In einer einzigen schlaflosen Nacht erzählt die Schlafforscherin Ellen Feld, gesprochen von Meret Becker, die Geschichte von dem, was sie verlor, und denen, die sie liebt. Und über das, was nicht geweckt werden darf. Sie denkt an ihr Heimatdorf Grund zwischen Kieswerk und Spargelfeldern, an Andreas, den sie nur ein Mal geküsst hat, an ihre große Tochter Orla, die Gedichte raucht und Windharfen baut, an ihren Liebhaber Benno, der einem Deserteur auf der Spur ist und selbst abtrünnig wird. Und sie denkt an den kleinen Renaissance-Chor, den ihr Vater ins Leben rief, um seine schlafende Frau aus der Unterwelt zu singen. Marthe Grieß, der Regina Lemnitz ihre Stimme leiht, singt auch in diesem Chor, der immer nur das eine Lied probt: "Komm, schwerer Schlaf". Das gleichnamige Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
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buecher-magazin.deDie Schlafforscherin Ellen Feld erzählt in einer schlaflosen Nacht gefühlvoll und ehrlich aus ihrem Leben. Es geht um die tragenden Säulen des Lebens: das, was sie liebt und das, was sie verlor. Ellen blickt zurück und erinnert sich an ihr Heimatdorf zwischen Kieswerk und Spargelfeldern, von dem sie fast zärtlich erzählt, über Liebhaber Benno und ihre Tochter Orla. Und dann gibt es da noch Marthe Grieß, die in dem Chor singt, den Ellens Vater ins Leben rief. Keiner kennt sie, aber es gibt ein Geheimnis, was sie alle miteinander verbindet.
Man spürt die Freude, die Meret Becker bei der Umsetzung des Buches hat. Sie lässt Schlafforscherin Ellen fast zart erscheinen, ehrlich mit sich und dem Leben. Das mag an Beckers melodischer Stimme liegen, die mitunter fast singend daherkommt. Weich, deutlich, jeden Satz auskostend, erzählt sie leichthin die Geschichte. Regina Lemnitz, die die Marthe Grieß spricht, ist dagegen geheimnisvoll, spröde und tiefgründig und damit ein guter Kontrast zu Meret Becker. Die vielen Facetten des Lebens werden literarisch besprochen. Die Sprecherinnen passen zur Geschichte und lassen das Hörbuch lebendig werden.
© BÜCHERmagazin, Tina Muffert (tm)
Man spürt die Freude, die Meret Becker bei der Umsetzung des Buches hat. Sie lässt Schlafforscherin Ellen fast zart erscheinen, ehrlich mit sich und dem Leben. Das mag an Beckers melodischer Stimme liegen, die mitunter fast singend daherkommt. Weich, deutlich, jeden Satz auskostend, erzählt sie leichthin die Geschichte. Regina Lemnitz, die die Marthe Grieß spricht, ist dagegen geheimnisvoll, spröde und tiefgründig und damit ein guter Kontrast zu Meret Becker. Die vielen Facetten des Lebens werden literarisch besprochen. Die Sprecherinnen passen zur Geschichte und lassen das Hörbuch lebendig werden.
© BÜCHERmagazin, Tina Muffert (tm)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2012Verpasst, verpeilt,
verpennt
Katharina Hagenas Roman
„Vom Schlafen und Verschwinden“
Wenn Ellen Feld nicht schlafen kann, schleicht sie ins Zimmer ihrer Tochter und beobachtet sie im Schlaf: „Ihre Brüste sind jetzt unter der Decke, aber wenn sie es nicht sind, erregen sie die Aufmerksamkeit von Männern wie von Frauen (. . .) Orla hat eine schmale Taille und einen runden Po. Ihre Beine sind stark, energisch, mit definierten Schenkeln und Waden und guten Fesseln.“ Was ist das für eine Mutter, die über die Körpergröße ihrer fast erwachsenen Tochter nachsinnt („eins vierundachtzig“) und selbst noch die Schuhgröße referiert („42 einhalb“), während sie schlaflos auf deren Bettkante sitzt?
