"Fangen Sie an, Fritz" - mit diesem Satz beginnt ein Gespräch unter Freunden. Helmut Schmidt und Fritz Stern kennen sich seit vielen Jahren und haben sich im Sommer 2009 zusammengesetzt, um über Themen miteinander zu reden, die ihnen am Herzen liegen: Erfahrungen und Lehren aus der Geschichte, das gemeinsam erlebte Jahrhundert, Menschen, die ihnen begegnet sind. Das Ergebnis ist so anregend wie kurzweilig. Der Politiker und der Historiker spielen sich die Bälle zu, mal im Konsens, mal im Widerspruch, stets auf eine pointierte Darlegung ihrer eigenen Positionen bedacht. Das Spektrum der behandelten Fragen reicht von Bismarck bis Israel, vom Zweiten Weltkrieg bis zum Aufstieg Chinas, vom Rückblick auf die Ära Bush bis zu den überhöhten Boni für Banker - und auch die Anekdoten kommen nicht zu kurz. In Szene gesetzt von Hanns Zischler und Hans Peter Hallwachs.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010Auf dem Weg in die Hausbar
Der Staatsmann Helmut Schmidt und der Historiker Fritz Stern brachten im Hamburger Reihenhaus zur Sprache, was beide bewegte.
Von Gregor Schöllgen
Erstmals begegnet sind sie sich 1976. Seither sind Helmut Schmidt und Fritz Stern im Gespräch. Im Frühsommer 2009 haben sich der deutsche Politiker und der amerikanische Historiker drei Tage in Schmidts Hamburger Reihenhaus zusammengesetzt, "um die vielen Themen, die uns bewegen, zur Sprache" und das Ergebnis in Buchform zu bringen. Dass sie "alles, was ein lebendiges Gespräch ausmacht - das Kursorische, Mäandernde, Improvisierte -, . . . so weit wie möglich beibehalten" und "das frei gesprochene Wort . . . weder durch gelehrte Nachbesserung noch durch die Regeln der Hochsprache ins Prokrustesbett" gezwungen haben, kommt der Lesbarkeit sehr zugute. Obgleich die beiden "kein Geschichtsbuch" vorlegen wollten, ist es eines geworden - im besten Sinne des Wortes: ein Musterbeispiel erlebter und erinnerter, reflektierter und erzählter Geschichte, dem man einen festen Platz an deutschen Schulen und Universitäten wünscht.
Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, und den acht Jahre jüngeren Fritz Stern verbinden nicht zuletzt die Erfahrungen, die ihre Generation mit Deutschland und den Deutschen gemacht hat - ganz gleich, wohin das Schicksal den Einzelnen verschlug. Denn auch Stern, der Deutschland im Sommer 1938 verlassen musste und nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten eine akademische Karriere machte, hat sich wissenschaftlich, publizistisch und wenn man so will auch politisch zeitlebens mit jenem Land beschäftigt, in dem Schmidt seine politische, dann auch publizistische Erfolgsgeschichte geschrieben hat. Den deutschen Staatsmann und den amerikanischen Gelehrten zeichnet aus, dass sie sich und anderen nichts mehr beweisen müssen. Das macht sie frei. Ob die Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge teilt, ob sie diese Sicht - sei es aus Ignoranz, sei es aus Böswilligkeit - missversteht, kann ihnen vergleichsweise gleichgültig sein. Sie sind sich ihrer Sache sicher, denn sie wissen, wovon sie sprechen.
So stellt Fritz Stern nicht nur fest, dass die Deportationen der deutschen Juden während der Kriegsjahre "etwas anderes" waren als deren von ihm selbst erfahrene Diskriminierung, sondern er sagt auch, dass die Vernichtungslager deshalb auf polnischem Boden errichtet wurden, weil sich die Nationalsozialisten womöglich "ihrer Sache nicht sicher waren und Proteste fürchteten". Man glaubt Helmut Schmidt, der als Wehrmachtsoffizier unter anderem 1941/42 an der Ostfront im Einsatz war, wenn er zu Protokoll gibt, das "Wort Dachau", ja selbst das "Wort Auschwitz . . . erst nach dem Krieg gehört" zu haben, und man spürt, wie die beiden mit solchen Erkenntnissen ringen.
