschwarz ein. Wie heißt es doch in „Unendlicher Spaß”: „Witze waren oft die Flaschen, in denen klinisch depressive Menschen ihre gellendsten Hilferufe nach jemandem aussendeten, der sich um sie kümmern sollte.”
Sein Tod schickte Schockwellen durch die Literaturwelt. Es gab vier öffentliche Gedenkveranstaltungen, und aus den Nachrufen war zu spüren, wie massiv dieser Tod viele umzutreiben schien. Klar, Wallace starb jung, und kaum einer hatte von seiner schweren Krankheit gewusst. Dann war da diese auratische Ausnahmebiographie: einer der besten Tennisnachwuchsspieler seines Landes; der doppelte Universitätsabschluss, in modaler Logik und in Literaturwissenschaften. Seine saukomischen Essays und Riesenreportagen. Garniert von dieser merkwürdigen Familiengeschichte: Dass er aus dem ländlichen Illinois stammte, aus der Nähe einer Stadt namens Normal, dabei aber aus einer bizarren Intellektuellenfamilie: die Eltern, die einander händchenhaltend im Bett den Ulysses vorlasen; die Mutter, eine Linguistin, die ihm im Grundschulalter Wörterbücher schenkte und mit der er eigene Wörter erfand, „greebles” für die Flusen, die man abends oft zwischen den Zehen hat, „twanger” für etwas, dessen Bezeichnung man gerade vergessen hat.
Vor allem aber war da dieses Werk, bestehend aus drei Erzählungsbänden, einem frühen Roman und den 1500 Seiten „Unendlichem Spaß”, diesem Himalaya der Postmoderne, von dem Zadie Smith sagte, Wallace habe damit bewiesen, „dass es den Schriftsteller, von dem ich immer hoffte, dass es ihn schlicht nicht geben kann, eben doch gibt: ein Visionär und zugleich ein Handwerker, ein Komiker, der zugleich so ernsthaft ist, wie man nur sein kann.”
Nun also kommt die Übersetzung dieses Romans mit einer mächtigen journalistischen Bugwelle auf den deutschen Markt: Der Spiegel besuchte die Hinterbliebenen, die Eltern, die Schwester, den Lektor und seine deutsche Stimme, den Übersetzer Ulrich Blumenbach, der sechs Jahre lang an der deutschen Fassung saß. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat das Buch abschnittsweise über zehn Wochen hin gelesen, Blumenbach schreibt über die Erfahrung dieser Übersetzungsleistung und der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Seite www.unendlicherspass.de freigeschaltet, auf der sich hundert Tage lang Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Feldwaldwiesenleser über ihre Lektüre des Buchs öffentlich austauschen sollen. Natürlich hat das etwas von einem Verkaufsgag, aber es zeigt auch den Nimbus, der Wallace und seinem erratischen Roman mittlerweile zugewachsen ist: hundert Tage, um gemeinsam durch dieses Textgebirge zu krabbeln und ameisengleich exegetische Krümel zusammenzutragen.
Nicht zu vergessen das „Zusatzmaterial”, das der Verlag anbietet, und in dem Dave Eggers und Jonathan Frantzen erklären, warum sie Wallace für den wichtigsten Autor und „Infinite Jest” für das größte Buch unserer Zeit halten. Weil er, so Frantzen, „die erregendste, die erfindungsreichste rhetorische Virtuosität aller lebenden Schriftsteller besaß. Weit draußen bei Wort Nummer 70, 100 oder 140 in einem Satz in den Tiefen eines drei Seiten langen Absatzes voll makabrem Humor oder irrwitzig netzartiger Bewusstheit roch man noch das Ozon der knisternden Präzision seiner Satzstruktur”. Und weil „Infinite Jest”, wie Eggers sagt, „ein Raumschiff ohne erkennbare Einzelteile ist, es gibt keine Nieten oder Schrauben, keine Ansatzpunkte, keine Möglichkeit, es auseinanderzunehmen”. Also jetzt mal halblang. Mag ja sein, dass dieses sperrige Trumm von einem Buch seinerzeit wie ein Meteor in die handsame Literaturlandschaft seiner Zeit krachte. Aber „unendlicher Spaß” ist kein hermetischer Monolith. Auf den ersten Blick bietet es sich eher dar wie eine Art vollgeräumte literarische Spielzeugkiste.
Anfang der neunziger Jahre, zum Zeitpunkt der Niederschrift, spielte das Ganze in einer nahen Zukunft, die aber heute größtenteils schon wieder Vergangenheit ist: Die Handlung setzt ein um die Jahrtausendwende und endet 2010. Wobei unsere Zeitrechnung abgelöst wurde durch die sogenannte Sponsorenzeit: Konzerne kaufen sich von der Regierung einzelne Jahre und nennen diese dann nach ihren Produkten: „Jahr des Whoppers”, „Jahr des Glad-Müllsacks”. Im Deal inbegriffen ist die Verkleidung der Freiheitsstatue mit Produkten der Sponsorenfirma. Die meisten Ereignisse finden im „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche” statt, in dem die Freiheitsstatue eine Riesenwindel trägt. Einem Normalleser wäre es wahrscheinlich kaum möglich, die Geschehnisse an unsere Zeitrechnung anzukoppeln, die Wallace-Exegeten haben aber anhand einzelner Anspielungen nachgewiesen, dass justament dieses Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche unserem Jahr 2009 entspricht.