Ellen Feld ist Schlafforscherin. Das Beobachten und Vermessen von Schlafenden gehört zu ihrem Beruf. Und sie hat sogar ein Buch geschrieben, kein medizinisches Fachbuch, sondern eines über die Kulturgeschichte des Schlafs. Allerdings fehlt die Einleitung noch. Daran liegt es wohl, dass sie neuerdings nicht schlafen kann, eine ziemlich peinigende Angelegenheit für eine Spezialistin, die ihren Patienten Yoga, autogenes Training und ein Hobby empfiehlt. Am besten wäre es, die Einleitung einfach zu schreiben, trotz der Müdigkeit. Doch hinter der Schlaflosigkeit könnte sich Kostbareres verbergen als eine Schreibblockade: „Vielleicht will ich gar nicht schlafen, vielleicht muss ich mir meine Geschichten wieder und wieder erzählen, darf nicht schlafen, damit ich etwas Lebenswichtiges begreife. Irgendetwas habe ich verpasst, verpeilt, verpennt, aber was?“ Eine quälend lange Nacht muss der Leser mit der Heldin ausharren, bis die Autorin aus vielen Fäden eine Lebensgeschichte gestrickt hat, die in mancherlei Hinsicht an ihren erfolgreichen Debütroman „Der Geschmack von Apfelkernen“ erinnert.
Alles hängt in dieser Geschichte mit allem zusammen, jeder Name ist sprechend, die Gegenstände überlastet mit symbolischer Bedeutung. Kein Ding darf einfach nur ein Ding sein, kein Tier ein gewöhnliches Lebewesen. Die Menschen sind wandelnde Bedeutungsträger. „Alles ist voller Zeichen“, lautet der erste Satz der Rahmenhandlung, die sich um Ellens geschwisterlichen Freund Andreas Ritter dreht. Er hat eine Zeit lang Kartografie in Karlsruhe studiert, in dessen Nähe auch das fiktive Dörfchen Grund liegt, wo er seit Langem schon die Briefe austrägt: „Er ist der Briefträger, das ist, was er tut“, heißt es in einem Deutsch, dessen Syntax sich ans Englische anlehnt. Irgendwann hat er zu sprechen aufgehört. Das muss mit dem Geheimnis zusammenhängen, das er als einziger kennt. Singen kann er aber noch. Er ist Mitglied eines Chors, der uns an die antike Tragödie erinnern soll, auch wenn die Erzählerin einräumt, dass die „Fallhöhe“ fehlt.
Der Chor ist gewissermaßen das Scharnier, das die drei aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Teile des Romans zusammenhält. Während die Rahmenhandlung in der dritten Person berichtet, bestreitet Ellen als Ich-Erzählerin den größten Teil, ergänzt um eine weitere Ich-Erzählerin. Sie heißt Marthe Grieß, keiner weiß, dass sie die Mutter des verschwundenen Lutz ist, der nur in den Sommerferien nach Grund kam. Er ist der Vater von Orla (was wiederum seine Mutter nicht weiß), und er verschwand, nachdem ihm Ellen ihre Schwangerschaft offenbarte. Ellens Vater Joachim, seines Zeichens emeritierter Professor für englische Literatur, leitet den Chor. Er hat Marthe das Notizbuch gegeben, in dem sie das Chor-Geschehen protokollieren soll. Aus unerfindlichen Gründen legt sie dort ihre Rachegedanken und Geheimnisse nieder.
Neben Joachim, Ellen, Orla, Marthe und Andreas singt auch noch Benno Hoffmann im Chor, ein Mann, von dem sich Ellen einiges erhofft. Tatsächlich bekommt er einen Ehrenplatz in der langen Liste ihrer Liebhaber, die der Roman ebenso gern aufzählt wie alles andere: Vogelarten beispielsweise (allen voran spielt der Graureiher eine wichtige Rolle), Frösche, Spinnen (ebenfalls sehr bedeutsam), überhaupt allerlei Fauna und Flora. „Come, Heavy Sleep“, das Lied des Renaissance-Komponisten John Dowland, bleibt lange das einzige Stück, das der Chor probt. Auch damit hat es seine Bewandtnis. Heidrun, Ellens Mutter, liegt nach zehn Jahren Alzheimer und einer Gehirnblutung im Koma. Ihr Mann hofft, er könne sie mit seinem Orpheus-Projekt ins Leben zurückholen.
