Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Lange Zeit war die einleuchtende Antwort auf diese Frage: die Sprache. Aber je genauer die Zoologen beobachten, desto deutlicher wird, dass auch Tiere "sprachliche" Signale aussenden und verstehen. Den Unterschied macht der menschliche Umgang mit der Sprache - nicht nur ihre schriftliche Fixierung, sondern auch ihre Reichweite: Sie schafft die Möglichkeit, die Grenzen von Raum und Zeit und sogar die Wirklichkeit zu überschreiten; sie erschließt Geschichte und bringt Geschichten hervor. Etwas pointiert könnte man sagen: der gesuchte Unterschied liegt im Erzählen. Und zwar nicht nur im literarischen Erzählen und in den als "Narrativ" gefeierten wissenschaftlichen Entwürfen, sondern auch in der Durchwirkung der alltäglichen Kommunikation mit Erzählungen. Dieser bunten Erzählwelt wendet sich Hermann Bausingers Buch zu. Es konzentriert sich zunächst auf die persönlichen Geschichten, mit denen sich die Leute in ihrem gesellschaftlichen Umfeld orientieren, aber auch an ihrem Selbstbild arbeiten. In einem zweiten Teil richtet sich der Blick auf verfügbare Erzählformen, die teilweise in einer langen Tradition stehen. Einen zentralen Platz nehmen dabei die Märchen ein, aber auch Legenden, moralische Geschichten - und auch die Vielfalt der Witze gehört in diesen Zusammenhang. Der abschließende dritte Teil des Buches greift das Problem der sprachlichen Bedingungen auf und zeigt, wie die Sprachwirklichkeit Möglichkeiten des Erzählens schafft, aber auch begrenzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2022Der Plausch am Gartenzaun ist nicht zu unterschätzen
Eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Kultur: Hermann Bausinger analysiert das alltägliche Erzählen
Sein erstes Buch hat Hermann Bausinger nie veröffentlicht. Der Titel lautete: "Lebendiges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählgutes aufgrund von Untersuchungen im nord-östlichen Württemberg". Es handelt sich um Bausingers Dissertation aus dem Jahr 1952. Der Eingangssatz skizziert bereits das Programm, mit dem der spätere Professor am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Volkskunde beziehungsweise Empirische Kulturwissenschaft die Erzählforschung grundlegend verändern sollte: "Ziel der Arbeit ist es: das Erzählen, wie es heute im Volk gepflegt wird, auf seine Deutung, seine Gegenstände, seine Erscheinungsformen, seine Bedingungen und Triebkräfte zu untersuchen."
Das richtete sich gegen den engen Fokus der (volkskundlichen) Erzählforschung auf Sagen, Mythen, Märchen und Schwänke als traditionelle Formen der "Volkspoesie". Bausinger hingegen interessierte sich auch für die aktuellen Erzählungen, die Genregrenzen überschritten - wofür er den schönen Begriff der "Gattungsdämmerung" erfand.
So erweiterte er en passant den Gegenstand der Forschung um das "formlosere", in den Gesprächsfluss eingebettete "alltägliche Erzählen", dem er unter anderem in Comics und Illustrierten nachspürte. Es zeichnet sich nicht durch ästhetische Qualität, sondern durch seine soziale Funktion im Leben der Menschen aus. Sein sozialwissenschaftlicher Zugriff, der auch die vermeintlichen Tiefen der Unterhaltungsliteratur und Umgangssprache auslotete, provozierte seinerzeit. Bausinger wurde als "Tarzan-Professor" porträtiert, und er gab aus Protest seine Lehrbefugnis für die Germanistik ab, nachdem das Ministerium wenig Verständnis dafür gezeigt hatte, dass er eine Abschlussarbeit über das Frauenbild in den Illustrierten "Quick" und "Stern" angenommen hatte.
Seinem weiten Erzählbegriff ist Bausinger stets treu geblieben. Ihm hat er sein letztes, wenige Tage vor seinem Tod im vergangenen November (F.A.Z. vom 26. November) fertiggestelltes Buch gewidmet, das jetzt unter dem Titel "Vom Erzählen. Poesie des Alltags" erschienen ist: "Der Begriff Erzählung", heißt es dort, "darf nicht durch inhaltliche Ausschlussprinzipien verengt werden, er bezeichnet eine nach allen Seiten offene Form der Kommunikation. Der Reiz des Erzählens und der Erzählung liegt nicht zuletzt darin, dass sich mit ihrer Hilfe die ganze Vielfalt des Lebens und der Welt erschließt." Erzählen ist für Bausinger "eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Kultur".
