Unser Deutschlandmärchen ist eine Familiengeschichte in vielen Stimmen. Frauen mehrerer Generationen und der in Almanya geborene Sohn erinnern sich in poetischen, oft mythischen, kräftigen Bildern und in Monologen, Dialogen, Träumen, Gebeten, Chören. Dinçer Güçyeter erzählt vom Schicksal türkischer Griechen, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von der Herausforderung, als Gastarbeiterin und als deren Nachkomme in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse drückt Rezensent Paul Jandl dem nominierten Dinçer Güçyeter und seinem ersten Roman die Daumen: Güçyeter habe, selbst Sohn türkischer Gastarbeiter, die Geschichte migrantischer Utopien und Hoffnungen geschrieben, die allzu oft niedergeschmettert wurden. Eine Geschichte, erklärt Jandl, die viel mit dem Leben des Autors gemeinsam hat, die aufzeigt, wie toxische Männlichkeit und das Schweigen der überarbeiteten, sich aufopfernden Mutter ineinanderwirken und verhindern, dass die neue Heimat Deutschland zum erhofften Paradies wird. Den Kritiker beeindruckt dabei vor allem das Spiel mit Sprache: Sprachlosigkeit, Sprachfindung und Sprachwerdung finden in der Figur des Protagonisten zusammen, der als einziger in der Familie gut Deutsch spricht und deswegen bei allen Terminen "wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt" wird. Der Lyriker Güçyeter hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das Rebellion und Märchen zugleich ist, schließt Jandl.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022Fatma ist
mein Name
Dinçer Güçyeter orchestriert Deutschlands
Geschichten mit denen der Einwanderer neu
Als Dinçer Güçyeter im Mai für „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ der Peter-Huchel-Preis verliehen wurde, ereignete sich Ungewöhnliches: Die Menschen weinten. Man schwor sich, fortan gemeinsam durchs Leben zu gehen. Kam es dazu bloß, weil ein 1979 in Nettetal geborener Dichter, Gabelstaplerfahrer und Verleger seine mitreißenden Gedichte las?
Es gibt eine literarische Tradition, die vom schweren Leben der Menschen erzählt, die ab 1961 aus der Türkei nach Deutschland geholt wurden. Erst letztes Jahr hat der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli diese Tradition beschrieben. Wovon seine Studie auch zeugt: Es gibt daneben eine Tradition der Ausblendung aus der deutschen Geschichte. Beim Huchel-Preis wurde es möglich, um dieses verpasste gemeinsame Leben zu trauern.
Was macht nun „Unser Deutschlandmärchen“ zwischen Büchern wie denen von Emine Sevgi Özdamar, Fatma Aydemir oder Gün Tank so besonders? Anders als Özdamar erzählt Güçyeter nicht aus der Bohème, sondern orchestriert einen Chor von Arbeiterinnen. Anders als Aydemir verzichtet er auf eine eingeübte Form wie den Familienroman. Anders als Tank liebäugelt er mit dem Fantastischen und einer queeren Schreibweise, um auf dem Boden der Tatsachen zu landen, zu denen auch gehört, dass sein Alter Ego im Milieu seiner Herkunft fremd wie ein Pfau im Durchzug steht. An die Mutter gerichtet schreibt der Sohn: „Vielleicht deshalb werde ich für dich immer auch eine Enttäuschung sein. Je mehr du verhüllt hast, desto nackter wollte ich mich zeigen, je mehr du besitzen wolltest, desto verschwenderischer war ich mit allem.“ Und: „Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt.“
Güçyeter schafft sich und Frauen wie Fatma, ihrer Mutter Hanife und deren Mutter Ayşe eine Bühne. Frauen, die in Anatolien und in Deutschland als Produktionsmittel missbraucht wurden, und als Mütter Geschlechterrollen und Klassengrenzen konservierten, in deren Enge sie sich ihre eigenen Formen von Souveränität einzurichten wussten. Er würdigt diese Frauen, kritisiert sie aber auch, indem er Ehemänner und Väter wie Yılmaz zeigt, selbst eingezwängt in eine autoritäre Männlichkeit, die weder Selbstreflexion zulässt noch Gefühl. Leicht variiert passt das auch auf in der Kriegszeit in Deutschland geborenen Männer. Erst der folgenden Generation, jemandem wie Güçyeter war es möglich, seiner Sensibilität Raum und Form zu geben. Erst durch ihn und seinen flirrenden, eigenwilligen Debütroman kann seine Mutterfigur sagen: „Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen.“
INSA WILKE
Autor Dinçer Güçyeter
Foto: picture alliance/dpa/SWR
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen. Roman.
