In einem arabischen Land herrscht im 19. Jahrhundert der weise König Salih. Als die Königin bei einem Attentat ums Leben kommt, versinkt die einzige Tochter in tiefe Melancholie. Die Thronfolgerin hat sich in einen armen Fischer verliebt, wovon ihr Vater nichts ahnt. Als Karam, der Kaffeehauserzähler, von ihrer Krankheit erfährt, beschließt er, die Prinzessin zu heilen. Allabendlich versammelt er erzählfreudige Menschen im Palast, um die junge Frau durch die schönsten Geschichten ins Leben zurückzuholen: von Mut und Feigheit, von Freundschaft und Feindschaft, von der Liebe und der Weisheit des Herzens. Eine Hommage an das Erzählen, die nicht nur Leserinnen und Leser von "Tausendundeiner Nacht" begeistern wird.
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1 | Wenn Du Erzählst, Erblüht Die Wüste | 05:19:00 |
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2023Höre, Europa
Im Syrienkrieg ging die behütete Bibliothek seines Vaters in Flammen auf. Eines der wenigen Bücher,
die er gerettet hat, macht Rafik Schami jetzt zu einem neuen Roman. Auf einen Kaffee mit einem leidenschaftlichen Erzähler
VON DUNJA RAMADAN
Rafik Schami sitzt in einem mit Efeu bepflanzten Innenhof mitten in München. „Fast wie bei uns in Damaskus“, sagt er und blickt nach oben, über ihm hängt eine Lichterkette. Rafik Schami trägt ein hellblaues Jeanshemd unter einer dunkelblauen Bomberjacke, er kommt auf die Minute pünktlich. Die Chemie zwischen dem Schriftsteller und dem Kellner im Café Guglhupf stimmt sofort, gleich dreimal bedankt er sich für dessen Freundlichkeit. „Wenn jemand mal gute Laune hat, dann tut das so gut“, sagt Schami und lehnt sich zurück.
Gerade ist er auf dem Sprung nach Italien, ein bisschen Süden fühlen, im Ausgleich zu seinem Alltag in der Pfalz. Er braucht dringend eine Auszeit, während der Corona-Zeit hat er sein neues Buch fertig geschrieben, zehn Stunden jeden Tag am Schreibtisch, zweieinhalb Jahre lang, im Hintergrund liefen die warmen Klänge der Oud, der arabische Knickhalslaute, gespielt vom libanesischen Jazzmusiker Rabih Abou-Khalil.
Weiter südlich zu reisen ist ihm unmöglich: Seit 52 Jahren lebt Rafik Schami im Exil. Mit 25 Jahren weigerte er sich, den Militärdienst zu absolvieren, sein Vater wollte ihn nicht ziehen lassen, aber allein der Gedanke, vielleicht einen Unschuldigen töten zu müssen, trieb Schami aus dem Land. Ein Abschied für immer? Das hätte er nicht für möglich gehalten. „Es gibt zwei Arten, mit dem Exil umzugehen“, sagt der 77-Jährige. „Entweder man geht daran zugrunde oder man versucht daran zu wachsen.“
Schami holt sein neues Buch aus einer Papiertasche: „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, Mosaike eines syrischen Klosters auf dem Cover. An einigen davon hat die Zeit Spuren hinterlassen: rotbraune Rostflecken ziehen sich durch die flaschengrün und königsblau leuchtenden Fliesen, als hätte ein Künstler sie erst gestern frisch bemalt. Und irgendwie geht es darum auch in Rafik Schamis Buch: Er lässt vergessene Erzählungen aufleben – und gibt ihnen einen neuen Anstrich.
Alles beginnt im Sommerhaus seines Vaters im christlich-aramäischen Dorf Maalula, sechzig Kilometer nördlich von Damaskus. Dort stand jahrzehntelang dessen gut gehütete Büchersammlung. Sein Vater war ein ernster Mann, strenger Katholik, nur wenn er las, musste er manchmal lachen, bis ihm der Atem wegblieb. Dann steckte er seinen Kopf ins Kinderzimmer und erzählte die Geschichten weiter. Es war vor allem Rafik, der sich begeistern ließ. Seine Schwester sei bis heute eher ein Filmjunkie, erzählt Schami.