Lebenstechnisch hat das Buch wenig von Science-Fiction, im Gegenteil, die technischen Erfindungen wie der multifunktionale Teleputer wirken in ihrer Klobigkeit gegen die geschmeidige Intelligenz des iPhones oder die Kraft des in alle Lebensbereiche ausstrahlenden Internets fast niedlich: Gerade da also, wo das Buch einem technische Zukunftsmusik vorspielen will, klingt es ziemlich retro. Da aber, wo es an seinen dunklen Schmerzkern kommt, ist es ganz und gar aktuell.
Es geht um das Leben an einer Tennisakademie und um einen Haufen frankokanadischer Separatisten, um die Macht der Werbung und um Kindsmissbrauch, um den Kampf des Ex-Ganoven Don Gately gegen seine Sucht und die „Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten”, die ihre jeweiligen Deformationen vor ihrer Umwelt verstecken. Zu ihnen gehört Joelle Van Dyne, die im Radio eine bizarre Sendung als Madame Psychosis moderiert und ihr Gesicht hinter einem Schleier versteckt, weil sie angeblich so schön ist, dass keiner ihren Anblick erträgt. Oder ist sie doch ausnehmend hässlich? Immerhin hat ihre Mutter ihr mal Säure ins Gesicht geschüttet. Jedenfalls scheint sie das eigentliche Objekt der Begierde zu sein, ist sie doch die Hauptfigur des titelgebenden Films „Unendlicher Spaß”, der so grandios sein soll, dass jeder, der ihn sieht, in eine Art Entertainmentstarre verfällt und daran stirbt. Überflüssig zu sagen, dass „Unendlicher Spaß” auf den Hamlet anspielt und überhaupt alle Namen mehrfach konnotiert sind.
Man könnte aber auch sagen, es geht um die geradezu tödliche Kraft der Zerstreuung. Um die Frage, warum die Menschen sich freiwillig antun, was sie tun: Fernsehen, Drogen nehmen, trinken. Wallace wollte das Buch zunächst „A Failed Entertainment” nennen, weil es, wie er selber sagte, „strukturiert ist wie eine Unterhaltungssendung, die nicht funktioniert”. Das stimmt insofern, als immer wieder Personen auftauchen, ohne dass man erführe, wo sie herkommen oder wie es mit ihnen weitergeht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch so ziemlich alle Textgattungen durchspielt, die es gibt, den stream of consciousness genauso wie den verbrabbelten Monolog oder den medizinischen Exkurs.
Man watet seitenlang durch Gaddismäßiges Partygelaber, es gibt hart gegeneinander geschnittene Therapieprotokolle und vernuschelten Slang, verfremdete Sportreportagen, trockene Listen und Rezepturen, filmwissenschaftlichen Seminarsprech und Technikgeknatter. All das wuchert in alle Richtungen, nach vorne und hinten (die Kapitel sind zeitlich wild durcheinandergemischt) nach oben und unten (Wallace arbeitet viel mit Fußnoten). Kurzum, man weiß im Verlauf des Buches oftmals nicht, wo einem gerade der Kopf steht.
Also nochmal von vorne, allererster Satz: „Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen.” Wir befinden uns im Kopf von Hal Incandenza, einer Art Alter Ego von David Foster Wallace: große Tennisbegabung; verschlingt Wörterbücher und hat ein Faible für Hapax Legomena, also Wörter, die in der gesamten Literaturgeschichte nur einmal vorkommen; kifft exzessiv und hat für die Aufnahmeprüfung an der University of Arizona neun Essays vorgelegt, die allesamt dermaßen profund sind, dass ihm die Prüfungskommission nicht abnimmt, sie selbst verfasst zu haben. Hal sitzt einer Riege misstrauischer Prüfer gegenüber, die von ihm wissen wollen, wie er all diese brillanten Texte geschrieben hat.
Das Problem: Er sagt nichts. Schweigt. Seitenlang, bis es aus ihm herausbricht: „Meine Bewerbung ist nicht gekauft. Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte. Erfahrungen und Gefühle. Ich bin komplex.” Die Prüfer weichen entsetzt zurück, und als Leser merkt man erst aus ihren Reaktionen, dass Hal an einer Art kommunikativem Locked-in-Syndrom zu leiden scheint: Während man liest, wie er sich geschliffen und in flehenden Sätzen erklärt, scheinen die Prüfer nur grässlichen Lärm und beängstigende Bewegungen wahrzunehmen: „,Die Geräusche, die er gemacht hat.‘ ,Animalisch.‘ ,Subanimalische Laute und Geräusche.‘ ,Sein Gesicht. Als würde er erwürgt. Oder verbrannt. Glauben Sie mir, das war ein Blick in die Hölle.‘”
Am Ende des Kapitels stellt sich Hal, der mittlerweile auf dem Steinboden einer Toilette festgehalten wird, vor, wie sich „ein müder kubanischer Pfleger” zu ihm runterbeugt und fragt, „lass hören, Kumpel, was hast du denn zu erzählen?” Mit dieser Erfahrung extremer Einsamkeit, mit dem unerfüllten Wunsch, sich mitzuteilen, und mit der Irritation des Lesers (Spinnt nun Hal? Oder sind die Prüfungskommission und der Rest der Welt verrückt?) öffnet sich der Roman auf die folgenden 1500 Seiten und sein Personal.