Ähnliches gilt für eine Reihe weiterer Themen, wie zum Beispiel Israel. Deutschland, sagt Schmidt in erklärter Abgrenzung zur amtierenden Kanzlerin, "hat eine besondere Verantwortung dafür, dass solche Verbrechen wie der Holocaust sich niemals wiederholen. Deutschland hat keine Verantwortung für Israel." Nach Gründen für diese Klarstellung muss man nicht lange suchen: Das Urteil der beiden Herren über die israelische Politik ist hart und unzweideutig. Der Amerikaner weiß, dass man sich bei diesem Thema "keine Freunde" macht, und der Deutsche schlägt vor, es zu "verlassen, Fritz. Da kommt nichts Positives mehr raus."
Nein, hinter dem Berg halten sie mit ihrer Meinung nicht - bei den Sachthemen nicht und bei Personen schon gar nicht. Vielen der herausragenden Akteure "ihres" 20. Jahrhunderts sind sie begegnet, wenige halten ihrem kritischen Urteil stand. Das gilt für die Deutschen von Bismarck und Wilhelm II. bis Helmut Kohl, es gilt für die Amerikaner, etwa für den insgesamt noch mit wohlwollendem Respekt begutachteten Henry Kissinger, insbesondere aber für Männer wie Zbigniew Brzezinski, den Sicherheitsberater des vorsichtshalber erst gar nicht näher ins Gespräch gebrachten Präsidenten Carter, oder für George W. Bush und seinen Vizepräsidenten Dick Cheney, mit denen die beiden hart ins Gericht gehen. Es gilt selbst für die Päpste, den amtierenden ohnehin, aber auch für seinen Vorgänger Johannes Paul II. - "ein guter Mensch", aber "intellektuell beschränkt". Das sagt der deutsche Altkanzler, der in bekannter Manier wesentlich direkter zur Sache geht als der eher diskret argumentierende, dabei nicht weniger bestimmt urteilende amerikanische Historiker, der bei aller Freundschaft nicht zu den kritiklosen Bewunderern seines Gesprächspartners zählt. Das beruht auf Gegenseitigkeit und gibt dem Gespräch seine Würze. Als Stern den Politiker fragt, ob auch er gelegentlich über Lügen "hinweggepfuscht" habe, antwortet Schmidt: "Natürlich. Nur Professoren haben das nicht nötig." Dann geht's ab "in die Bar" - und der Leser bedauert, dass er draußen bleiben muss.
Helmut Schmidt/Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. Verlag C. H. Beck, München 2010. 287 S., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Staatsmann Helmut Schmidt und der Historiker Fritz Stern brachten im Hamburger Reihenhaus zur Sprache, was beide bewegte.
Von Gregor Schöllgen
Erstmals begegnet sind sie sich 1976. Seither sind Helmut Schmidt und Fritz Stern im Gespräch. Im Frühsommer 2009 haben sich der deutsche Politiker und der amerikanische Historiker drei Tage in Schmidts Hamburger Reihenhaus zusammengesetzt, "um die vielen Themen, die uns bewegen, zur Sprache" und das Ergebnis in Buchform zu bringen. Dass sie "alles, was ein lebendiges Gespräch ausmacht - das Kursorische, Mäandernde, Improvisierte -, . . . so weit wie möglich beibehalten" und "das frei gesprochene Wort . . . weder durch gelehrte Nachbesserung noch durch die Regeln der Hochsprache ins Prokrustesbett" gezwungen haben, kommt der Lesbarkeit sehr zugute. Obgleich die beiden "kein Geschichtsbuch" vorlegen wollten, ist es eines geworden - im besten Sinne des Wortes: ein Musterbeispiel erlebter und erinnerter, reflektierter und erzählter Geschichte, dem man einen festen Platz an deutschen Schulen und Universitäten wünscht.
Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, und den acht Jahre jüngeren Fritz Stern verbinden nicht zuletzt die Erfahrungen, die ihre Generation mit Deutschland und den Deutschen gemacht hat - ganz gleich, wohin das Schicksal den Einzelnen verschlug. Denn auch Stern, der Deutschland im Sommer 1938 verlassen musste und nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten eine akademische Karriere machte, hat sich wissenschaftlich, publizistisch und wenn man so will auch politisch zeitlebens mit jenem Land beschäftigt, in dem Schmidt seine politische, dann auch publizistische Erfolgsgeschichte geschrieben hat. Den deutschen Staatsmann und den amerikanischen Gelehrten zeichnet aus, dass sie sich und anderen nichts mehr beweisen müssen. Das macht sie frei. Ob die Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge teilt, ob sie diese Sicht - sei es aus Ignoranz, sei es aus Böswilligkeit - missversteht, kann ihnen vergleichsweise gleichgültig sein. Sie sind sich ihrer Sache sicher, denn sie wissen, wovon sie sprechen.
So stellt Fritz Stern nicht nur fest, dass die Deportationen der deutschen Juden während der Kriegsjahre "etwas anderes" waren als deren von ihm selbst erfahrene Diskriminierung, sondern er sagt auch, dass die Vernichtungslager deshalb auf polnischem Boden errichtet wurden, weil sich die Nationalsozialisten womöglich "ihrer Sache nicht sicher waren und Proteste fürchteten". Man glaubt Helmut Schmidt, der als Wehrmachtsoffizier unter anderem 1941/42 an der Ostfront im Einsatz war, wenn er zu Protokoll gibt, das "Wort Dachau", ja selbst das "Wort Auschwitz . . . erst nach dem Krieg gehört" zu haben, und man spürt, wie die beiden mit solchen Erkenntnissen ringen.
Ähnliches gilt für eine Reihe weiterer Themen, wie zum Beispiel Israel. Deutschland, sagt Schmidt in erklärter Abgrenzung zur amtierenden Kanzlerin, "hat eine besondere Verantwortung dafür, dass solche Verbrechen wie der Holocaust sich niemals wiederholen. Deutschland hat keine Verantwortung für Israel." Nach Gründen für diese Klarstellung muss man nicht lange suchen: Das Urteil der beiden Herren über die israelische Politik ist hart und unzweideutig. Der Amerikaner weiß, dass man sich bei diesem Thema "keine Freunde" macht, und der Deutsche schlägt vor, es zu "verlassen, Fritz. Da kommt nichts Positives mehr raus."
Nein, hinter dem Berg halten sie mit ihrer Meinung nicht - bei den Sachthemen nicht und bei Personen schon gar nicht. Vielen der herausragenden Akteure "ihres" 20. Jahrhunderts sind sie begegnet, wenige halten ihrem kritischen Urteil stand. Das gilt für die Deutschen von Bismarck und Wilhelm II. bis Helmut Kohl, es gilt für die Amerikaner, etwa für den insgesamt noch mit wohlwollendem Respekt begutachteten Henry Kissinger, insbesondere aber für Männer wie Zbigniew Brzezinski, den Sicherheitsberater des vorsichtshalber erst gar nicht näher ins Gespräch gebrachten Präsidenten Carter, oder für George W. Bush und seinen Vizepräsidenten Dick Cheney, mit denen die beiden hart ins Gericht gehen. Es gilt selbst für die Päpste, den amtierenden ohnehin, aber auch für seinen Vorgänger Johannes Paul II. - "ein guter Mensch", aber "intellektuell beschränkt". Das sagt der deutsche Altkanzler, der in bekannter Manier wesentlich direkter zur Sache geht als der eher diskret argumentierende, dabei nicht weniger bestimmt urteilende amerikanische Historiker, der bei aller Freundschaft nicht zu den kritiklosen Bewunderern seines Gesprächspartners zählt. Das beruht auf Gegenseitigkeit und gibt dem Gespräch seine Würze. Als Stern den Politiker fragt, ob auch er gelegentlich über Lügen "hinweggepfuscht" habe, antwortet Schmidt: "Natürlich. Nur Professoren haben das nicht nötig." Dann geht's ab "in die Bar" - und der Leser bedauert, dass er draußen bleiben muss.
Helmut Schmidt/Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. Verlag C. H. Beck, München 2010. 287 S., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2010Palaver beim Stehempfang
Ganz uneitel: Helmut Schmidt und Fritz Stern im Gespräch
Große alte Männer im Gespräch – solche Bücher schlägt man ja meist mit einem ambivalenten Gefühl auf: In die neugierige Hoffnung, hinter die Kulissen der Weltpolitik blicken zu dürfen, mischt sich die Angst, dass da einmal mehr Opa vom Krieg erzählt. Die Hoffnung wird hier erfüllt, die Angst hingegen ist unbegründet: Helmut Schmidt und Fritz Stern ergänzen einander so gut, dass man sich nach dem Lesen wünscht, die beiden würden die Versuchsanordnung dieses Buches im kommenden Sommer wiederholen, also nochmal drei Tage in Schmidts Garten sitzen und einander Fragen stellen, über Europas Chancen und den Niedergang der USA, die dunkle deutsche Geschichte und die fatale Liaison zwischen Israel und den Neokonservativen in Amerika, über Thomas Carlyle, Nietzsche und die „Federalist Papers”.
Zuweilen geht es so schnell hin und her, dass Schmidt einmal sagt, er komme nicht mehr mit. Als Stern daraufhin seinen Satz laut wiederholt und Schmidt ihn unterbricht, nein, er habe schon verstanden, er komme nur, altersbedingt , inhaltlich nicht mit, sagt Stern: „Bei mir ist es so, dass ich schnell spreche, denn wenn ich langsam spreche, habe ich schon wieder vergessen, was ich am Anfang sagen wollte.”
Die immer wieder durchschimmernde Selbstironie ist wohltuend. Wenn die beiden anekdotisch reden, dann nicht um ihre eigene Wichtigkeit zu unterstreichen, sondern um einen Sachverhalt prägnant ins Bild zu fassen. Als es etwa um die hoffnungslose Abgeschottetheit der spätsowjetischen Nomenklatur geht, erzählt Schmidt von einem Breschnew-Besuch bei ihm zu Haus: „Als er die Häuser hier sah, und vor jedem Haus stand ein Auto, hat er im Ernst geglaubt, das sei ein Wohnviertel für die Nomenklatura. Er fragte, wo denn die Mauer sei, die uns hier abschirmt. Da hat er wohl zum ersten Mal etwas vom Lebensstandard der Westdeutschen begriffen.”
Vor allem aber halten sie ihr eigenes Ego im Zaum, indem sie beide als Fragesteller in diese Gespräche gehen. Statt als Bescheidwisser und Monumente ihrer Zeit nebeneinander herzumonologisieren, befragen sie einander und lassen die Anworten des je anderen gelten, selbst wenn einer anderer Meinung ist. Eine Frage, die Stern fünfmal in diesem Buch formuliert, bildet eine Art Hintergrundstrahlung des Gesprächs: „Wie konnte das passieren?” Wie konnten die Nazis so schnell, so ohne allen Widerstand Deutschland umkrempeln? Und wie konnte es mitten in Europa zum Holocaust kommen? Beantwortet wird die Frage nicht, aber man wird durch ihr weit ausgreifendes Kraftfeld unter anderem nach Weimar geleitet, nach Preußen und tief in den Ersten Weltkrieg.
Leider liest sich das, als treibe man auf einem Korkfloß über ausgedehnte Korallenriffe: Alles schillert, viele Namen funkeln verlockend interessant, so gerne würde man oft innehalten und den Dingen auf den Grund gehen, allein, das Floß treibt weiter, „wir dürfen in unserem Buch nicht Stunden über Henry reden”, mahnt Schmidt einmal, „wir haben noch viel vor uns”. Henry, das ist Kissinger, versteht sich. Durch den Wunsch, möglichst viele Themen anzureißen, hat das Gespräch etwas von gehobenem Stehempfangspalaver. Das ist oftmals kurzweilig, gerade auch weil die beiden mit Humor gesegnet sind, Stern auf die elegante Art, Schmidt mit seiner bärbeißigen Ironie: Auf Sterns Bemerkung, Ratzinger habe als Papst nicht die Ausstrahlung, die sein Vorgänger gehabt habe, knurrt Schmidt: „Geschieht ihm Recht!” Und als Stern seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, „die Achse Paris-Berlin” werde „doch hoffentlich bestehen”, antwortet Schmidt: „Ich teile Ihre Hoffnung.” Stern: „Sie teilen meine Hoffnung? Das heißt, Sie glauben nicht daran?”
Die Neocons: „Rechtsradikale”
Hoffnung als Synonym für Skepsis: Hier reden zwei epikuräisch weise Weltenlaufbeobachter, die aber keine Kulturpessimisten sind, Schmidt betont mehrfach, wie erstaunlich er die Entwicklung der BRD finde: „Das Ergebnis, wenn Sie die heutige Bundesrepublik im Jahre 2009 anschauen, ist unendlich viel besser als das, was wir 1949 erwartet haben.”
Gerade aber weil die beiden doch klug argumentieren, wäre es schön gewesen, wenn sie ihre Ansichten an irgendeiner Stelle einmal vertieft und dafür anderes, zuweilen grotesk Marginales beiseite gelassen hätten. Man will doch wissen, warum sie, die beide so bedächtig argumentieren, sofort darin übereinstimmen, dass die amerikanischen Neokonservativen „Rechtsradikale” seien. Vielleicht können sie das ja im kommenden Sommer nachholen. ALEX RÜHLE
HELMUT SCHMIDT, FRITZ STERN: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. Verlag C. H. Beck, München 2010. 288 Seiten, 21,95 Euro.
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Ganz uneitel: Helmut Schmidt und Fritz Stern im Gespräch
Große alte Männer im Gespräch – solche Bücher schlägt man ja meist mit einem ambivalenten Gefühl auf: In die neugierige Hoffnung, hinter die Kulissen der Weltpolitik blicken zu dürfen, mischt sich die Angst, dass da einmal mehr Opa vom Krieg erzählt. Die Hoffnung wird hier erfüllt, die Angst hingegen ist unbegründet: Helmut Schmidt und Fritz Stern ergänzen einander so gut, dass man sich nach dem Lesen wünscht, die beiden würden die Versuchsanordnung dieses Buches im kommenden Sommer wiederholen, also nochmal drei Tage in Schmidts Garten sitzen und einander Fragen stellen, über Europas Chancen und den Niedergang der USA, die dunkle deutsche Geschichte und die fatale Liaison zwischen Israel und den Neokonservativen in Amerika, über Thomas Carlyle, Nietzsche und die „Federalist Papers”.
Zuweilen geht es so schnell hin und her, dass Schmidt einmal sagt, er komme nicht mehr mit. Als Stern daraufhin seinen Satz laut wiederholt und Schmidt ihn unterbricht, nein, er habe schon verstanden, er komme nur, altersbedingt , inhaltlich nicht mit, sagt Stern: „Bei mir ist es so, dass ich schnell spreche, denn wenn ich langsam spreche, habe ich schon wieder vergessen, was ich am Anfang sagen wollte.”
Die immer wieder durchschimmernde Selbstironie ist wohltuend. Wenn die beiden anekdotisch reden, dann nicht um ihre eigene Wichtigkeit zu unterstreichen, sondern um einen Sachverhalt prägnant ins Bild zu fassen. Als es etwa um die hoffnungslose Abgeschottetheit der spätsowjetischen Nomenklatur geht, erzählt Schmidt von einem Breschnew-Besuch bei ihm zu Haus: „Als er die Häuser hier sah, und vor jedem Haus stand ein Auto, hat er im Ernst geglaubt, das sei ein Wohnviertel für die Nomenklatura. Er fragte, wo denn die Mauer sei, die uns hier abschirmt. Da hat er wohl zum ersten Mal etwas vom Lebensstandard der Westdeutschen begriffen.”