Das Café füllt sich, ein paar Touristen aus der Fußgängerzone haben Gefallen an dem ruhigen Innenhof gefunden. Rafik Schami stört das nicht, er spricht mit ruhiger Stimme, switcht vom Arabischen ins Deutsche und wieder zurück. Nach dem Tod seines Vaters und nach Ausbruch des Syrienkrieges war es seine Schwester Samar, die sich bei ihm über die Bürde der kostbaren Büchersammlung beschwerte. Sie schlug vor, sie ihm in die Pfalz zu schicken. Doch mit Blick auf seine dortige Bibliothek musste Rafik Schami passen. Sechs Bücher nahm er dennoch bei sich auf – zum Glück, wie er bald erfahren musste. Kurz darauf flog eine Rakete ins Sommerhaus und die Bücher gingen in Flammen auf.
„Sie rochen nach Maalula, nach Thymian und Basilikum, nach Koriander und Papier“, schreibt Schami in seinem Buch. Eines, das er aufbewahrt, ist ein handgeschriebener Roman mit dem Titel „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, das Datum der Niederschrift: Ostern 1890. Ein Hinweis darauf, dass der anonyme Autor ein Christ war. Er hatte sich offenbar die legendäre Scheherezade zum Vorbild genommen: „Er verband Perlen arabischer Erzählkunst mit einer ungewöhnlichen Rahmenhandlung“, erzählt Schami. Fünf Jahre lang arbeitete Rafik Schami mit diesem Roman, entstaubte ihn, brachte ihn von der Vergangenheit in die Zukunft: „Es fühlte sich an, als würde ich kleine, leuchtende Lampions an einen neuen Bogen anbringen.“
Gedacht war das Buch als Liebeserklärung an seinen Vater. Doch es ist auch eine Liebeserklärung an die hohe Kunst der Hakawatis, der mündlichen Geschichtenerzähler. Schami erinnert an die Ursprünge des mündlichen Erzählens: die karge, immer gleiche Wüstenlandschaft bewog die Beduinen dazu, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Augen ruhten, der Mund erzählte. In Europa war es andersherum, die Natur vielseitiger, Wiesen, Felder, Wälder, Seen: Also erzählten die Augen, und der Mund ruhte. Deshalb hätten die Europäer Malerei und die Araber Geschichten.
„Wie befreiend das Zuhören ist, wie die Worte auf dem Weg über die Ohren die Zunge kitzeln und zum Erzählen bringen“, schreibt Schami, der schon früh die Kunst des Zuhörens und des Erzählens kennenlernen durfte. Als Kind stellte er sich oft schlafend und konnte den Gesprächen seiner Mutter mit ihren Freundinnen lauschen, in denen es nicht selten um Affären ging – sie hätten ihn also sicher weggeschickt, wenn sie bemerkt hätten, dass er wach war. Sein neues Buch widmet er deshalb Hanne, seiner Mutter, die ihn mit „ihrem feinen Gehör und Humor zum Erzähler machte“, und seinem Vater, Ibrahim, „der mir die Liebe zur Stille der Bücher beigebracht hat“.
Es geht darin um ein Königreich, das von dem gerechten Herrscher Salih regiert wird, er heiratet die Liebe seines Lebens (keine königliche Vernunftehe, was wahrscheinlich der modernen Feder Schamis zu verdanken ist) und sie bekommen eine Tochter, Jasmin. Sie wächst zu einer selbstbewussten Frau heran, die sich ihr eigenes Bild über ihr zukünftiges Herrschaftsgebiet machen möchte. Sie bereist es und die Nachbarländer deshalb inkognito mit ihrer Zofe (eine Art freiwilliges soziales Jahr als Prinzessin). Es passiert, was auf so einer Tour nun mal passiert: Sie verliebt sich. Als Prinzessin ist das allerdings komplizierter.
Und so kommt es durch eine Verkettung unglücklicher Umstände dazu, dass die Mutter Opfer eines Attentats wird. Jasmin gibt sich die Schuld an ihrem Tod und versinkt, würde man heute sagen, in eine tiefe Depression. Der Vater lässt Ärzte, Heilerinnen und irgendwann auch Scharlatane, Bettler und Verrückte in den Palast kommen, um seine Tochter zu heilen – doch nichts hilft. Nur ein Kaffeehauserzähler, der die vergangenen fünf Jahre in einem Gefangenenlager im Nachbarland festsaß, schafft es, ihre Aufmerksamkeit zu erregen – mit außergewöhnlichen Geschichten. Denn das Erzählen, sagt Schami, macht aus einer Sackgasse eine Kreuzung und verwandelt von Kummer gebeutelte Erwachsene nach einer Viertelstunde in träumende Kinder.
Das Angenehme am Kaffeehauserzähler Karam ist, dass er kein großes Ego hat – er empowert stattdessen andere Zuhörer, den Hakawati in sich zu entdecken. Auf die Kanzel treten im Laufe des Buches ein Fischhändler, ein Rabbiner, eine Witwe, ein Parfümeur oder eine Wäscherin. Sie erzählen von Aberglauben und Lügen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Feindschaft und Freundschaft, von der Weisheit des Herzens. Und fast immer ist man danach klüger – oder zumindest gut unterhalten.