Mikrotext, Berlin 2022. 216 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
mein Name
Dinçer Güçyeter orchestriert Deutschlands
Geschichten mit denen der Einwanderer neu
Als Dinçer Güçyeter im Mai für „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ der Peter-Huchel-Preis verliehen wurde, ereignete sich Ungewöhnliches: Die Menschen weinten. Man schwor sich, fortan gemeinsam durchs Leben zu gehen. Kam es dazu bloß, weil ein 1979 in Nettetal geborener Dichter, Gabelstaplerfahrer und Verleger seine mitreißenden Gedichte las?
Es gibt eine literarische Tradition, die vom schweren Leben der Menschen erzählt, die ab 1961 aus der Türkei nach Deutschland geholt wurden. Erst letztes Jahr hat der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli diese Tradition beschrieben. Wovon seine Studie auch zeugt: Es gibt daneben eine Tradition der Ausblendung aus der deutschen Geschichte. Beim Huchel-Preis wurde es möglich, um dieses verpasste gemeinsame Leben zu trauern.
Was macht nun „Unser Deutschlandmärchen“ zwischen Büchern wie denen von Emine Sevgi Özdamar, Fatma Aydemir oder Gün Tank so besonders? Anders als Özdamar erzählt Güçyeter nicht aus der Bohème, sondern orchestriert einen Chor von Arbeiterinnen. Anders als Aydemir verzichtet er auf eine eingeübte Form wie den Familienroman. Anders als Tank liebäugelt er mit dem Fantastischen und einer queeren Schreibweise, um auf dem Boden der Tatsachen zu landen, zu denen auch gehört, dass sein Alter Ego im Milieu seiner Herkunft fremd wie ein Pfau im Durchzug steht. An die Mutter gerichtet schreibt der Sohn: „Vielleicht deshalb werde ich für dich immer auch eine Enttäuschung sein. Je mehr du verhüllt hast, desto nackter wollte ich mich zeigen, je mehr du besitzen wolltest, desto verschwenderischer war ich mit allem.“ Und: „Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt.“
Güçyeter schafft sich und Frauen wie Fatma, ihrer Mutter Hanife und deren Mutter Ayşe eine Bühne. Frauen, die in Anatolien und in Deutschland als Produktionsmittel missbraucht wurden, und als Mütter Geschlechterrollen und Klassengrenzen konservierten, in deren Enge sie sich ihre eigenen Formen von Souveränität einzurichten wussten. Er würdigt diese Frauen, kritisiert sie aber auch, indem er Ehemänner und Väter wie Yılmaz zeigt, selbst eingezwängt in eine autoritäre Männlichkeit, die weder Selbstreflexion zulässt noch Gefühl. Leicht variiert passt das auch auf in der Kriegszeit in Deutschland geborenen Männer. Erst der folgenden Generation, jemandem wie Güçyeter war es möglich, seiner Sensibilität Raum und Form zu geben. Erst durch ihn und seinen flirrenden, eigenwilligen Debütroman kann seine Mutterfigur sagen: „Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen.“
INSA WILKE
Autor Dinçer Güçyeter
Foto: picture alliance/dpa/SWR
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen. Roman.
Mikrotext, Berlin 2022. 216 Seiten, 25 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2023Überall den Buckel mit hingetragen
Aus dem Schweigen Literatur gemacht: Dinçer Güçyeter hat ein großartiges Buch über das Leben seiner Familie als Gastarbeiter geschrieben.