Kultur im Sinne von Bausingers Kulturwissenschaft beschränkt sich nicht auf den Höhenkamm der schönen Künste. Sie umfasst alles, was den Menschen hilft, ihr Leben zu ordnen und ihr Zusammenleben zu organisieren. Folgerichtig definiert Bausinger Erzählungen als soziale Praxis, als "Mit-Teilung in gehobener Bedeutung. Die Teilhabe der Hörenden festigt die Verbindung, auch dann, wenn es sich um eine informationsarme oder gar tautologische Äußerung handelt." Solcherart Erzähltes zielt auf die Beziehungs- statt auf die Inhaltsebene.
Witz, Anekdote oder Plausch am Gartenzaun sind Formen einer Alltagskommunikation, die Bausinger mit leichter Hand auf den Begriff gebracht hat. Er war selbst ein großer Erzähler. Sein Schreibstil entspricht seiner analytischen Perspektive: Elegant, alltagsnah und leicht verständlich ist er auf die Beziehung zum Leser ausgerichtet, was übrigens in der von Ulrich Tukur mit viel Verve gelesenen Hörbuchfassung deutlich wird. Bausinger pflegte eine Art impressionistisches Erzählen, das von der Anekdote zur Analyse kommt und das vermeintlich Nebensächliche ernst nimmt.
Eine besondere Vorliebe hat er für launige Geschichten, mit denen er ganz beiläufig Mentalitäten (inklusive Animositäten) skizziert. Zur Illustration sei ein längeres Zitat erlaubt: "Ein Badener kommt in Freiburg in eine Wirtschaft, in der alle Tische besetzt sind, aber an einem kleinen Zweiertisch sitzt nur eine Person, ein Schwabe, der auf die Frage, ob hier noch frei ist, nicht reagiert, und ebenso wenig auf das übliche Guten Appetit!, nachdem das Essen aufgetragen ist. Eine Frau betritt das Lokal mit einer Sammelbüchse und spricht den freundlich blickenden Badener an: Sie sammle für die Caritas. Der Badener zückt den Geldbeutel und schiebt einen Fünf-Euro-Schein in die Büchse. Die Frau bedankt sich und wendet sich an den Schwaben, der schnell reagiert - er zeigt auf sein Gegenüber und sagt: Mir ghöret zsamma." Diese Pointe sei durchaus hintergründig, denn dank der Vereinigung von Baden und Württemberg gehörten beide ja in der Tat zusammen.
Bausingers Buch liest sich fast belletristisch, basiert aber auf umfangreicher Forschung. Mit ihm kehrt er zu seinen Anfängen in der Germanistik zurück. Er hat "Formen der Volkspoesie" (1968) untersucht, in Dörfern und Gemeinden mit dem Mikrofon Dialekte gesammelt und sie in seinem Bestseller "Deutsch für Deutsche" (1972) erklärt, das Standardwerk "Enzyklopädie des Märchens" (1975 ff.) mit herausgegeben und eine "Schwäbische Literaturgeschichte" (F.A.Z. vom 17. September 2016) verfasst.
Abgegrenzt hat er sich dabei von einer auf die kanonischen Erzählformen fixierten Volkskunde, die er "Reliktforschung" nannte. Sprache galt ihm als etwas Lebendiges, das sich fortwährend verändert und viel über die Menschen verrät: "Früher waren, vor allem in ländlichen Gegenden, die ganz lakonischen Grußformeln weniger üblich als auf die Tätigkeit der Anderen bezogene Bemerkungen, oft in Frageform: So früh schon beim Heuen? mit der Antwort: Könnt' sein, kommt ein Wetter!"
Bei jenen Heimatvertriebenen, die er Ende der Fünfzigerjahre für einen Band zu "Neuen Siedlungen" (1959) analysiert hatte, entdeckte er, dass ihnen die sprachliche Integration leichtfiel, weil sie Deutsch sprachen, die Beheimatung im neuen Land bei den Schimpfworten aber an Grenzen stieß: "Dass der Aggressionsgehalt von Halbdackel größer ist als der von Dackel, erschließt sich nicht aus der generellen Sprachlogik, sondern nur aus den Usancen in einer Sprachregion." Diese Usancen kannte im deutschen Südwesten kaum einer besser als Hermann Bausinger. Seine Poesie des Alltags bezeugt das ein letztes Mal. THOMAS THIEMEYER.