Als Wallace an diesem Roman saß, wirkte die Ironie in der amerikanischen Postmoderne noch als Königsweg der Erkenntnis. Wallace ist der Vollblutironiker, der zugleich sieht, dass die Ironie längst zur läppisch kraftlosen Attitüde verkommen ist. Bereits Anfang der neunziger Jahre entwickelte er in einem Essay über die Geschichte des Fernsehens eine Art literaturästhetische Theorie in Opposition zur Unterhaltungsindustrie. „E unibus pluram” beschreibt, wie das Fernsehen in seinen Erzählformen immer intelligenter und selbstreferentieller wurde. Das postmoderne Erzählen, so Wallaces These, unterschätzte die Macht des Fernsehens, weil es viel zu lange glaubte, mit ironischem Zwinkern auf die durchmedialisierte Welt blicken zu können, obwohl diese längst ironisch zurückfunkelte. Wie aber noch etwas lächerlich machen, das längst alles Lächerliche absorbiert hat?
In seinen Augen muss der Erzähler wieder den Ernst riskieren, den Schmerz erzählen, authentisch sein: „Vielleicht besteht die nächste Generation literarischer Rebellen ja aus einem verrückten Haufen von Anti-Rebellen, die die kindliche Frechheit besitzen, wieder von all den uralten menschlichen Problemen und Gefühlen zu erzählen, die so gar nicht trendy sind.” Hal Incandenza, sein eigener Antirebell, tut genau das, wenn er sagt, „dass das, was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls gibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist.”
Wie ein schwarzer Faden ziehen sich Depressionsbeschreibungen durch das Buch, von der hoffnungslosen Ödnis an einem Morgen, „wenn die Seele schon weiß, dass der bevorstehende Tag weniger zu traversieren als gewissermaßen vertikal zu erklimmen” ist, bis zur Empörung einer Patientin über das läppische klinisch-vokabularische Vokabular: „Depression, das klingt so, als wäre man bloß tierisch traurig (. . .) Es ist eher Grauen als Traurigkeit. Ja, eher wie Grauen. Es ist, als passiert gleich was Schreckliches, das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann – nein, schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann, weil da dieses Gefühl ist, dass man sofort was machen muss, um es zu stoppen, aber man weiß nicht, was man machen muss, und dann passiert es auch, die ganze schreckliche Zeit, es passiert gleich und es passiert jetzt, alles zur selben Zeit.”
Es wäre interessant, „Unendlicher Spaß” parallel zu lesen mit „Das erschöpfte Selbst”, der Studie von Alain Ehrenberg, in der der Pariser Soziologe Mitte der neunziger Jahre, also zur selben Zeit, in der Wallace an seinem Roman saß, die Depression als symptomatische Krankheit unserer Tage deutete: Ehrenberg arbeitet heraus, wie sich seit den siebziger Jahren das freiheitliche Versprechen der Selbstverwirklichung hinter dem Rücken der so wunderbar Selbstverwirklichten schleichend in einen dämonischen Zwang verwandelte: Indem das authentische Selbst umfunktioniert wurde zum produktiven Motor all unseren Handelns, ist die Erschöpfung programmiert. Erschöpfung als Dauerzustand aber mündet in Depression, die bei Ehrenberg definiert wird als „Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.”
Die Depression scheint sich in Wallaces naher Zukunft sogar bis tief in die Sprache hineingefressen zu haben: Hal, der Wörterbuchverschlinger, behauptet eingangs, die aktuelle Ausgabe des Oxford English Dictionary kenne 19 Synonyme für teilnahmslos. Da müssen in relativ kurzer Zeit 17 dazugekommen sein, im Oxford English Dictionary von 1992, mit dem Wallace arbeitete, standen nur zwei Synonyme . . .
Überhaupt: die Synonyme und wunderbaren Fremdwörter. Ein Fettarsch wird mit „glutealer Hyperadiposität” umschrieben, es gibt „magiskulierte Schimpfwörter” und „hydroponisches Marihuana”, die Leute haben „modraogoide Nasen” und operieren mit „thigmotaktischen Eletroden”, wobei man sich nicht sicher sein kann, ob es all diese Wörter wirklich gibt, oder ob da wieder mal eine der Personen, ähnlich der wackeren Frau Stöhr im „Zauberberg”, fremdsprachlich vor sich hindilettiert.
Viele Kritiker machen ein solches Gewese um diese unbekannten Wörter, als könne man dieses Buch ohne einen Stapel Fachwörterbücher unterm Arm niemals durchqueren. Dabei erinnern diese Begriffe nur an kleine wunderschöne Fische, die am Grunde dieses Textozeans vorbeigeschwommen kommen, man muss sie nicht verstehen, sondern kann sich vielmehr an der unendlichen Vielfalt der Sprache erfreuen, ja zeitweise neologiert man nach diesen Ausdrücken, nach der Fülle und Sprachwucht, die Ulrich Blumenbach so brillant nachempfindet und oftmals kongenial neuschafft.