Über viele Jahre erstreckt sich die Geschichte, die bis nach Dublin führt (wo Orla vom Manager des damaligen Lebensgefährten ihrer Mutter, einem Musiker, missbraucht wurde) und bis auf eine Nordseeinsel, wo Heidrun aufgewachsen ist, deren Mutter an den Folgen ihrer Geburt starb und deren vier Brüder allesamt verschwanden, als wären sie die sieben Raben aus dem Märchen der Brüder Grimm. Legenden, Sagen, Märchen, antike Mythologie und Philosophie, sogar den Selbstmord von Virginia Woolf beschwört die 1967 in Karlsruhe geborene und in Hamburg lebende Autorin herauf, um ihren Roman zu nobilitieren. Doch der Schaden ist größer als der Nutzen. „Vom Schlafen und Verschwinden“ ist ein aufgeplusterter Roman, der seine Unbeholfenheit trotz fremder Federn nicht verbergen kann.
MEIKE FESSMANN
Katharina Hagena: Vom Schlafen und Verschwinden. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 288 Seiten, 18,99 Euro.
Ein aufgeplustertes Buch,
in das zu viel hineingestopft
wurde, auch fremde Federn
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
verpennt
Katharina Hagenas Roman
„Vom Schlafen und Verschwinden“
Wenn Ellen Feld nicht schlafen kann, schleicht sie ins Zimmer ihrer Tochter und beobachtet sie im Schlaf: „Ihre Brüste sind jetzt unter der Decke, aber wenn sie es nicht sind, erregen sie die Aufmerksamkeit von Männern wie von Frauen (. . .) Orla hat eine schmale Taille und einen runden Po. Ihre Beine sind stark, energisch, mit definierten Schenkeln und Waden und guten Fesseln.“ Was ist das für eine Mutter, die über die Körpergröße ihrer fast erwachsenen Tochter nachsinnt („eins vierundachtzig“) und selbst noch die Schuhgröße referiert („42 einhalb“), während sie schlaflos auf deren Bettkante sitzt?
Ellen Feld ist Schlafforscherin. Das Beobachten und Vermessen von Schlafenden gehört zu ihrem Beruf. Und sie hat sogar ein Buch geschrieben, kein medizinisches Fachbuch, sondern eines über die Kulturgeschichte des Schlafs. Allerdings fehlt die Einleitung noch. Daran liegt es wohl, dass sie neuerdings nicht schlafen kann, eine ziemlich peinigende Angelegenheit für eine Spezialistin, die ihren Patienten Yoga, autogenes Training und ein Hobby empfiehlt. Am besten wäre es, die Einleitung einfach zu schreiben, trotz der Müdigkeit. Doch hinter der Schlaflosigkeit könnte sich Kostbareres verbergen als eine Schreibblockade: „Vielleicht will ich gar nicht schlafen, vielleicht muss ich mir meine Geschichten wieder und wieder erzählen, darf nicht schlafen, damit ich etwas Lebenswichtiges begreife. Irgendetwas habe ich verpasst, verpeilt, verpennt, aber was?“ Eine quälend lange Nacht muss der Leser mit der Heldin ausharren, bis die Autorin aus vielen Fäden eine Lebensgeschichte gestrickt hat, die in mancherlei Hinsicht an ihren erfolgreichen Debütroman „Der Geschmack von Apfelkernen“ erinnert.
