Lieben in modernen Zeiten - kühn, bewegend, klug
Als Jack und Elizabeth 1993 ein Paar werden, spricht alles gegen sie. Doch der junge Fotograf mit den bäuerlichen Wurzeln und die Psychologiestudentin aus gutem Hause heiraten - und erleben in der vibrierenden Kunstszene Chicagos aufregende erste Jahre. Doch nicht alles läuft glatt. Inmitten von Achtsamkeitsseminaren, polyamourösen Bekanntschaften und schrillen Immobilienträumen droht ihre Ehe zu scheitern. Und schließlich müssen sich diese nicht mehr ganz so jungen Träumer den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, wenn sie nicht das Wertvollste verlieren wollen: einander. Von den Absurditäten moderner Technologie bis zur perfekten Kindererziehung legt Nathan Hill unser Leben bloß und stößt auf tiefe Wahrheiten über Liebe, Intimität und Nähe.
Tiefsinnig gelesen von Uve Teschner - dem Sprecher von »Geister«.
Als Jack und Elizabeth 1993 ein Paar werden, spricht alles gegen sie. Doch der junge Fotograf mit den bäuerlichen Wurzeln und die Psychologiestudentin aus gutem Hause heiraten - und erleben in der vibrierenden Kunstszene Chicagos aufregende erste Jahre. Doch nicht alles läuft glatt. Inmitten von Achtsamkeitsseminaren, polyamourösen Bekanntschaften und schrillen Immobilienträumen droht ihre Ehe zu scheitern. Und schließlich müssen sich diese nicht mehr ganz so jungen Träumer den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, wenn sie nicht das Wertvollste verlieren wollen: einander. Von den Absurditäten moderner Technologie bis zur perfekten Kindererziehung legt Nathan Hill unser Leben bloß und stößt auf tiefe Wahrheiten über Liebe, Intimität und Nähe.
Tiefsinnig gelesen von Uve Teschner - dem Sprecher von »Geister«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2024Wer’s
glaubt
Ist es wichtig, immer die Wahrheit zu kennen?
In Nathan Hills Roman „Wellness“ entscheidet sich ein
Paar in der Krise lieber für die bessere Geschichte.
VON CHRISTIANE LUTZ
Was ist klüger: Jetzt eine Apfeltasche zu essen, oder fünfzehn Minuten abzuwarten und dann zwei Apfeltaschen zu bekommen? Toby, acht Jahre und Nebenfigur in Nathan Hills Roman „Wellness“ überlegt nicht lang und stopft sich sofort die Apfeltasche in den Mund. Seine Mutter Elizabeth bekümmert das. Mangelnde Impulskontrolle. Zudem kam dieses als „Marshmallow-Test“ bekannt gewordene psychologische Experiment einst zu dem Schluss, dass Kinder, die sich nicht beherrschen konnten, später weniger erfolgreich in Schule und Beruf waren. Ihr Sohn, denkt Elizabeth, soll nicht so enden. Fortan glaubt sie, er sei gefährdet und mindestens problematisch.
Das ursprüngliche Experiment aber war fehlerhaft, es hatte die Herkunft der Kinder nicht genug berücksichtigt. Die Kinder, die sich beherrschen konnten, kamen vorrangig aus reichen Familien, die sofort Zugreifenden stammten eher aus ärmeren, sie kannten also den Zustand des Mangels, in dem man besser nichts auf später verschiebt. Der spätere berufliche Erfolg war weniger der Impulskontrolle als vielmehr dem Elternhaus zuzuschreiben. Toby sagt später, er habe sich einst für die Sofort-Apfeltasche entschieden, weil: „Du willst ja nicht, dass ich so viel Süßkram esse.“ Er war sicher, er mache alles richtig.
Diese Episode, früh im 730 Seiten schweren Roman „Wellness“ von Nathan Hill angerissen und erst am Ende aufgelöst, fasst zusammen, worum es in der Geschichte geht: Um Wahrheiten, die wir glauben oder glauben wollen, auch wenn sich die Dinge vielleicht ganz anders verhalten.
Im Mittelpunkt von „Wellness“ steht das Paar Jack und Elizabeth. Sie treffen sich 1993 in Chicago, er ein junger Fotograf, sie eine wissbegierige Studentin. Sie scheinen füreinander bestimmt zu sein, denn schon vor ihrem Kennenlernen beobachten sie sich gegenseitig wochenlang, ihre Wohnungen im dritten Stock zweier gegenüberliegender Häuser sind nur durch eine schmale Gasse getrennt. Elizabeth stammt aus einer reichen Familie, die durch fragwürdige Geschäfte an Geld kam, Jack wuchs in der Prärie von Kansas auf einer Farm auf. Beide leiden unter lieblosen Eltern, der Umzug in die Stadt ist eine Flucht, ihre Begegnung gleicht dementsprechend einem Wunder. Zumindest ist das die Geschichte, die sie fortan erzählen werden.