Auch die langen Perioden, vor denen viele warnen, sind nicht störend, im Gegenteil, zuweilen haben sie die verwegene Eleganz einer schlanken Hängebrücke, die sich über die Seite wie über ein zerklüftetes Tal spannt. Geradezu teuflich wirken sie, wenn sie einhergehen mit Beschreibungen der Enge: Es gibt da die Szene, in der ein stark verschnupfter Frankokanadier überfallen und geknebelt wird. Da er kein Englisch kann, vermag er sich dem Einbrecher gegenüber nicht verständlich zu machen, und als der immer weiter vor sich hin mäandernde Satz, in dem sein qualvolles, stundenlanges Ersticken erzählt wird, nach eineinhalb Seiten endlich an seinen erlösenden Punkt kommt, holt man beim Lesen instinktiv Luft.
Was das Lesen hingegen streckenweise zu qualvollen Exerzitien macht, ist Wallaces Taktik der Mimesis ans Hässliche, Unübersichtliche und Verlaberte unserer Zeit. Wallace stapelt immer wieder Material auf wie Geröll, wuchert in eine flächige Textur aus, und beim Durchqueren mancher endloser Tennispassagen kommt man sich vor, als müsste man in der trockenen Hitze Arizonas den roten Staub des Sandplatzes essen. Er selbst gab einmal eine merkwürdige Definition seines Berufs: „Heute habe ich mehr als 500 000 Einzelinformationen erhalten, von denen aber nur 25 relevant sind. Mein Job ist es, daraus schlau zu werden.”
Wenn er nun aber den Leser wieder einmal mit 500 000 Einzelinformationen flutet, hat er dann seinen Job nicht gemacht oder ist das der Kunstgriff, der uns zeigen soll, dass die Welt in endlose, immer kleiner werdende Wissensfraktale zerfällt? Schon klar, Wallace will damit unser nervöses Rezeptionsverhalten attackieren, das Zapp und Hopp, mit dem wir heute vor dem Fernseher, vor Büchern und vor dem ganzen Leben sitzen. Aber zuweilen wirkt es auch, als würde sich all das hässliche Material den Autor zurückerobern und verschlucken.
Wobei das Wallace wahrscheinlich gefallen hätte, der Autor, der anonym in seinem Werk verschwindet: Die Einzigen, denen er sich in seiner Danksagung verpflichtet, sind die Anonymen Alkoholiker, nicht die Vereinigung selbst, sondern Einzelne, die zu den offenen Treffen in Boston kamen und die „mir äußerst geduldig, redselig, offen und hilfreich Auskunft gegeben haben. Ich kann diesen Männern und Frauen am besten danken, indem ich ihre Namen für mich behalte.” ALEX RÜHLE
DAVID FOSTER WALLACE: Unendlicher Spaß. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1552 Seiten, 39,95 Euro. Der schöne, schmale Band mit den vier Texten „Zusatzmaterial” kostet fünf Euro.
„Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte”
„Depression, das klingt so, als wäre man bloß tierisch traurig. Es ist eher Grauen als Traurigkeit”
David Foster Wallace am 11. Januar 2006 beim Signieren (oben) und während seiner Lesung (links) in der Buchhandlung „The Strand” in Manhattan Fotos: The NewYorkTimes/Redux/laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Endlich auch auf Deutsch: „Unendlicher Spaß”, der große Roman des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace
Wahrscheinlich muss man doch mit seinem Selbstmord anfangen. Schließlich hängt David Foster Wallace seit dem
12. September 2008, dem Tag, an dem er sich in seiner Garage einen Strick knotete, über seinem eigenen Werk. Wallace wurde nur 46 Jahre alt, am Ende hatte er die Depressionen, unter denen er seit seiner Jugend litt, nicht mehr ausgehalten. All die selbstironischen Sprüche, die er im Verlauf seines Lebens geklopft hatte – „Ich hatte mit 20 eine Art Midlifecrisis, weshalb ich in Sachen Langlebigkeit schlechte Karten haben dürfte”, sagte er in einem Interview – färbten sich im Nachhinein tiefschwarz ein. Wie heißt es doch in „Unendlicher Spaß”: „Witze waren oft die Flaschen, in denen klinisch depressive Menschen ihre gellendsten Hilferufe nach jemandem aussendeten, der sich um sie kümmern sollte.”
Sein Tod schickte Schockwellen durch die Literaturwelt. Es gab vier öffentliche Gedenkveranstaltungen, und aus den Nachrufen war zu spüren, wie massiv dieser Tod viele umzutreiben schien. Klar, Wallace starb jung, und kaum einer hatte von seiner schweren Krankheit gewusst. Dann war da diese auratische Ausnahmebiographie: einer der besten Tennisnachwuchsspieler seines Landes; der doppelte Universitätsabschluss, in modaler Logik und in Literaturwissenschaften. Seine saukomischen Essays und Riesenreportagen. Garniert von dieser merkwürdigen Familiengeschichte: Dass er aus dem ländlichen Illinois stammte, aus der Nähe einer Stadt namens Normal, dabei aber aus einer bizarren Intellektuellenfamilie: die Eltern, die einander händchenhaltend im Bett den Ulysses vorlasen; die Mutter, eine Linguistin, die ihm im Grundschulalter Wörterbücher schenkte und mit der er eigene Wörter erfand, „greebles” für die Flusen, die man abends oft zwischen den Zehen hat, „twanger” für etwas, dessen Bezeichnung man gerade vergessen hat.