Sollten wir nicht überhaupt, statt gesellschaftliche Spaltungen zu beschwören, wieder mehr zuhören? „Es ist schon erstaunlich, wie viele Experten es in diesem Land gibt“, sagt Schami. „Es scheint mir manchmal so, als hätten wir das ehrliche Zuhören verlernt, das In-Erwägung-Ziehen, dass der andere recht hat.“ In Europa sei alles auf die Schriftkultur ausgerichtet, alles muss festgehalten und bewiesen werden, eine Kultur der Fußnote. Dabei sei es auch wichtig, dem mündlichen Erzählen Raum zu geben, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man gerne miteinander spricht. Schweigen und scrollen sei kein Schutz für die Demokratie.
Die Probleme der arabischen Welt machten ihn auch sehr traurig, sagt Schami. Dass Karam, der begnadete Erzähler im Buch, in einem grausamen Lager für Staatsfeinde inhaftiert war, nur weil er eine lustige Tierfabel über den König der Tiere erzählt hatte, erinnert an Schamis Heimatland Syrien. Und Karams Flucht ins Nachbarland Sitt Hudud, das von dem weisen Herrscher Salih regiert wird, der auch kleinen Leuten zuhört, das klingt nach einer Wunschvorstellung Schamis für die Region.
Sie liegt ihm bis heute am Herzen. Erinnerungen an die alte Heimat, das Schreiben darüber tragen ihn durch das Exil. Mittlerweile ist es nicht nur Syrien, dem Rafik Schami fernbleiben muss. Die gesamte arabische Welt ist für ihn tabu, man könnte ihn nach Syrien ausliefern. Ein Albtraum. Das will er seiner Frau und seinem Sohn nicht antun, sagt er. Könnte er irgendwann in einem Flieger Richtung Syrien sitzen, träumt er, dann würde sein Sohn neben ihm sitzen. Sie würden durch die Gassen der Altstadt bummeln, in die Hocke gehen und Murmeln über den Pflasterweg schnipsen – bis eine in den zahlreichen Schlaglöchern landet. Ein Spiel, das er als Kind immer gespielt hat – und das er so gerne seinem eigenen mittlerweile erwachsenen Kind zeigen würde.
Dass das gerade alles sehr unwahrscheinlich ist, dass Baschar al-Assad den Syrienkrieg gewonnen hat, falls man nach all dem Leid überhaupt von gewinnen sprechen kann, hätte Rafik Schami nie für möglich gehalten. Als er sich mit 25 Jahren entschied, das Land zu verlassen, weil er den Militärdienst nicht machen wollte, hätte er nie gedacht, dass er so lange auf seine Heimat würde verzichten müssen. Doch die Welt, die Rafik Schami so liebt und die in den vergangenen Jahrzehnten Menschen in mehr als 30 Sprachen begeisterte, trägt er in sich. Auch davon zeugt sein neues Buch – einmal mehr.
Schweigen und scrollen
sei kein Schutz für
die Demokratie, sagt Schami
Feiert auch in seinem jüngsten Buch die mündlichen Ursprünge des Erzählens: Der Schriftsteller Rafik Schami.
Foto: Holger John/imago images/VIADATA
Rafik Schami: Wenn du erzählst, erblüht die
Wüste. Roman. Hanser,
München 2023.
480 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im Syrienkrieg ging die behütete Bibliothek seines Vaters in Flammen auf. Eines der wenigen Bücher,
die er gerettet hat, macht Rafik Schami jetzt zu einem neuen Roman. Auf einen Kaffee mit einem leidenschaftlichen Erzähler
VON DUNJA RAMADAN
Rafik Schami sitzt in einem mit Efeu bepflanzten Innenhof mitten in München. „Fast wie bei uns in Damaskus“, sagt er und blickt nach oben, über ihm hängt eine Lichterkette. Rafik Schami trägt ein hellblaues Jeanshemd unter einer dunkelblauen Bomberjacke, er kommt auf die Minute pünktlich. Die Chemie zwischen dem Schriftsteller und dem Kellner im Café Guglhupf stimmt sofort, gleich dreimal bedankt er sich für dessen Freundlichkeit. „Wenn jemand mal gute Laune hat, dann tut das so gut“, sagt Schami und lehnt sich zurück.