Hermann Bausinger: "Vom Erzählen". Poesie des Alltags.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 206 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Kultur: Hermann Bausinger analysiert das alltägliche Erzählen
Sein erstes Buch hat Hermann Bausinger nie veröffentlicht. Der Titel lautete: "Lebendiges Erzählen. Studien über das Leben volkstümlichen Erzählgutes aufgrund von Untersuchungen im nord-östlichen Württemberg". Es handelt sich um Bausingers Dissertation aus dem Jahr 1952. Der Eingangssatz skizziert bereits das Programm, mit dem der spätere Professor am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Volkskunde beziehungsweise Empirische Kulturwissenschaft die Erzählforschung grundlegend verändern sollte: "Ziel der Arbeit ist es: das Erzählen, wie es heute im Volk gepflegt wird, auf seine Deutung, seine Gegenstände, seine Erscheinungsformen, seine Bedingungen und Triebkräfte zu untersuchen."
Das richtete sich gegen den engen Fokus der (volkskundlichen) Erzählforschung auf Sagen, Mythen, Märchen und Schwänke als traditionelle Formen der "Volkspoesie". Bausinger hingegen interessierte sich auch für die aktuellen Erzählungen, die Genregrenzen überschritten - wofür er den schönen Begriff der "Gattungsdämmerung" erfand.
So erweiterte er en passant den Gegenstand der Forschung um das "formlosere", in den Gesprächsfluss eingebettete "alltägliche Erzählen", dem er unter anderem in Comics und Illustrierten nachspürte. Es zeichnet sich nicht durch ästhetische Qualität, sondern durch seine soziale Funktion im Leben der Menschen aus. Sein sozialwissenschaftlicher Zugriff, der auch die vermeintlichen Tiefen der Unterhaltungsliteratur und Umgangssprache auslotete, provozierte seinerzeit. Bausinger wurde als "Tarzan-Professor" porträtiert, und er gab aus Protest seine Lehrbefugnis für die Germanistik ab, nachdem das Ministerium wenig Verständnis dafür gezeigt hatte, dass er eine Abschlussarbeit über das Frauenbild in den Illustrierten "Quick" und "Stern" angenommen hatte.
Seinem weiten Erzählbegriff ist Bausinger stets treu geblieben. Ihm hat er sein letztes, wenige Tage vor seinem Tod im vergangenen November (F.A.Z. vom 26. November) fertiggestelltes Buch gewidmet, das jetzt unter dem Titel "Vom Erzählen. Poesie des Alltags" erschienen ist: "Der Begriff Erzählung", heißt es dort, "darf nicht durch inhaltliche Ausschlussprinzipien verengt werden, er bezeichnet eine nach allen Seiten offene Form der Kommunikation. Der Reiz des Erzählens und der Erzählung liegt nicht zuletzt darin, dass sich mit ihrer Hilfe die ganze Vielfalt des Lebens und der Welt erschließt." Erzählen ist für Bausinger "eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Kultur".
Kultur im Sinne von Bausingers Kulturwissenschaft beschränkt sich nicht auf den Höhenkamm der schönen Künste. Sie umfasst alles, was den Menschen hilft, ihr Leben zu ordnen und ihr Zusammenleben zu organisieren. Folgerichtig definiert Bausinger Erzählungen als soziale Praxis, als "Mit-Teilung in gehobener Bedeutung. Die Teilhabe der Hörenden festigt die Verbindung, auch dann, wenn es sich um eine informationsarme oder gar tautologische Äußerung handelt." Solcherart Erzähltes zielt auf die Beziehungs- statt auf die Inhaltsebene.
Witz, Anekdote oder Plausch am Gartenzaun sind Formen einer Alltagskommunikation, die Bausinger mit leichter Hand auf den Begriff gebracht hat. Er war selbst ein großer Erzähler. Sein Schreibstil entspricht seiner analytischen Perspektive: Elegant, alltagsnah und leicht verständlich ist er auf die Beziehung zum Leser ausgerichtet, was übrigens in der von Ulrich Tukur mit viel Verve gelesenen Hörbuchfassung deutlich wird. Bausinger pflegte eine Art impressionistisches Erzählen, das von der Anekdote zur Analyse kommt und das vermeintlich Nebensächliche ernst nimmt.