Es sind die Jahre des digitalen Aufbruchs, des frühen Internets, in denen Hill die Geschichte beginnen lässt. Jack und Elizabeth dürfen sich als Vertreter der Generation X einer Zukunft sicher sein, die von technischem Fortschritt und Wohlstand geprägt ist. Getrieben vom Streben nach individueller Verwirklichung lässt sich das Paar in einer Künstler-WG nieder in der Überzeugung, nie wieder ohne einander einschlafen zu können.
Jetzt, 20 Jahre später, wollen sie eine Wohnung in einem noch nicht komplett gentrifizierten Viertel Chicagos kaufen und Elizabeth plant getrennte Schlafzimmer. Beziehungskrise. Oder in ihrem Fall die Frage: Welche Version des anderen und von sich selbst ist eigentlich wahr? „Geschichten haben nur Kraft, solange man an sie glaubt. Als Elizabeth in der Küche saß, fragte sie sich, ob ihre gemeinsame Geschichte auch nur eine Art herausgeputztes Placebo war. Eine Geschichte, die sie beide glaubten, weil sie sich dabei als etwas Besonderes fühlten.“
Nathan Hill variiert dieses Motiv der gefühlten Wahrheit in „Wellness“ lässig rauf und runter: Ist nicht letztlich alles wahr, was uns wahr erscheint? Hat Jack Angst vor getrennten Schlafzimmern, weil das tatsächlich ein Symbol für die sich entfernende Elizabeth ist oder erkennt er darin lediglich seine getrennt schlafenden Eltern? Und vor allem: Ist „die Wahrheit“ immer das unbedingt Anzustrebende, wenn die gute Geschichte möglicherweise auch oder viel besser wirkt? Letzteres gilt auf jeden Fall für das erfolgreiche Institut „Wellness“, das Elizabeth leitet. Im Rahmen psychologischer Experimente verschreibt sie ahnungslosen Patienten Placebos: Liebes-Nasensprays, Abnehmröcke. Viel mehr als um nachweisliche Wirksamkeit geht es hier um die Geschichte: „Es war der einzige Wirkstoff: Glaube. Elizabeths Patienten wurden geheilt, weil sie an Heilung glaubten.“ Ethische Bedenken wischt sie weg: „Wenn eine Behandlung so gut wirkte, sollte man sich dann wirklich Gedanken darüber machen, ob sie streng genommen echt war?“
Für Jack ist „die Wahrheit“ auch eine Frage der Distinktion. Als kleiner Junge in der Abgeschiedenheit von Kansas zeigt ihm seine künstlerisch begabte Schwester das Gemälde „American Gothic“ von Grant Wood. Auf dem steht ein Paar, der Mann hält eine Heugabel und starrt ernst den Betrachter an, die Frau schaut knapp vorbei. Jack bewundert das Bild, wie er die Schwester bewundert. An der Universität in Chicago aber fällt das Bild bei den versnobbten Kommilitonen durch: Touristenfutter sei das, komplett kommerzialisiert.
Wie auch bei der Betrachtung von „American Gothic“ nicht ganz klar ist, ob es sich um eine Parodie oder eine Glorifizierung des ländlichen Lebens handelt, das Bild also mehrere Wahrheiten anbietet, lernt Jack, dass er sich für die bessere Geschichte entscheiden kann. Als er beim Pornoschauen an Universitätscomputern erwischt wird, redet er sich auf ein „Kunstprojekt“ raus. Der Professor ist beeindruckt. In beiden Fällen bleibt das Werk unverändert, nur der Bewertungskontext ist anders.
Wie sich Jacks Vater Lawrence zum Facebook-Verschwörungstheoretiker entwickelt, baut Nathan Hill in einer Art Sieben-Akt-Mini-Drama ein: Synchron zur fortschreitenden Radikalisierung des Vaters legt Hill das Wirken der Algorithmen im Hintergrund des Netzwerks offen. Für Lawrence undurchschaubar wird „Wahrheit“ hier als etwas präsentiert, das durch Technik konstruiert und beliebig gesteuert werden kann.