Vor allem aber war da dieses Werk, bestehend aus drei Erzählungsbänden, einem frühen Roman und den 1500 Seiten „Unendlichem Spaß”, diesem Himalaya der Postmoderne, von dem Zadie Smith sagte, Wallace habe damit bewiesen, „dass es den Schriftsteller, von dem ich immer hoffte, dass es ihn schlicht nicht geben kann, eben doch gibt: ein Visionär und zugleich ein Handwerker, ein Komiker, der zugleich so ernsthaft ist, wie man nur sein kann.”
Nun also kommt die Übersetzung dieses Romans mit einer mächtigen journalistischen Bugwelle auf den deutschen Markt: Der Spiegel besuchte die Hinterbliebenen, die Eltern, die Schwester, den Lektor und seine deutsche Stimme, den Übersetzer Ulrich Blumenbach, der sechs Jahre lang an der deutschen Fassung saß. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat das Buch abschnittsweise über zehn Wochen hin gelesen, Blumenbach schreibt über die Erfahrung dieser Übersetzungsleistung und der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Seite www.unendlicherspass.de freigeschaltet, auf der sich hundert Tage lang Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Feldwaldwiesenleser über ihre Lektüre des Buchs öffentlich austauschen sollen. Natürlich hat das etwas von einem Verkaufsgag, aber es zeigt auch den Nimbus, der Wallace und seinem erratischen Roman mittlerweile zugewachsen ist: hundert Tage, um gemeinsam durch dieses Textgebirge zu krabbeln und ameisengleich exegetische Krümel zusammenzutragen.
Nicht zu vergessen das „Zusatzmaterial”, das der Verlag anbietet, und in dem Dave Eggers und Jonathan Frantzen erklären, warum sie Wallace für den wichtigsten Autor und „Infinite Jest” für das größte Buch unserer Zeit halten. Weil er, so Frantzen, „die erregendste, die erfindungsreichste rhetorische Virtuosität aller lebenden Schriftsteller besaß. Weit draußen bei Wort Nummer 70, 100 oder 140 in einem Satz in den Tiefen eines drei Seiten langen Absatzes voll makabrem Humor oder irrwitzig netzartiger Bewusstheit roch man noch das Ozon der knisternden Präzision seiner Satzstruktur”. Und weil „Infinite Jest”, wie Eggers sagt, „ein Raumschiff ohne erkennbare Einzelteile ist, es gibt keine Nieten oder Schrauben, keine Ansatzpunkte, keine Möglichkeit, es auseinanderzunehmen”. Also jetzt mal halblang. Mag ja sein, dass dieses sperrige Trumm von einem Buch seinerzeit wie ein Meteor in die handsame Literaturlandschaft seiner Zeit krachte. Aber „unendlicher Spaß” ist kein hermetischer Monolith. Auf den ersten Blick bietet es sich eher dar wie eine Art vollgeräumte literarische Spielzeugkiste.
Anfang der neunziger Jahre, zum Zeitpunkt der Niederschrift, spielte das Ganze in einer nahen Zukunft, die aber heute größtenteils schon wieder Vergangenheit ist: Die Handlung setzt ein um die Jahrtausendwende und endet 2010. Wobei unsere Zeitrechnung abgelöst wurde durch die sogenannte Sponsorenzeit: Konzerne kaufen sich von der Regierung einzelne Jahre und nennen diese dann nach ihren Produkten: „Jahr des Whoppers”, „Jahr des Glad-Müllsacks”. Im Deal inbegriffen ist die Verkleidung der Freiheitsstatue mit Produkten der Sponsorenfirma. Die meisten Ereignisse finden im „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche” statt, in dem die Freiheitsstatue eine Riesenwindel trägt. Einem Normalleser wäre es wahrscheinlich kaum möglich, die Geschehnisse an unsere Zeitrechnung anzukoppeln, die Wallace-Exegeten haben aber anhand einzelner Anspielungen nachgewiesen, dass justament dieses Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche unserem Jahr 2009 entspricht.
Lebenstechnisch hat das Buch wenig von Science-Fiction, im Gegenteil, die technischen Erfindungen wie der multifunktionale Teleputer wirken in ihrer Klobigkeit gegen die geschmeidige Intelligenz des iPhones oder die Kraft des in alle Lebensbereiche ausstrahlenden Internets fast niedlich: Gerade da also, wo das Buch einem technische Zukunftsmusik vorspielen will, klingt es ziemlich retro. Da aber, wo es an seinen dunklen Schmerzkern kommt, ist es ganz und gar aktuell.