Der sechzigste Jahrestag des Anwerbeabkommens vor zwei Jahren wurde mit zahlreichen Festakten begangen. Ehemalige Gastarbeiter der ersten Stunde, um die es bei all dem ja eigentlich gehen sollte und deren Erinnerungen man gern gehört hätte, waren auf den Bühnen jedoch nur selten zu erleben. Dort sprachen vor allem Kinder der ersten oder zweiten Einwanderergeneration. Sicherlich, die meisten Frauen und Männer, die von 1961 an aus der Türkei nach Deutschland kamen, kehrten dorthin zurück oder sind mittlerweile verstorben. Nur noch wenige haben einen deutschen Lebensmittelpunkt. An einige aber waren Einladungen gegangen. Nicht wenige lehnten sie ab. Nach all den Jahren, in denen es kaum Anerkennung für sie gab, wollten sie nicht ins Rampenlicht geholt werden. Andere fühlten sich ihm schlichtweg nicht gewachsen.
Beides ist wenig überraschend. Das Gefühl des nicht Genügens, nicht Könnens wird von vielen Migranten berichtet. Besonders verbreitet ist es in der älteren Generation. Gastarbeiter, das waren für die meisten Deutschen vor allem duldsame Arbeitskräfte. Als solche führten sie ein Leben am Rand, das ihre anfänglichen Hoffnungen und ihren Optimismus schnell aufzehrte. Das Schweigen über Erfahrungen, Bedürfnisse, Träume wurde ein Teil ihrer Identität - wie sollte es ihnen da möglich sein, plötzlich öffentlich über ihre Erinnerungen zu sprechen? Und so klaffte bei den Festivitäten oft eine Leerstelle, die mehr über die vertanen Chancen des Zusammenlebens aussagte als alle Reden im Jubiläumsjahr.
Allein vor diesem Hintergrund ist das Buch "Unser Deutschlandmärchen" von Dinçer Güçyeter, Jahrgang 1979, Dichter, Verleger und Gabelstaplerfahrer, der im vergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis für Lyrik bekommen hat, ein sehr großes Glück. Man beginnt zu lesen und hat schon auf den ersten Seiten das Gefühl, ein Buch in den Händen zu halten, das wie mit dem Skalpell durch die vielen Schichten der Einwanderungsgeschichte fährt und in bisher unerzählte Tiefen vordringt.
Über das migrantische Erleben und den schwierigen Weg des Ankommens, der oft jahrzehntelang dauerte, haben schon andere Autoren vor Güçyeter geschrieben. Sein autobiographisch gefärbter Roman weist jedoch auch stilistisch übers Genre des Familienromans hinaus. Er enthält Kapitel, die wie Theaterszenen aufgebaut sind, außerdem Gedichte, Gebete sowie Prosaminiaturen mit ständigen Perspektivwechseln. Mal spricht ein Icherzähler aus der zweiten Generation, dann kommen Menschen, die ihr vorangegangen sind, zu Wort. In Güçyeters Familie und Bekanntenkreis sind es vor allem Frauen, die sich im Schweigen einrichten und still aufgeben, um die Erwartungen der deutschen Arbeitgeber und ihres türkischen Umfelds zu erfüllen. Ihr Ziel: den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Güçyeter dreht die Stimmen dieser Frauen wieder auf laut und ermöglicht so Einblicke, die erhellend, bereichernd und berührend sind - bisweilen sind sie auch amüsant.
Es beginnt mit der Stimme von Hanife, Tochter der Nomadin Ayse und von Ömer Bey, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes ihr anatolisches Dorf verlässt und in die Stadt zieht. Danach übernimmt Fatma, Hanifes Tochter, das Wort. Sie ist blutjung, als ihre Mutter sie im Jahr 1965 drängt, als Braut eines fremden Mannes nach Deutschland zu gehen, um ihren Brüdern den Weg dorthin zu ebnen. Fatmas Mann ist ein gutmütiger Träumer, dessen kurzsichtige Geschäftsideen schon bald nach der Ankunft des Paars in einem Dorf an der deutsch-holländischen Grenze in einen Schuldenberg münden. Noch bevor ihr Sohn Dinçer geboren ist, beginnt ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter, das fortan im Zentrum dieses Buches steht. Es sucht sich tastend und fragend einen Weg durch Erinnerungen an die Kindheit, Jugend und das Erwachsenwerden des Icherzählers, durchlebt die albtraumhafte Erfahrung der Anschläge von Mölln und Solingen und schildert mal poetisch, mal nüchtern die Gastarbeiterwelt, in der Dinçer, nachdem er im Kindergarten Deutsch gelernt hat, von seiner Sippe "wie eine Aldi-Tüte" zum Arzt, zum Rechtsanwalt, zu den Terminen bei der Bank als Dolmetscher mitgeschleppt wird.