Eine besondere Vorliebe hat er für launige Geschichten, mit denen er ganz beiläufig Mentalitäten (inklusive Animositäten) skizziert. Zur Illustration sei ein längeres Zitat erlaubt: "Ein Badener kommt in Freiburg in eine Wirtschaft, in der alle Tische besetzt sind, aber an einem kleinen Zweiertisch sitzt nur eine Person, ein Schwabe, der auf die Frage, ob hier noch frei ist, nicht reagiert, und ebenso wenig auf das übliche Guten Appetit!, nachdem das Essen aufgetragen ist. Eine Frau betritt das Lokal mit einer Sammelbüchse und spricht den freundlich blickenden Badener an: Sie sammle für die Caritas. Der Badener zückt den Geldbeutel und schiebt einen Fünf-Euro-Schein in die Büchse. Die Frau bedankt sich und wendet sich an den Schwaben, der schnell reagiert - er zeigt auf sein Gegenüber und sagt: Mir ghöret zsamma." Diese Pointe sei durchaus hintergründig, denn dank der Vereinigung von Baden und Württemberg gehörten beide ja in der Tat zusammen.
Bausingers Buch liest sich fast belletristisch, basiert aber auf umfangreicher Forschung. Mit ihm kehrt er zu seinen Anfängen in der Germanistik zurück. Er hat "Formen der Volkspoesie" (1968) untersucht, in Dörfern und Gemeinden mit dem Mikrofon Dialekte gesammelt und sie in seinem Bestseller "Deutsch für Deutsche" (1972) erklärt, das Standardwerk "Enzyklopädie des Märchens" (1975 ff.) mit herausgegeben und eine "Schwäbische Literaturgeschichte" (F.A.Z. vom 17. September 2016) verfasst.
Abgegrenzt hat er sich dabei von einer auf die kanonischen Erzählformen fixierten Volkskunde, die er "Reliktforschung" nannte. Sprache galt ihm als etwas Lebendiges, das sich fortwährend verändert und viel über die Menschen verrät: "Früher waren, vor allem in ländlichen Gegenden, die ganz lakonischen Grußformeln weniger üblich als auf die Tätigkeit der Anderen bezogene Bemerkungen, oft in Frageform: So früh schon beim Heuen? mit der Antwort: Könnt' sein, kommt ein Wetter!"
Bei jenen Heimatvertriebenen, die er Ende der Fünfzigerjahre für einen Band zu "Neuen Siedlungen" (1959) analysiert hatte, entdeckte er, dass ihnen die sprachliche Integration leichtfiel, weil sie Deutsch sprachen, die Beheimatung im neuen Land bei den Schimpfworten aber an Grenzen stieß: "Dass der Aggressionsgehalt von Halbdackel größer ist als der von Dackel, erschließt sich nicht aus der generellen Sprachlogik, sondern nur aus den Usancen in einer Sprachregion." Diese Usancen kannte im deutschen Südwesten kaum einer besser als Hermann Bausinger. Seine Poesie des Alltags bezeugt das ein letztes Mal. THOMAS THIEMEYER.
Hermann Bausinger: "Vom Erzählen". Poesie des Alltags.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 206 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Elegant, alltagsnah und leicht verständlich ist er auf die Beziehung zum Leser ausgerichtet, was übrigens in der von Ulrich Tukur mit viel Verve gelesenen Hörbuchfassung deutlich wird." Thomas Thiemeyer FAZ 20220218
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Helmut Böttiger lernt mit dem letzten Buch des Volkskundlers Hermann Bausinger, wie wenig harmlos das Erzählen ist. Der große Kenner deutscher Mentalitäten stellt Böttiger Erzählweisen des Alltags vor, erkundet Erzählmuster und -traditionen und denkt über Wesen und Unwesen der Sprache nach. Dass und wie mit Sprache getäuscht und verführt wird, daran erinnert Bausinger den Rezensenten anhand von anschaulichen Beispielen, die der Autor detailliert analysiert. Wenn Bausinger sich vergleichend das "Rotkäppchen" in der französischen und in der deutschen Fassung vornimmt, geht es um Moral und deutsche Pädagogik und Demagogie, so Böttiger, den die Überlegungen des Autors immer wieder verblüffen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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