In seinem Debüt „Geister“ von 2016 spann Nathan Hill schon gigantische Bögen von den Unruhen in Chicago 1968 bis in die Gegenwart eines US-Wahlkampfs und verband alles geradezu streberhaft makellos. Bei Hill kann man sich darauf verlassen, dass keine Handlung ohne Konsequenz, kein Ende offenbleibt. Alles hängt mit fast allem zusammen. Mit „Wellness“ baut Hill den nächsten saftigen Gesellschaftsroman, führt in die Psychologie der Autosuggestion, durch amerikanische Geschichte, das Internet, teilt Expertenwissen über Farming in Kansas. Er springt in den Zeiten hin und her und sorgt penibel dafür, dass alles psychologisch begründet ist.
Das Jonglieren mit der gefühlten Wahrheit ist dabei auch Mittel, eine individualistische Gesellschaft zu illustrieren, in der die gute Erzählung zu einem glücklichen Leben führen kann, wo andererseits Zweifel zutiefst verunsichern. Nicht ohne Ironie kommentiert er den darin verborgenen Optimierungswahn und schrammt an der Parodie vorbei, etwa in der Figur von Brandie, eine reiche Vorstadtmutter, die in ihrem Haus Visionboards aufhängt und täglich Affirmationen betet. Brandie propagiert eine Form aggressiver toxischer Positivity, in der alle Probleme wertgeschätzt werden müssen, weil sie die Chance bieten, ein besserer Mensch zu werden. Die Affäre ihres Mannes? Für Brandie die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln. „Wahrheit“ ist auch eine Frage der richtigen Einstellung.
Auch wenn Jack und Elizabeth am Ende des Romans gewillt sind, miteinander weiterzumachen, ist „Wellness“ kein Feelgood-Plädoyer dafür, halt seine Einstellung zu den Dingen zu ändern. „Glauben Sie, was Sie wollen, meine Liebe, aber glauben Sie vorsichtig“, sagt ihr einstiger Chef und „Wellness“-Gründer zu Elizabeth und das kommt Hills Message schon näher. In der Loslösung von einer unbedingten Wahrheit ist es, worin tatsächlich Möglichkeiten liegen. Auch solche, die entlasten.
„Glauben Sie, was Sie
wollen, meine Liebe, aber
glauben Sie vorsichtig.“
Nathan Hill: Wellness. Roman. Aus dem
Amerikanischen von
Dirk van Gunsteren
und Stephan Kleiner.
Piper, München 2024.
736 Seiten, 28 Euro.
Ist Grant Woods „American Gothic“ von 1930 ein Meisterwerk oder ein kommerzialisierter Touristenmagnet? Das fragt sich Jack, Protagonist in „Wellness“.
Foto: Gemeinfrei
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glaubt
Ist es wichtig, immer die Wahrheit zu kennen?
In Nathan Hills Roman „Wellness“ entscheidet sich ein
Paar in der Krise lieber für die bessere Geschichte.
VON CHRISTIANE LUTZ
Was ist klüger: Jetzt eine Apfeltasche zu essen, oder fünfzehn Minuten abzuwarten und dann zwei Apfeltaschen zu bekommen? Toby, acht Jahre und Nebenfigur in Nathan Hills Roman „Wellness“ überlegt nicht lang und stopft sich sofort die Apfeltasche in den Mund. Seine Mutter Elizabeth bekümmert das. Mangelnde Impulskontrolle. Zudem kam dieses als „Marshmallow-Test“ bekannt gewordene psychologische Experiment einst zu dem Schluss, dass Kinder, die sich nicht beherrschen konnten, später weniger erfolgreich in Schule und Beruf waren. Ihr Sohn, denkt Elizabeth, soll nicht so enden. Fortan glaubt sie, er sei gefährdet und mindestens problematisch.
Das ursprüngliche Experiment aber war fehlerhaft, es hatte die Herkunft der Kinder nicht genug berücksichtigt. Die Kinder, die sich beherrschen konnten, kamen vorrangig aus reichen Familien, die sofort Zugreifenden stammten eher aus ärmeren, sie kannten also den Zustand des Mangels, in dem man besser nichts auf später verschiebt. Der spätere berufliche Erfolg war weniger der Impulskontrolle als vielmehr dem Elternhaus zuzuschreiben. Toby sagt später, er habe sich einst für die Sofort-Apfeltasche entschieden, weil: „Du willst ja nicht, dass ich so viel Süßkram esse.“ Er war sicher, er mache alles richtig.
Diese Episode, früh im 730 Seiten schweren Roman „Wellness“ von Nathan Hill angerissen und erst am Ende aufgelöst, fasst zusammen, worum es in der Geschichte geht: Um Wahrheiten, die wir glauben oder glauben wollen, auch wenn sich die Dinge vielleicht ganz anders verhalten.