Alles hängt in dieser Geschichte mit allem zusammen, jeder Name ist sprechend, die Gegenstände überlastet mit symbolischer Bedeutung. Kein Ding darf einfach nur ein Ding sein, kein Tier ein gewöhnliches Lebewesen. Die Menschen sind wandelnde Bedeutungsträger. „Alles ist voller Zeichen“, lautet der erste Satz der Rahmenhandlung, die sich um Ellens geschwisterlichen Freund Andreas Ritter dreht. Er hat eine Zeit lang Kartografie in Karlsruhe studiert, in dessen Nähe auch das fiktive Dörfchen Grund liegt, wo er seit Langem schon die Briefe austrägt: „Er ist der Briefträger, das ist, was er tut“, heißt es in einem Deutsch, dessen Syntax sich ans Englische anlehnt. Irgendwann hat er zu sprechen aufgehört. Das muss mit dem Geheimnis zusammenhängen, das er als einziger kennt. Singen kann er aber noch. Er ist Mitglied eines Chors, der uns an die antike Tragödie erinnern soll, auch wenn die Erzählerin einräumt, dass die „Fallhöhe“ fehlt.
Der Chor ist gewissermaßen das Scharnier, das die drei aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Teile des Romans zusammenhält. Während die Rahmenhandlung in der dritten Person berichtet, bestreitet Ellen als Ich-Erzählerin den größten Teil, ergänzt um eine weitere Ich-Erzählerin. Sie heißt Marthe Grieß, keiner weiß, dass sie die Mutter des verschwundenen Lutz ist, der nur in den Sommerferien nach Grund kam. Er ist der Vater von Orla (was wiederum seine Mutter nicht weiß), und er verschwand, nachdem ihm Ellen ihre Schwangerschaft offenbarte. Ellens Vater Joachim, seines Zeichens emeritierter Professor für englische Literatur, leitet den Chor. Er hat Marthe das Notizbuch gegeben, in dem sie das Chor-Geschehen protokollieren soll. Aus unerfindlichen Gründen legt sie dort ihre Rachegedanken und Geheimnisse nieder.
Neben Joachim, Ellen, Orla, Marthe und Andreas singt auch noch Benno Hoffmann im Chor, ein Mann, von dem sich Ellen einiges erhofft. Tatsächlich bekommt er einen Ehrenplatz in der langen Liste ihrer Liebhaber, die der Roman ebenso gern aufzählt wie alles andere: Vogelarten beispielsweise (allen voran spielt der Graureiher eine wichtige Rolle), Frösche, Spinnen (ebenfalls sehr bedeutsam), überhaupt allerlei Fauna und Flora. „Come, Heavy Sleep“, das Lied des Renaissance-Komponisten John Dowland, bleibt lange das einzige Stück, das der Chor probt. Auch damit hat es seine Bewandtnis. Heidrun, Ellens Mutter, liegt nach zehn Jahren Alzheimer und einer Gehirnblutung im Koma. Ihr Mann hofft, er könne sie mit seinem Orpheus-Projekt ins Leben zurückholen.
Über viele Jahre erstreckt sich die Geschichte, die bis nach Dublin führt (wo Orla vom Manager des damaligen Lebensgefährten ihrer Mutter, einem Musiker, missbraucht wurde) und bis auf eine Nordseeinsel, wo Heidrun aufgewachsen ist, deren Mutter an den Folgen ihrer Geburt starb und deren vier Brüder allesamt verschwanden, als wären sie die sieben Raben aus dem Märchen der Brüder Grimm. Legenden, Sagen, Märchen, antike Mythologie und Philosophie, sogar den Selbstmord von Virginia Woolf beschwört die 1967 in Karlsruhe geborene und in Hamburg lebende Autorin herauf, um ihren Roman zu nobilitieren. Doch der Schaden ist größer als der Nutzen. „Vom Schlafen und Verschwinden“ ist ein aufgeplusterter Roman, der seine Unbeholfenheit trotz fremder Federn nicht verbergen kann.
MEIKE FESSMANN
Katharina Hagena: Vom Schlafen und Verschwinden. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 288 Seiten, 18,99 Euro.
Ein aufgeplustertes Buch,
in das zu viel hineingestopft
wurde, auch fremde Federn
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»Über den Tod und den Schlaf ist Katharina Hagena ein sehr waches und sehr lebendiges Stück Literatur gelungen.« Die Zeit 20121031