Es geht um das Leben an einer Tennisakademie und um einen Haufen frankokanadischer Separatisten, um die Macht der Werbung und um Kindsmissbrauch, um den Kampf des Ex-Ganoven Don Gately gegen seine Sucht und die „Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten”, die ihre jeweiligen Deformationen vor ihrer Umwelt verstecken. Zu ihnen gehört Joelle Van Dyne, die im Radio eine bizarre Sendung als Madame Psychosis moderiert und ihr Gesicht hinter einem Schleier versteckt, weil sie angeblich so schön ist, dass keiner ihren Anblick erträgt. Oder ist sie doch ausnehmend hässlich? Immerhin hat ihre Mutter ihr mal Säure ins Gesicht geschüttet. Jedenfalls scheint sie das eigentliche Objekt der Begierde zu sein, ist sie doch die Hauptfigur des titelgebenden Films „Unendlicher Spaß”, der so grandios sein soll, dass jeder, der ihn sieht, in eine Art Entertainmentstarre verfällt und daran stirbt. Überflüssig zu sagen, dass „Unendlicher Spaß” auf den Hamlet anspielt und überhaupt alle Namen mehrfach konnotiert sind.
Man könnte aber auch sagen, es geht um die geradezu tödliche Kraft der Zerstreuung. Um die Frage, warum die Menschen sich freiwillig antun, was sie tun: Fernsehen, Drogen nehmen, trinken. Wallace wollte das Buch zunächst „A Failed Entertainment” nennen, weil es, wie er selber sagte, „strukturiert ist wie eine Unterhaltungssendung, die nicht funktioniert”. Das stimmt insofern, als immer wieder Personen auftauchen, ohne dass man erführe, wo sie herkommen oder wie es mit ihnen weitergeht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch so ziemlich alle Textgattungen durchspielt, die es gibt, den stream of consciousness genauso wie den verbrabbelten Monolog oder den medizinischen Exkurs.
Man watet seitenlang durch Gaddismäßiges Partygelaber, es gibt hart gegeneinander geschnittene Therapieprotokolle und vernuschelten Slang, verfremdete Sportreportagen, trockene Listen und Rezepturen, filmwissenschaftlichen Seminarsprech und Technikgeknatter. All das wuchert in alle Richtungen, nach vorne und hinten (die Kapitel sind zeitlich wild durcheinandergemischt) nach oben und unten (Wallace arbeitet viel mit Fußnoten). Kurzum, man weiß im Verlauf des Buches oftmals nicht, wo einem gerade der Kopf steht.
Also nochmal von vorne, allererster Satz: „Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen.” Wir befinden uns im Kopf von Hal Incandenza, einer Art Alter Ego von David Foster Wallace: große Tennisbegabung; verschlingt Wörterbücher und hat ein Faible für Hapax Legomena, also Wörter, die in der gesamten Literaturgeschichte nur einmal vorkommen; kifft exzessiv und hat für die Aufnahmeprüfung an der University of Arizona neun Essays vorgelegt, die allesamt dermaßen profund sind, dass ihm die Prüfungskommission nicht abnimmt, sie selbst verfasst zu haben. Hal sitzt einer Riege misstrauischer Prüfer gegenüber, die von ihm wissen wollen, wie er all diese brillanten Texte geschrieben hat.
Das Problem: Er sagt nichts. Schweigt. Seitenlang, bis es aus ihm herausbricht: „Meine Bewerbung ist nicht gekauft. Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte. Erfahrungen und Gefühle. Ich bin komplex.” Die Prüfer weichen entsetzt zurück, und als Leser merkt man erst aus ihren Reaktionen, dass Hal an einer Art kommunikativem Locked-in-Syndrom zu leiden scheint: Während man liest, wie er sich geschliffen und in flehenden Sätzen erklärt, scheinen die Prüfer nur grässlichen Lärm und beängstigende Bewegungen wahrzunehmen: „,Die Geräusche, die er gemacht hat.‘ ,Animalisch.‘ ,Subanimalische Laute und Geräusche.‘ ,Sein Gesicht. Als würde er erwürgt. Oder verbrannt. Glauben Sie mir, das war ein Blick in die Hölle.‘”
Am Ende des Kapitels stellt sich Hal, der mittlerweile auf dem Steinboden einer Toilette festgehalten wird, vor, wie sich „ein müder kubanischer Pfleger” zu ihm runterbeugt und fragt, „lass hören, Kumpel, was hast du denn zu erzählen?” Mit dieser Erfahrung extremer Einsamkeit, mit dem unerfüllten Wunsch, sich mitzuteilen, und mit der Irritation des Lesers (Spinnt nun Hal? Oder sind die Prüfungskommission und der Rest der Welt verrückt?) öffnet sich der Roman auf die folgenden 1500 Seiten und sein Personal.
Als Wallace an diesem Roman saß, wirkte die Ironie in der amerikanischen Postmoderne noch als Königsweg der Erkenntnis. Wallace ist der Vollblutironiker, der zugleich sieht, dass die Ironie längst zur läppisch kraftlosen Attitüde verkommen ist. Bereits Anfang der neunziger Jahre entwickelte er in einem Essay über die Geschichte des Fernsehens eine Art literaturästhetische Theorie in Opposition zur Unterhaltungsindustrie. „E unibus pluram” beschreibt, wie das Fernsehen in seinen Erzählformen immer intelligenter und selbstreferentieller wurde. Das postmoderne Erzählen, so Wallaces These, unterschätzte die Macht des Fernsehens, weil es viel zu lange glaubte, mit ironischem Zwinkern auf die durchmedialisierte Welt blicken zu können, obwohl diese längst ironisch zurückfunkelte. Wie aber noch etwas lächerlich machen, das längst alles Lächerliche absorbiert hat?