Mal zärtlich, oft grübelnd und wütend versucht Güçyeter rückblickend, das Erlebte, das Handeln der Mutter und deren Doppelmoral zu verstehen. Fatma leidet unter den Auswüchsen der gefühlsarmen autoritären Männlichkeit in ihrer Generation, erwartet aber von Dinçer, zu einem ebensolchen Mann heranzuwachsen. Im Urlaub in der Türkei beugt sie sich wieder den archaischen Werten und Normen Anatoliens, obwohl sie auch dort als Fremde behandelt wird. Deutschland gilt als Land, in dem man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Wie es wirklich ist, dass die meisten Deutschen einen nie vergessen lassen, dass man nicht mehr ist als ein geduldeter Gast, der produzieren soll, verschweigt die Familie aus Scham, ebenso das Scheitern des Vaters. Um dessen Schulden zu tilgen, arbeitet Fatma Akkord in einer Fabrik. Ist die Frühschicht vorbei, folgen bis in die späten Abendstunden Spargelstechen und andere Feldarbeit. Dann vier Stunden Nachtruhe, aufstehen, Brote für die Kinder schmieren, und weiter, während der Vater im Bett liegt und schläft.
"Wo blieb Deine Stimme, Mutter?", fragt Güçyeter. "Im Elternhaus, im Vaterland, hier in Deutschland, egal, wo ich war, überall habe ich den Buckel mitgetragen, diese gesenkten Blicke. Alle haben mir erklärt, was ich zu machen habe, alle haben das Recht, zu bestimmen, für sich beansprucht. Niemand wollte wissen, wie es mir, wie es uns ging", sagt Fatma. Als Dinçer sieben ist, hält er die ständige Erschöpfung der Mutter nicht länger aus. Er begleitet sie fortan zur Feldarbeit. Vom ersten Wochenlohn will er ihr Stöckelschuhe kaufen. Stolz radelt er zum Schuhgeschäft, wo er aufgeregt ein lilafarbenes Paar auswählen wird. Das ist eine der vielen eindringlichen Szenen in diesem Buch; sie erzählt vom Versuch eines Kindes, sich vom Gefühl, als Verlier geboren worden zu sein, zu befreien, aber auch von einem in Regeln erstarrten Deutschland, in dem es schwer war, "eine Freude ganz auszuleben", da das Gefühl, etwas falsch zu machen, zum Alltag als Migrant gehörte. Statt sich dem Kind zuzuwenden, schickt die Verkäuferin es wieder vor die Tür. Dinçer soll erst mal sein Fahrrad richtig abstellen.
"Irgendwie habe ich es geschafft, dieses Ghetto bis in die Gegenwart zu tragen", schreibt Güçyeter. Die Liebe zur Literatur, zu Lyrik und Theater, die heute der Fluchtpunkt seines beruflichen Lebens ist, schob er für seine Mutter zunächst beiseite; der Sohn verdiente seinen Lebensunterhalt als Arbeiter. Nun ist es ihm gelungen, aus Fatmas Schweigen, das sie mit so vielen Frauen und Männern ihrer Generation teilte, großartige Literatur zu machen. Man muss dieses eigenwillige, raue Buch unbedingt lesen. KAREN KRÜGER
Dinçer Güçyeter: "Unser Deutschlandmärchen". Roman.
Mikrotext Verlag, Berlin 2022. 216 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Schweigen Literatur gemacht: Dinçer Güçyeter hat ein großartiges Buch über das Leben seiner Familie als Gastarbeiter geschrieben.
Der sechzigste Jahrestag des Anwerbeabkommens vor zwei Jahren wurde mit zahlreichen Festakten begangen. Ehemalige Gastarbeiter der ersten Stunde, um die es bei all dem ja eigentlich gehen sollte und deren Erinnerungen man gern gehört hätte, waren auf den Bühnen jedoch nur selten zu erleben. Dort sprachen vor allem Kinder der ersten oder zweiten Einwanderergeneration. Sicherlich, die meisten Frauen und Männer, die von 1961 an aus der Türkei nach Deutschland kamen, kehrten dorthin zurück oder sind mittlerweile verstorben. Nur noch wenige haben einen deutschen Lebensmittelpunkt. An einige aber waren Einladungen gegangen. Nicht wenige lehnten sie ab. Nach all den Jahren, in denen es kaum Anerkennung für sie gab, wollten sie nicht ins Rampenlicht geholt werden. Andere fühlten sich ihm schlichtweg nicht gewachsen.
Beides ist wenig überraschend. Das Gefühl des nicht Genügens, nicht Könnens wird von vielen Migranten berichtet. Besonders verbreitet ist es in der älteren Generation. Gastarbeiter, das waren für die meisten Deutschen vor allem duldsame Arbeitskräfte. Als solche führten sie ein Leben am Rand, das ihre anfänglichen Hoffnungen und ihren Optimismus schnell aufzehrte. Das Schweigen über Erfahrungen, Bedürfnisse, Träume wurde ein Teil ihrer Identität - wie sollte es ihnen da möglich sein, plötzlich öffentlich über ihre Erinnerungen zu sprechen? Und so klaffte bei den Festivitäten oft eine Leerstelle, die mehr über die vertanen Chancen des Zusammenlebens aussagte als alle Reden im Jubiläumsjahr.
Allein vor diesem Hintergrund ist das Buch "Unser Deutschlandmärchen" von Dinçer Güçyeter, Jahrgang 1979, Dichter, Verleger und Gabelstaplerfahrer, der im vergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis für Lyrik bekommen hat, ein sehr großes Glück. Man beginnt zu lesen und hat schon auf den ersten Seiten das Gefühl, ein Buch in den Händen zu halten, das wie mit dem Skalpell durch die vielen Schichten der Einwanderungsgeschichte fährt und in bisher unerzählte Tiefen vordringt.
Über das migrantische Erleben und den schwierigen Weg des Ankommens, der oft jahrzehntelang dauerte, haben schon andere Autoren vor Güçyeter geschrieben. Sein autobiographisch gefärbter Roman weist jedoch auch stilistisch übers Genre des Familienromans hinaus. Er enthält Kapitel, die wie Theaterszenen aufgebaut sind, außerdem Gedichte, Gebete sowie Prosaminiaturen mit ständigen Perspektivwechseln. Mal spricht ein Icherzähler aus der zweiten Generation, dann kommen Menschen, die ihr vorangegangen sind, zu Wort. In Güçyeters Familie und Bekanntenkreis sind es vor allem Frauen, die sich im Schweigen einrichten und still aufgeben, um die Erwartungen der deutschen Arbeitgeber und ihres türkischen Umfelds zu erfüllen. Ihr Ziel: den Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Güçyeter dreht die Stimmen dieser Frauen wieder auf laut und ermöglicht so Einblicke, die erhellend, bereichernd und berührend sind - bisweilen sind sie auch amüsant.
