Dreißig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung machen sich Reporter Lucas Vogelsang und der Schauspieler Joachim Król auf eine Deutschlandreise und sammeln Geschichten von Menschen, deren Leben 1989 noch einmal neu begannen. Ihnen begegnen schier unglaublich Biographien voller Brüche, Neuanfänge und Sackgassen, die von Bundesrepublik und DDR, von Wende und deutscher Gegenwart erzählen. Diese literarische Reisereportage beginnt im Ruhrgebiert und endet an der Ostssee. Im Gepäck die Fragen: Wo hat die Mauer überdauert, wo wurden Grenzen verwischt? Wie viel Osten und Wesen gibt es noch in den Köpfen? Die Antworten finden sie am Wohnzimmertisch oder im Wachturm: Król, der staunende Gesprächspartner. Und Vogelsang, der geschliffene Chronist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2019Unbekannte
Heimat
Lucas Vogelsang und Joachim
Król auf Deutschlandreise
Als die neuen Bundesländer tatsächlich noch neu waren, hat sich der tief im Ruhrpott verwurzelte Schauspieler Joachim Król alsbald aufgemacht dorthin. 1992 war das, aus beruflichen Gründen, als er nämlich eine der beiden Hauptrollen gespielt hat in Detlev Bucks Film „Wir können auch anders“. Die andere Hauptrolle hatte Horst Krause. Sie spielten die Brüder Kipp und Most, zwei Analphabeten aus dem Westen, die ein Haus in Mecklenburg-Vorpommern erben.
Das mit dem Analphabetismus gilt auch im übertragenen Sinn: Für all die Leute aus dem Westen, die die Codes des Ostens nicht lesen können und ihn deshalb nicht verstehen. Darum geht es in dem Film, auf den Król und Krause nach wie vor angesprochen werden. Und auch in dem Buch „Was wollen die denn hier?“ des Journalisten Lucas Vogelsang. Er ist mit Król befreundet, die beiden sind in den Osten aufgebrochen, um ihn besser zu verstehen, auf Wegen, die der Schauspieler früher schon häufig genommen hat. Trotzdem sei ihm, sagt Król, dieser Teil des Landes nach wie vor fremd. Und das beschäme ihn.
Als es die DDR noch gab, ist Joachim Król oft nach Westberlin getrampt. Entlang der Transitstrecke hat er von dem anderen Deutschland naturgemäß kaum etwas mitbekommen. Nach der Wende gab es wenige Anlässe für Król, den Osten zu erkunden. Nun hat er, gemeinsam mit Vogelsang, sich den Anlass selbst geschaffen. Die Reise beginnt ganz im Westen. Zum einen, weil sich da die ersten Spuren finden: Król und Vogelsang besuchen eine Frau, die vor der Wende in der DDR gelebt hat und seither in Bochum wohnt, sowie einen Sammler von DDR-Artefakten in Wattenscheid. Zum anderen müsse man auch durch diesen Westen fahren, um nachher den Osten besser verstehen zu können, so Vogelsang: Der Westen gelte „als einer der größten Wendeverlierer“.
„Deutsche Grenzerfahrungen“ heißt das Buch doppeldeutig im Untertitel – es handelt von beiden Seiten, von all dem Mit-, Neben- und Gegeneinander in den vergangenen dreißig Jahren. Die beiden Reisenden treffen einen Landwirt aus Niedersachsen, der in Sachsen-Anhalt heimisch geworden ist, sie verabreden sich mit der Frau, die die Raststätte in Michendorf geleitet hat, an der Transitautobahn kurz vor Potsdam, wo die Westdeutschen, die nach Westberlin wollten, doch auf den Osten geprallt sind.
Joachim Król ist ein neugieriger Fragesteller, Lucas Vogelsang ein guter Zuhörer und genauer Beobachter, mit einem Gespür für die Zwischentöne und einem Gehör für das Unausgesprochene. Und er ist ein großartiger Stilist. Manchmal überspannt er den Bogen, weil er Wortwitzen und auch Kalauern kaum widerstehen kann. In der Regel bringt er die Dinge jedoch pointiert auf den Punkt, etwa im Kurzporträt zweier Führerscheinneulinge, das ein ganzes Milieu charakterisiert: „Bullige Geschosse, die Heckscheiben mit den zu erwartenden Aufklebern verziert. Böhse Onkelz, Frei.Wild, Arschgeweihe fürs Auto. Das musikalische Sparmenü für den stilbewussten Rechtslenker. VW Prollo.“
Mitunter ist das Buch schonungslos. Immer dann nämlich, wenn die Fassaden beiseite geräumt sind und tiefere Überzeugungen zutage treten. Und sich eine Auseinandersetzung lohnt mit einigen für Westdeutsche weitgehend fremden Biografien.