In seinen Augen muss der Erzähler wieder den Ernst riskieren, den Schmerz erzählen, authentisch sein: „Vielleicht besteht die nächste Generation literarischer Rebellen ja aus einem verrückten Haufen von Anti-Rebellen, die die kindliche Frechheit besitzen, wieder von all den uralten menschlichen Problemen und Gefühlen zu erzählen, die so gar nicht trendy sind.” Hal Incandenza, sein eigener Antirebell, tut genau das, wenn er sagt, „dass das, was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls gibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist.”
Wie ein schwarzer Faden ziehen sich Depressionsbeschreibungen durch das Buch, von der hoffnungslosen Ödnis an einem Morgen, „wenn die Seele schon weiß, dass der bevorstehende Tag weniger zu traversieren als gewissermaßen vertikal zu erklimmen” ist, bis zur Empörung einer Patientin über das läppische klinisch-vokabularische Vokabular: „Depression, das klingt so, als wäre man bloß tierisch traurig (. . .) Es ist eher Grauen als Traurigkeit. Ja, eher wie Grauen. Es ist, als passiert gleich was Schreckliches, das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann – nein, schlimmer als alles, was man sich vorstellen kann, weil da dieses Gefühl ist, dass man sofort was machen muss, um es zu stoppen, aber man weiß nicht, was man machen muss, und dann passiert es auch, die ganze schreckliche Zeit, es passiert gleich und es passiert jetzt, alles zur selben Zeit.”
Es wäre interessant, „Unendlicher Spaß” parallel zu lesen mit „Das erschöpfte Selbst”, der Studie von Alain Ehrenberg, in der der Pariser Soziologe Mitte der neunziger Jahre, also zur selben Zeit, in der Wallace an seinem Roman saß, die Depression als symptomatische Krankheit unserer Tage deutete: Ehrenberg arbeitet heraus, wie sich seit den siebziger Jahren das freiheitliche Versprechen der Selbstverwirklichung hinter dem Rücken der so wunderbar Selbstverwirklichten schleichend in einen dämonischen Zwang verwandelte: Indem das authentische Selbst umfunktioniert wurde zum produktiven Motor all unseren Handelns, ist die Erschöpfung programmiert. Erschöpfung als Dauerzustand aber mündet in Depression, die bei Ehrenberg definiert wird als „Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.”
Die Depression scheint sich in Wallaces naher Zukunft sogar bis tief in die Sprache hineingefressen zu haben: Hal, der Wörterbuchverschlinger, behauptet eingangs, die aktuelle Ausgabe des Oxford English Dictionary kenne 19 Synonyme für teilnahmslos. Da müssen in relativ kurzer Zeit 17 dazugekommen sein, im Oxford English Dictionary von 1992, mit dem Wallace arbeitete, standen nur zwei Synonyme . . .
Überhaupt: die Synonyme und wunderbaren Fremdwörter. Ein Fettarsch wird mit „glutealer Hyperadiposität” umschrieben, es gibt „magiskulierte Schimpfwörter” und „hydroponisches Marihuana”, die Leute haben „modraogoide Nasen” und operieren mit „thigmotaktischen Eletroden”, wobei man sich nicht sicher sein kann, ob es all diese Wörter wirklich gibt, oder ob da wieder mal eine der Personen, ähnlich der wackeren Frau Stöhr im „Zauberberg”, fremdsprachlich vor sich hindilettiert.
Viele Kritiker machen ein solches Gewese um diese unbekannten Wörter, als könne man dieses Buch ohne einen Stapel Fachwörterbücher unterm Arm niemals durchqueren. Dabei erinnern diese Begriffe nur an kleine wunderschöne Fische, die am Grunde dieses Textozeans vorbeigeschwommen kommen, man muss sie nicht verstehen, sondern kann sich vielmehr an der unendlichen Vielfalt der Sprache erfreuen, ja zeitweise neologiert man nach diesen Ausdrücken, nach der Fülle und Sprachwucht, die Ulrich Blumenbach so brillant nachempfindet und oftmals kongenial neuschafft.
Auch die langen Perioden, vor denen viele warnen, sind nicht störend, im Gegenteil, zuweilen haben sie die verwegene Eleganz einer schlanken Hängebrücke, die sich über die Seite wie über ein zerklüftetes Tal spannt. Geradezu teuflich wirken sie, wenn sie einhergehen mit Beschreibungen der Enge: Es gibt da die Szene, in der ein stark verschnupfter Frankokanadier überfallen und geknebelt wird. Da er kein Englisch kann, vermag er sich dem Einbrecher gegenüber nicht verständlich zu machen, und als der immer weiter vor sich hin mäandernde Satz, in dem sein qualvolles, stundenlanges Ersticken erzählt wird, nach eineinhalb Seiten endlich an seinen erlösenden Punkt kommt, holt man beim Lesen instinktiv Luft.
Was das Lesen hingegen streckenweise zu qualvollen Exerzitien macht, ist Wallaces Taktik der Mimesis ans Hässliche, Unübersichtliche und Verlaberte unserer Zeit. Wallace stapelt immer wieder Material auf wie Geröll, wuchert in eine flächige Textur aus, und beim Durchqueren mancher endloser Tennispassagen kommt man sich vor, als müsste man in der trockenen Hitze Arizonas den roten Staub des Sandplatzes essen. Er selbst gab einmal eine merkwürdige Definition seines Berufs: „Heute habe ich mehr als 500 000 Einzelinformationen erhalten, von denen aber nur 25 relevant sind. Mein Job ist es, daraus schlau zu werden.”