Im Mittelpunkt von „Wellness“ steht das Paar Jack und Elizabeth. Sie treffen sich 1993 in Chicago, er ein junger Fotograf, sie eine wissbegierige Studentin. Sie scheinen füreinander bestimmt zu sein, denn schon vor ihrem Kennenlernen beobachten sie sich gegenseitig wochenlang, ihre Wohnungen im dritten Stock zweier gegenüberliegender Häuser sind nur durch eine schmale Gasse getrennt. Elizabeth stammt aus einer reichen Familie, die durch fragwürdige Geschäfte an Geld kam, Jack wuchs in der Prärie von Kansas auf einer Farm auf. Beide leiden unter lieblosen Eltern, der Umzug in die Stadt ist eine Flucht, ihre Begegnung gleicht dementsprechend einem Wunder. Zumindest ist das die Geschichte, die sie fortan erzählen werden.
Es sind die Jahre des digitalen Aufbruchs, des frühen Internets, in denen Hill die Geschichte beginnen lässt. Jack und Elizabeth dürfen sich als Vertreter der Generation X einer Zukunft sicher sein, die von technischem Fortschritt und Wohlstand geprägt ist. Getrieben vom Streben nach individueller Verwirklichung lässt sich das Paar in einer Künstler-WG nieder in der Überzeugung, nie wieder ohne einander einschlafen zu können.
Jetzt, 20 Jahre später, wollen sie eine Wohnung in einem noch nicht komplett gentrifizierten Viertel Chicagos kaufen und Elizabeth plant getrennte Schlafzimmer. Beziehungskrise. Oder in ihrem Fall die Frage: Welche Version des anderen und von sich selbst ist eigentlich wahr? „Geschichten haben nur Kraft, solange man an sie glaubt. Als Elizabeth in der Küche saß, fragte sie sich, ob ihre gemeinsame Geschichte auch nur eine Art herausgeputztes Placebo war. Eine Geschichte, die sie beide glaubten, weil sie sich dabei als etwas Besonderes fühlten.“
Nathan Hill variiert dieses Motiv der gefühlten Wahrheit in „Wellness“ lässig rauf und runter: Ist nicht letztlich alles wahr, was uns wahr erscheint? Hat Jack Angst vor getrennten Schlafzimmern, weil das tatsächlich ein Symbol für die sich entfernende Elizabeth ist oder erkennt er darin lediglich seine getrennt schlafenden Eltern? Und vor allem: Ist „die Wahrheit“ immer das unbedingt Anzustrebende, wenn die gute Geschichte möglicherweise auch oder viel besser wirkt? Letzteres gilt auf jeden Fall für das erfolgreiche Institut „Wellness“, das Elizabeth leitet. Im Rahmen psychologischer Experimente verschreibt sie ahnungslosen Patienten Placebos: Liebes-Nasensprays, Abnehmröcke. Viel mehr als um nachweisliche Wirksamkeit geht es hier um die Geschichte: „Es war der einzige Wirkstoff: Glaube. Elizabeths Patienten wurden geheilt, weil sie an Heilung glaubten.“ Ethische Bedenken wischt sie weg: „Wenn eine Behandlung so gut wirkte, sollte man sich dann wirklich Gedanken darüber machen, ob sie streng genommen echt war?“
Für Jack ist „die Wahrheit“ auch eine Frage der Distinktion. Als kleiner Junge in der Abgeschiedenheit von Kansas zeigt ihm seine künstlerisch begabte Schwester das Gemälde „American Gothic“ von Grant Wood. Auf dem steht ein Paar, der Mann hält eine Heugabel und starrt ernst den Betrachter an, die Frau schaut knapp vorbei. Jack bewundert das Bild, wie er die Schwester bewundert. An der Universität in Chicago aber fällt das Bild bei den versnobbten Kommilitonen durch: Touristenfutter sei das, komplett kommerzialisiert.
Wie auch bei der Betrachtung von „American Gothic“ nicht ganz klar ist, ob es sich um eine Parodie oder eine Glorifizierung des ländlichen Lebens handelt, das Bild also mehrere Wahrheiten anbietet, lernt Jack, dass er sich für die bessere Geschichte entscheiden kann. Als er beim Pornoschauen an Universitätscomputern erwischt wird, redet er sich auf ein „Kunstprojekt“ raus. Der Professor ist beeindruckt. In beiden Fällen bleibt das Werk unverändert, nur der Bewertungskontext ist anders.
Wie sich Jacks Vater Lawrence zum Facebook-Verschwörungstheoretiker entwickelt, baut Nathan Hill in einer Art Sieben-Akt-Mini-Drama ein: Synchron zur fortschreitenden Radikalisierung des Vaters legt Hill das Wirken der Algorithmen im Hintergrund des Netzwerks offen. Für Lawrence undurchschaubar wird „Wahrheit“ hier als etwas präsentiert, das durch Technik konstruiert und beliebig gesteuert werden kann.