STEFAN FISCHER
REISEBUCH
Lucas Vogelsang, Joachim Król:
Was wollen die denn hier?
Deutsche Grenzerfahrungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 272 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heimat
Lucas Vogelsang und Joachim
Król auf Deutschlandreise
Als die neuen Bundesländer tatsächlich noch neu waren, hat sich der tief im Ruhrpott verwurzelte Schauspieler Joachim Król alsbald aufgemacht dorthin. 1992 war das, aus beruflichen Gründen, als er nämlich eine der beiden Hauptrollen gespielt hat in Detlev Bucks Film „Wir können auch anders“. Die andere Hauptrolle hatte Horst Krause. Sie spielten die Brüder Kipp und Most, zwei Analphabeten aus dem Westen, die ein Haus in Mecklenburg-Vorpommern erben.
Das mit dem Analphabetismus gilt auch im übertragenen Sinn: Für all die Leute aus dem Westen, die die Codes des Ostens nicht lesen können und ihn deshalb nicht verstehen. Darum geht es in dem Film, auf den Król und Krause nach wie vor angesprochen werden. Und auch in dem Buch „Was wollen die denn hier?“ des Journalisten Lucas Vogelsang. Er ist mit Król befreundet, die beiden sind in den Osten aufgebrochen, um ihn besser zu verstehen, auf Wegen, die der Schauspieler früher schon häufig genommen hat. Trotzdem sei ihm, sagt Król, dieser Teil des Landes nach wie vor fremd. Und das beschäme ihn.
Als es die DDR noch gab, ist Joachim Król oft nach Westberlin getrampt. Entlang der Transitstrecke hat er von dem anderen Deutschland naturgemäß kaum etwas mitbekommen. Nach der Wende gab es wenige Anlässe für Król, den Osten zu erkunden. Nun hat er, gemeinsam mit Vogelsang, sich den Anlass selbst geschaffen. Die Reise beginnt ganz im Westen. Zum einen, weil sich da die ersten Spuren finden: Król und Vogelsang besuchen eine Frau, die vor der Wende in der DDR gelebt hat und seither in Bochum wohnt, sowie einen Sammler von DDR-Artefakten in Wattenscheid. Zum anderen müsse man auch durch diesen Westen fahren, um nachher den Osten besser verstehen zu können, so Vogelsang: Der Westen gelte „als einer der größten Wendeverlierer“.
„Deutsche Grenzerfahrungen“ heißt das Buch doppeldeutig im Untertitel – es handelt von beiden Seiten, von all dem Mit-, Neben- und Gegeneinander in den vergangenen dreißig Jahren. Die beiden Reisenden treffen einen Landwirt aus Niedersachsen, der in Sachsen-Anhalt heimisch geworden ist, sie verabreden sich mit der Frau, die die Raststätte in Michendorf geleitet hat, an der Transitautobahn kurz vor Potsdam, wo die Westdeutschen, die nach Westberlin wollten, doch auf den Osten geprallt sind.
Joachim Król ist ein neugieriger Fragesteller, Lucas Vogelsang ein guter Zuhörer und genauer Beobachter, mit einem Gespür für die Zwischentöne und einem Gehör für das Unausgesprochene. Und er ist ein großartiger Stilist. Manchmal überspannt er den Bogen, weil er Wortwitzen und auch Kalauern kaum widerstehen kann. In der Regel bringt er die Dinge jedoch pointiert auf den Punkt, etwa im Kurzporträt zweier Führerscheinneulinge, das ein ganzes Milieu charakterisiert: „Bullige Geschosse, die Heckscheiben mit den zu erwartenden Aufklebern verziert. Böhse Onkelz, Frei.Wild, Arschgeweihe fürs Auto. Das musikalische Sparmenü für den stilbewussten Rechtslenker. VW Prollo.“
Mitunter ist das Buch schonungslos. Immer dann nämlich, wenn die Fassaden beiseite geräumt sind und tiefere Überzeugungen zutage treten. Und sich eine Auseinandersetzung lohnt mit einigen für Westdeutsche weitgehend fremden Biografien.
STEFAN FISCHER
REISEBUCH
Lucas Vogelsang, Joachim Król:
Was wollen die denn hier?
Deutsche Grenzerfahrungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 272 Seiten, 20 Euro.
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