Wenn er nun aber den Leser wieder einmal mit 500 000 Einzelinformationen flutet, hat er dann seinen Job nicht gemacht oder ist das der Kunstgriff, der uns zeigen soll, dass die Welt in endlose, immer kleiner werdende Wissensfraktale zerfällt? Schon klar, Wallace will damit unser nervöses Rezeptionsverhalten attackieren, das Zapp und Hopp, mit dem wir heute vor dem Fernseher, vor Büchern und vor dem ganzen Leben sitzen. Aber zuweilen wirkt es auch, als würde sich all das hässliche Material den Autor zurückerobern und verschlucken.
Wobei das Wallace wahrscheinlich gefallen hätte, der Autor, der anonym in seinem Werk verschwindet: Die Einzigen, denen er sich in seiner Danksagung verpflichtet, sind die Anonymen Alkoholiker, nicht die Vereinigung selbst, sondern Einzelne, die zu den offenen Treffen in Boston kamen und die „mir äußerst geduldig, redselig, offen und hilfreich Auskunft gegeben haben. Ich kann diesen Männern und Frauen am besten danken, indem ich ihre Namen für mich behalte.” ALEX RÜHLE
DAVID FOSTER WALLACE: Unendlicher Spaß. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Blumenbach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1552 Seiten, 39,95 Euro. Der schöne, schmale Band mit den vier Texten „Zusatzmaterial” kostet fünf Euro.
„Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte”
„Depression, das klingt so, als wäre man bloß tierisch traurig. Es ist eher Grauen als Traurigkeit”
David Foster Wallace am 11. Januar 2006 beim Signieren (oben) und während seiner Lesung (links) in der Buchhandlung „The Strand” in Manhattan Fotos: The NewYorkTimes/Redux/laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
"Alles und noch mehr' könnte eine Beschreibung dieses Romans sein. -- Don DeLillo
Das Buch ist 1646 Seiten dick, und es gibt nicht einen einzigen müßigen Satz ... Ich las das Buch mit 25 und ich verbrachte einen Monat mit nichts anderem ... Wenn Sie nach einem Monat Lektüre aus diesen Seiten heraustreten, sind Sie ein besserer Mensch. Es ist verrückt, aber auch schwer zu leugnen. Ihr Verstand ist gestärkt, weil er einen Monat lang trainiert wurde, und was noch wichtiger ist, Ihr Herz ist praller. -- Dave Eggers aus dem Vorwort 2006
Das Buch ist 1646 Seiten dick, und es gibt nicht einen einzigen müßigen Satz ... Ich las das Buch mit 25 und ich verbrachte einen Monat mit nichts anderem ... Wenn Sie nach einem Monat Lektüre aus diesen Seiten heraustreten, sind Sie ein besserer Mensch. Es ist verrückt, aber auch schwer zu leugnen. Ihr Verstand ist gestärkt, weil er einen Monat lang trainiert wurde, und was noch wichtiger ist, Ihr Herz ist praller. -- Dave Eggers aus dem Vorwort 2006
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dies Buch, verkündet Rezensentin Angela Schader fröhlich gleich zu Beginn ihrer Rezension, ist so gebaut, dass man nach einem ersten Durchgang durch die knapp 1600 Seiten gleich wieder von vorne anfangen kann - erst dann nämlich erschließe sich schon das erste Kapitel so richtig. Aus ihrer Besprechung kann man wohl schließen, dass sich sowohl die erste wie womöglich auch weitere Lektüren durchaus lohnen. Die recht ausführliche Inhaltsangabe geht zunächst auf die Geschichte der protagonistischen Familie Incandenza ein. Der Vater war Filmemacher, dann Gründer jener Tennisakademie, die ein zentraler Schauplatz des Romans ist. Dort findet auch eine Art Tennisturnier mit nuklearen Sprengköpfen statt, das "Eschnaton" heißt und von Schader gleichfalls beschrieben wird. Das Hauptwerk des James Incandenza ist ein Film des Titels "Unendlicher Spaß", dessen Betrachtung leider zur Ausschaltung sämtlicher Geistesfunktionen führt. Weiterer Schauplatz: die Drogen-Entzugsanstalt Ennet House, der der - versehentliche - Mörder Don Gately vorsteht. Von großer Wichtigkeit sind die Programme der Anonymen Alkoholiker, wie überhaupt Drogen und Sucht auf allen Ebenen ein zentrales Motiv des Romans sind. Die Rezensentin leugnet nicht, dass die Lektüre des Buchs eine durchaus "strapaziöse" Sache sein kann, insbesondere, wenn etwa zur Hälfte sämtliche "Leitideen" erst mal entfaltet sind. Mindestens eines aber entschädigt für alle Mühen: der "sprachliche Reichtum" des Buches, den der Übersetzer Ulrich Blumenbach ins Deutsche gebracht hat. Nicht zuletzt ihm möchte Schader einen "dicken Lorbeerkranz winden".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH