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Ferdinand von Schirach hat es in seinem Beruf alltäglich mit Menschen zu tun, die Extremes getan oder erlebt haben. Das Ungeheuerliche ist bei ihm der Normalfall. Er vertritt Unschuldige, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ebenso wie Schwerstkriminelle. Deren Geschichten erzählt er - lakonisch wie ein Raymond Carver und gerade deswegen mit unfassbarer Wucht. Ein angesehener, freundlicher Herr, Doktor der Medizin, erschlägt nach vierzig Ehejahren seine Frau mit einer Axt. Er zerlegt sie förmlich, bevor er schließlich die Polizei informiert. Sein Geständnis ist ebenso außergewöhnlich wie…mehr

Produktbeschreibung
Ferdinand von Schirach hat es in seinem Beruf alltäglich mit Menschen zu tun, die Extremes getan oder erlebt haben. Das Ungeheuerliche ist bei ihm der Normalfall. Er vertritt Unschuldige, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ebenso wie Schwerstkriminelle. Deren Geschichten erzählt er - lakonisch wie ein Raymond Carver und gerade deswegen mit unfassbarer Wucht.
Ein angesehener, freundlicher Herr, Doktor der Medizin, erschlägt nach vierzig Ehejahren seine Frau mit einer Axt. Er zerlegt sie förmlich, bevor er schließlich die Polizei informiert. Sein Geständnis ist ebenso außergewöhnlich wie seine Strafe. Ein Mann raubt eine Bank aus, und so unglaublich das klingt: er hat seine Gründe. Gegen jede Wahrscheinlichkeit wird er von der deutschen Justiz an Leib und Seele gerettet. Eine junge Frau tötet ihren Bruder. Aus Liebe. Lauter unglaubliche Geschichten, doch sie sind wahr.
Autorenporträt
Ferdinand von Schirach, geb. 1964 in München, arbeitet seit 1994 als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin. Zu seinen Mandanten gehörten das frühere Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, der ehemalige BND-Spion Norbert Juretzko, Industrielle, Prominente und Angehörige der Unterwelt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2009

Anwalt seiner selbst

Ohne Zweifel für den Angeklagten: Ferdinand von Schirach verteidigt das Verbrechen mit literarischen Mitteln.

Fast alle großen Veränderungen in unserer Gesellschaft spiegeln sich in Strafprozessen wider", sagte der Jurist Ferdinand von Schirach vor ziemlich genau einem Jahr in einem "Welt"-Interview. Befragt hatte man ihn nicht nur als prominenten Strafverteidiger, sondern - wieder einmal - auch als Enkel des ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Der Anlass schließlich war die Attacke auf die Wachsfigur Adolf Hitlers in der neu eröffneten Madame-Tussaud-Dependance in Berlin. Wie sollte mit dem Täter verfahren werden? Rhetorisches Geschick verrät es, wie von Schirach sofort die Schuldfrage verschiebt: "Ein Richter wird sich Gedanken darüber machen müssen, dass in unserer Gesellschaft, in der es fast keine Tabus mehr gibt, nun auch noch das letzte überschritten wurde: Hitler wird als Wachsfigur aufgestellt, als sei er ein berühmter Tennisspieler." Wie dieser Jurist ebenden Mann, der Hitler den Wachsschädel abgerissen hat, zum einzig Aufrechten erklärte, das hatte Feuer: Er heile mit seiner Tat den Frevel, selbst den Holocaust der "knoppisierten" Spaßgesellschaft zu opfern.

Der Berliner Rechtsanwalt hat Geschmack gefunden am geformten Wort, das er so routiniert beherrscht. Jetzt wagt er den Übertritt von der Rhetorik zur Poetik, denn schließlich gibt es noch eine weitere Instanz, die fast alle großen Veränderungen der Gesellschaft spiegelt. Mit "Verbrechen" legt Ferdinand von Schirach eine Sammlung wuchtiger Kurzgeschichten aus der Perspektive des Strafverteidigers vor. Die meisten Überfälle passieren im Haushalt, könnte man glauben. So stapfen wir schon nach wenigen Seiten durch das Blut einer sorgfältig im Keller zerhackten Frau, Ingrid. Ihr Mann, der Täter, liebt sie immer noch. Auf wenigen Seiten skizziert der Autor das Psychogramm einer fürchterlichen Ehe, deren zugrundeliegender Schwur beide Partner zu Gefangenen machte. So lange quälte Ingrid ihren Mann mit Beleidigungen und Vorwürfen, bis der Tod sie schied - weil er eben zuhackte. Der Verteidiger, immer Teufels Advokat, verlegt sich darauf, den Angeklagten als armen Teufel dastehen zu lassen, der seine Strafe bereits vor der Tat verbüßte: "In der Sache gab es nichts zu verteidigen. Es war ein rechtsphilosophisches Problem: Was ist der Sinn von Strafe?" Die Schöffen sind beeindruckt, das Urteil fällt minimal aus: drei Jahre im offenen Vollzug. Heilte hier auch ein Täter den Frevel, diesmal Nervigkeit? Obacht, ihr nervigen Frauen.

Wenn die elf Prosastücke inhaltlich etwas verbindet, dann dieses offen parteiische Auftreten des Erzählers, der das Menschliche im Verbrecherischen sucht. Mit souveräner Nonchalance präsentiert von Schirach die kriminelle Tat als Teil eines kausalen Zusammenhangs. Auch die härtesten Fälle dürfen eben nicht isoliert betrachtet werden: Von der Todesfolter ("Wagner lag in seinem Bett, seine Oberschenkel waren mit einer Schraubzwinge zusammengepresst, in der linken Kniescheibe steckten zwei, in der rechten drei Zimmermannsnägel. Eine Garotte lag um seinen Hals, seine Zunge hing aus dem Mund") über Eifersuchtsmord, Kannibalismus, Notwehr und Euthanasie bis zum banalen Geldraub reicht die Palette des allzu Menschlichen, das schon seine Gründe hat. Auf eine leicht verdrehte Weise trifft sich das mit Michel Foucaults Kampf gegen die diskursive Exklusion des Delinquenten aus dem Bereich des Normalmenschlichen.

Allmählich aber fällt dem Leser, der ja immer eine Art poetologischer Kriminalist ist, etwas auf, ein Muster: Jede der kurzweiligen Anekdoten ist im selben Stil erzählt. Stets der Wechsel von personaler Perspektive zur auktorialen Einordnung, stets derselbe lakonische Tonfall ostentativer Unvoreingenommenheit. So stellt sich schließlich ein Gefühl ein, als würde man löslichen Kaffee in sich hineinlöffeln: pure Intensität, ungeheuer wirkungsvoll, doch nicht unbedingt ein Genuss. Es fehlt der narrative Überbau, die poetische Autonomie. Das wird extrem deutlich, wenn von Schirach seinem neusachlichen Stil doch einmal untreu wird, um expressiver zu erzählen, so in einer arg kapriziösen Dornauszieher-Parabel. Man hat also eine Sammlung von Plot-Skizzen vor sich, Drehbuch-Ideen womöglich. Eine Erzählung allerdings, die letzte, sticht heraus. Hier gelingt, was man bis dahin vermisst hat: Die Figuren werden plastisch und bringen die Handlung aus sich hervor. So entsteht eine ganz und gar unplausible, schöne Geschichte über die Kraft des Glücks.

Vielleicht aber war die poetologische Wende Ferdinand von Schirachs auch nur die effektvolle Antäuschung eines ausgebufften Rhetorikers, der letztlich nur Anwalt seiner selbst ist. Denn es gibt einen Helden in diesen Stücken, der ein ums andere Mal in hellerem Glanz erstrahlt: das Rechtssystem persönlich, und zwar im strengen Sinn persönlich. Der allzu menschlichen Tat wird nur ein menschlich aufgeweitetes Urteil gerecht. Liest man dieses Buch als ein einziges Plädoyer für das abwägende Schuldstrafrecht, das Motive und Intentionen berücksichtigt, dann muss man doch sagen: Es überzeugt. Man hält es danach fast für möglich, dass ein deutsches Gericht einem Angeklagten einen Orden dafür verleiht, dass er betrunken den Berliner Hitler-Wiedergänger enthauptet hat. Die Wirklichkeit ist profaner: Neunhundert Euro Strafe für den arbeitslosen Altenpfleger, entschied das Amtsgericht Tiergarten vor wenigen Wochen.

OLIVER JUNGEN

Ferdinand von Schirach: "Verbrechen". Stories. Piper Verlag, München/Zürich 2009. 208 S., geb., 16,95 [Euro].

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