Vor allem aber halten sie ihr eigenes Ego im Zaum, indem sie beide als Fragesteller in diese Gespräche gehen. Statt als Bescheidwisser und Monumente ihrer Zeit nebeneinander herzumonologisieren, befragen sie einander und lassen die Anworten des je anderen gelten, selbst wenn einer anderer Meinung ist. Eine Frage, die Stern fünfmal in diesem Buch formuliert, bildet eine Art Hintergrundstrahlung des Gesprächs: „Wie konnte das passieren?” Wie konnten die Nazis so schnell, so ohne allen Widerstand Deutschland umkrempeln? Und wie konnte es mitten in Europa zum Holocaust kommen? Beantwortet wird die Frage nicht, aber man wird durch ihr weit ausgreifendes Kraftfeld unter anderem nach Weimar geleitet, nach Preußen und tief in den Ersten Weltkrieg.
Leider liest sich das, als treibe man auf einem Korkfloß über ausgedehnte Korallenriffe: Alles schillert, viele Namen funkeln verlockend interessant, so gerne würde man oft innehalten und den Dingen auf den Grund gehen, allein, das Floß treibt weiter, „wir dürfen in unserem Buch nicht Stunden über Henry reden”, mahnt Schmidt einmal, „wir haben noch viel vor uns”. Henry, das ist Kissinger, versteht sich. Durch den Wunsch, möglichst viele Themen anzureißen, hat das Gespräch etwas von gehobenem Stehempfangspalaver. Das ist oftmals kurzweilig, gerade auch weil die beiden mit Humor gesegnet sind, Stern auf die elegante Art, Schmidt mit seiner bärbeißigen Ironie: Auf Sterns Bemerkung, Ratzinger habe als Papst nicht die Ausstrahlung, die sein Vorgänger gehabt habe, knurrt Schmidt: „Geschieht ihm Recht!” Und als Stern seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, „die Achse Paris-Berlin” werde „doch hoffentlich bestehen”, antwortet Schmidt: „Ich teile Ihre Hoffnung.” Stern: „Sie teilen meine Hoffnung? Das heißt, Sie glauben nicht daran?”
Die Neocons: „Rechtsradikale”
Hoffnung als Synonym für Skepsis: Hier reden zwei epikuräisch weise Weltenlaufbeobachter, die aber keine Kulturpessimisten sind, Schmidt betont mehrfach, wie erstaunlich er die Entwicklung der BRD finde: „Das Ergebnis, wenn Sie die heutige Bundesrepublik im Jahre 2009 anschauen, ist unendlich viel besser als das, was wir 1949 erwartet haben.”
Gerade aber weil die beiden doch klug argumentieren, wäre es schön gewesen, wenn sie ihre Ansichten an irgendeiner Stelle einmal vertieft und dafür anderes, zuweilen grotesk Marginales beiseite gelassen hätten. Man will doch wissen, warum sie, die beide so bedächtig argumentieren, sofort darin übereinstimmen, dass die amerikanischen Neokonservativen „Rechtsradikale” seien. Vielleicht können sie das ja im kommenden Sommer nachholen. ALEX RÜHLE
HELMUT SCHMIDT, FRITZ STERN: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. Verlag C. H. Beck, München 2010. 288 Seiten, 21,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wenn Altkanzler Helmut Schmidt über die Lage der Welt doziert, wird dies hierzulande gewohnheitsmäßig mit gewichtigem Kopfnicken quittiert. Auch vom Rezensenten Gregor Schöllgen, der gar nicht genug davon bekommen kann, wenn Schmidt im Duett mit dem 1938 in die USA emigrierten Historiker Fritz Stern die Größen dieser Welt als allesamt überschätzt abkanzelt. Dass Stern meist etwas moderater urteilt als Schmidt, scheint Schöllgen ihm nicht nachzutragen, aber seine Vorliebe gilt ganz klar dem herrischen Verdikt, etwa Schmidt, etwa wenn dieser dekretiert, dass Deutschland keine besondere Verantwortung gegenüber Israel habe, sondern dafür, dass sich Verbrechen wie der Holocaust nicht wiederholten. Wieso er Deutschland dazu besonders berufen sieht, erfahren wir nicht. Freudig berichtet der Rezensent schließlich, dass auch Bismarck, Helmut Kohl, Georg W. Bush und Dick Cheney ihr Fett wegbekommen. Oder Johannes Paul II., der Schöllgen zufolge als guter Mensch durchgeht - wenn auch "intellektuell beschränkt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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