Es beginnt mit der Stimme von Hanife, Tochter der Nomadin Ayse und von Ömer Bey, die nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes ihr anatolisches Dorf verlässt und in die Stadt zieht. Danach übernimmt Fatma, Hanifes Tochter, das Wort. Sie ist blutjung, als ihre Mutter sie im Jahr 1965 drängt, als Braut eines fremden Mannes nach Deutschland zu gehen, um ihren Brüdern den Weg dorthin zu ebnen. Fatmas Mann ist ein gutmütiger Träumer, dessen kurzsichtige Geschäftsideen schon bald nach der Ankunft des Paars in einem Dorf an der deutsch-holländischen Grenze in einen Schuldenberg münden. Noch bevor ihr Sohn Dinçer geboren ist, beginnt ein Zwiegespräch zwischen Sohn und Mutter, das fortan im Zentrum dieses Buches steht. Es sucht sich tastend und fragend einen Weg durch Erinnerungen an die Kindheit, Jugend und das Erwachsenwerden des Icherzählers, durchlebt die albtraumhafte Erfahrung der Anschläge von Mölln und Solingen und schildert mal poetisch, mal nüchtern die Gastarbeiterwelt, in der Dinçer, nachdem er im Kindergarten Deutsch gelernt hat, von seiner Sippe "wie eine Aldi-Tüte" zum Arzt, zum Rechtsanwalt, zu den Terminen bei der Bank als Dolmetscher mitgeschleppt wird.
Mal zärtlich, oft grübelnd und wütend versucht Güçyeter rückblickend, das Erlebte, das Handeln der Mutter und deren Doppelmoral zu verstehen. Fatma leidet unter den Auswüchsen der gefühlsarmen autoritären Männlichkeit in ihrer Generation, erwartet aber von Dinçer, zu einem ebensolchen Mann heranzuwachsen. Im Urlaub in der Türkei beugt sie sich wieder den archaischen Werten und Normen Anatoliens, obwohl sie auch dort als Fremde behandelt wird. Deutschland gilt als Land, in dem man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Wie es wirklich ist, dass die meisten Deutschen einen nie vergessen lassen, dass man nicht mehr ist als ein geduldeter Gast, der produzieren soll, verschweigt die Familie aus Scham, ebenso das Scheitern des Vaters. Um dessen Schulden zu tilgen, arbeitet Fatma Akkord in einer Fabrik. Ist die Frühschicht vorbei, folgen bis in die späten Abendstunden Spargelstechen und andere Feldarbeit. Dann vier Stunden Nachtruhe, aufstehen, Brote für die Kinder schmieren, und weiter, während der Vater im Bett liegt und schläft.
"Wo blieb Deine Stimme, Mutter?", fragt Güçyeter. "Im Elternhaus, im Vaterland, hier in Deutschland, egal, wo ich war, überall habe ich den Buckel mitgetragen, diese gesenkten Blicke. Alle haben mir erklärt, was ich zu machen habe, alle haben das Recht, zu bestimmen, für sich beansprucht. Niemand wollte wissen, wie es mir, wie es uns ging", sagt Fatma. Als Dinçer sieben ist, hält er die ständige Erschöpfung der Mutter nicht länger aus. Er begleitet sie fortan zur Feldarbeit. Vom ersten Wochenlohn will er ihr Stöckelschuhe kaufen. Stolz radelt er zum Schuhgeschäft, wo er aufgeregt ein lilafarbenes Paar auswählen wird. Das ist eine der vielen eindringlichen Szenen in diesem Buch; sie erzählt vom Versuch eines Kindes, sich vom Gefühl, als Verlier geboren worden zu sein, zu befreien, aber auch von einem in Regeln erstarrten Deutschland, in dem es schwer war, "eine Freude ganz auszuleben", da das Gefühl, etwas falsch zu machen, zum Alltag als Migrant gehörte. Statt sich dem Kind zuzuwenden, schickt die Verkäuferin es wieder vor die Tür. Dinçer soll erst mal sein Fahrrad richtig abstellen.
"Irgendwie habe ich es geschafft, dieses Ghetto bis in die Gegenwart zu tragen", schreibt Güçyeter. Die Liebe zur Literatur, zu Lyrik und Theater, die heute der Fluchtpunkt seines beruflichen Lebens ist, schob er für seine Mutter zunächst beiseite; der Sohn verdiente seinen Lebensunterhalt als Arbeiter. Nun ist es ihm gelungen, aus Fatmas Schweigen, das sie mit so vielen Frauen und Männern ihrer Generation teilte, großartige Literatur zu machen. Man muss dieses eigenwillige, raue Buch unbedingt lesen. KAREN KRÜGER
Dinçer Güçyeter: "Unser Deutschlandmärchen". Roman.
Mikrotext Verlag, Berlin 2022. 216 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main