In seinem Debüt „Geister“ von 2016 spann Nathan Hill schon gigantische Bögen von den Unruhen in Chicago 1968 bis in die Gegenwart eines US-Wahlkampfs und verband alles geradezu streberhaft makellos. Bei Hill kann man sich darauf verlassen, dass keine Handlung ohne Konsequenz, kein Ende offenbleibt. Alles hängt mit fast allem zusammen. Mit „Wellness“ baut Hill den nächsten saftigen Gesellschaftsroman, führt in die Psychologie der Autosuggestion, durch amerikanische Geschichte, das Internet, teilt Expertenwissen über Farming in Kansas. Er springt in den Zeiten hin und her und sorgt penibel dafür, dass alles psychologisch begründet ist.
Das Jonglieren mit der gefühlten Wahrheit ist dabei auch Mittel, eine individualistische Gesellschaft zu illustrieren, in der die gute Erzählung zu einem glücklichen Leben führen kann, wo andererseits Zweifel zutiefst verunsichern. Nicht ohne Ironie kommentiert er den darin verborgenen Optimierungswahn und schrammt an der Parodie vorbei, etwa in der Figur von Brandie, eine reiche Vorstadtmutter, die in ihrem Haus Visionboards aufhängt und täglich Affirmationen betet. Brandie propagiert eine Form aggressiver toxischer Positivity, in der alle Probleme wertgeschätzt werden müssen, weil sie die Chance bieten, ein besserer Mensch zu werden. Die Affäre ihres Mannes? Für Brandie die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln. „Wahrheit“ ist auch eine Frage der richtigen Einstellung.
Auch wenn Jack und Elizabeth am Ende des Romans gewillt sind, miteinander weiterzumachen, ist „Wellness“ kein Feelgood-Plädoyer dafür, halt seine Einstellung zu den Dingen zu ändern. „Glauben Sie, was Sie wollen, meine Liebe, aber glauben Sie vorsichtig“, sagt ihr einstiger Chef und „Wellness“-Gründer zu Elizabeth und das kommt Hills Message schon näher. In der Loslösung von einer unbedingten Wahrheit ist es, worin tatsächlich Möglichkeiten liegen. Auch solche, die entlasten.
„Glauben Sie, was Sie
wollen, meine Liebe, aber
glauben Sie vorsichtig.“
Nathan Hill: Wellness. Roman. Aus dem
Amerikanischen von
Dirk van Gunsteren
und Stephan Kleiner.
Piper, München 2024.
736 Seiten, 28 Euro.
Ist Grant Woods „American Gothic“ von 1930 ein Meisterwerk oder ein kommerzialisierter Touristenmagnet? Das fragt sich Jack, Protagonist in „Wellness“.
Foto: Gemeinfrei
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Elizabeth und Jack, das Paar, das im Zentrum des neuen Romans Nathan Hills steht, lernt sich, so Rezensentin Christiane Lutz, zufällig kennen, weil sie einander gegenüber wohnen, und diesen Zufall halten sie für Vorbestimmung. Später hat sich die Beziehung verändert, die beiden wollen eine eigene Wohnung kaufen, aber Elizabeth möchte nicht mehr mit Jack im selben Bett schlafen. Jack gefällt das nicht, vielleicht, so zeichnet Lutz nach, weil das die Geschichte der Beziehung in Frage stellt, und darum geht es in dem Buch vor allem: um Geschichten, die man sich erzählt und für wahr hält, obwohl sie es vielleicht gar nicht sind. Das passt, heißt es weiter, zu Elizabeths Arbeit als Leiterin eines Wellness-Instituts, das Leuten faktisch wirkungslose Lösungen für Lebensprobleme andreht, es passt aber auch zu den Kunstprojekten, mit denen sich Jack beschäftigt. Einen perfekt, geradezu fugenlos konstruierten Gesellschaftsroman hat Hill geschrieben, konstatiert die Rezensentin, und er läuft für sie auf die Erkenntnis heraus, dass es die eine felsenfeste Wahrheit manchmal nicht gibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit 'Wellness' baut Hill den nächsten saftigen Gesellschaftsroman, führt in die Psychologie der Autosuggestion, durch amerikanische Geschichte, das Internet, teilt Expertenwissen über Farming in Kansas. Er springt in den Zeiten hin und her und sorgt penibel dafür, dass alles psychologisch begründet ist.« Süddeutsche Zeitung 20240123