Gerade ist er auf dem Sprung nach Italien, ein bisschen Süden fühlen, im Ausgleich zu seinem Alltag in der Pfalz. Er braucht dringend eine Auszeit, während der Corona-Zeit hat er sein neues Buch fertig geschrieben, zehn Stunden jeden Tag am Schreibtisch, zweieinhalb Jahre lang, im Hintergrund liefen die warmen Klänge der Oud, der arabische Knickhalslaute, gespielt vom libanesischen Jazzmusiker Rabih Abou-Khalil.
Weiter südlich zu reisen ist ihm unmöglich: Seit 52 Jahren lebt Rafik Schami im Exil. Mit 25 Jahren weigerte er sich, den Militärdienst zu absolvieren, sein Vater wollte ihn nicht ziehen lassen, aber allein der Gedanke, vielleicht einen Unschuldigen töten zu müssen, trieb Schami aus dem Land. Ein Abschied für immer? Das hätte er nicht für möglich gehalten. „Es gibt zwei Arten, mit dem Exil umzugehen“, sagt der 77-Jährige. „Entweder man geht daran zugrunde oder man versucht daran zu wachsen.“
Schami holt sein neues Buch aus einer Papiertasche: „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, Mosaike eines syrischen Klosters auf dem Cover. An einigen davon hat die Zeit Spuren hinterlassen: rotbraune Rostflecken ziehen sich durch die flaschengrün und königsblau leuchtenden Fliesen, als hätte ein Künstler sie erst gestern frisch bemalt. Und irgendwie geht es darum auch in Rafik Schamis Buch: Er lässt vergessene Erzählungen aufleben – und gibt ihnen einen neuen Anstrich.
Alles beginnt im Sommerhaus seines Vaters im christlich-aramäischen Dorf Maalula, sechzig Kilometer nördlich von Damaskus. Dort stand jahrzehntelang dessen gut gehütete Büchersammlung. Sein Vater war ein ernster Mann, strenger Katholik, nur wenn er las, musste er manchmal lachen, bis ihm der Atem wegblieb. Dann steckte er seinen Kopf ins Kinderzimmer und erzählte die Geschichten weiter. Es war vor allem Rafik, der sich begeistern ließ. Seine Schwester sei bis heute eher ein Filmjunkie, erzählt Schami.
Das Café füllt sich, ein paar Touristen aus der Fußgängerzone haben Gefallen an dem ruhigen Innenhof gefunden. Rafik Schami stört das nicht, er spricht mit ruhiger Stimme, switcht vom Arabischen ins Deutsche und wieder zurück. Nach dem Tod seines Vaters und nach Ausbruch des Syrienkrieges war es seine Schwester Samar, die sich bei ihm über die Bürde der kostbaren Büchersammlung beschwerte. Sie schlug vor, sie ihm in die Pfalz zu schicken. Doch mit Blick auf seine dortige Bibliothek musste Rafik Schami passen. Sechs Bücher nahm er dennoch bei sich auf – zum Glück, wie er bald erfahren musste. Kurz darauf flog eine Rakete ins Sommerhaus und die Bücher gingen in Flammen auf.
„Sie rochen nach Maalula, nach Thymian und Basilikum, nach Koriander und Papier“, schreibt Schami in seinem Buch. Eines, das er aufbewahrt, ist ein handgeschriebener Roman mit dem Titel „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, das Datum der Niederschrift: Ostern 1890. Ein Hinweis darauf, dass der anonyme Autor ein Christ war. Er hatte sich offenbar die legendäre Scheherezade zum Vorbild genommen: „Er verband Perlen arabischer Erzählkunst mit einer ungewöhnlichen Rahmenhandlung“, erzählt Schami. Fünf Jahre lang arbeitete Rafik Schami mit diesem Roman, entstaubte ihn, brachte ihn von der Vergangenheit in die Zukunft: „Es fühlte sich an, als würde ich kleine, leuchtende Lampions an einen neuen Bogen anbringen.“
Gedacht war das Buch als Liebeserklärung an seinen Vater. Doch es ist auch eine Liebeserklärung an die hohe Kunst der Hakawatis, der mündlichen Geschichtenerzähler. Schami erinnert an die Ursprünge des mündlichen Erzählens: die karge, immer gleiche Wüstenlandschaft bewog die Beduinen dazu, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Augen ruhten, der Mund erzählte. In Europa war es andersherum, die Natur vielseitiger, Wiesen, Felder, Wälder, Seen: Also erzählten die Augen, und der Mund ruhte. Deshalb hätten die Europäer Malerei und die Araber Geschichten.
„Wie befreiend das Zuhören ist, wie die Worte auf dem Weg über die Ohren die Zunge kitzeln und zum Erzählen bringen“, schreibt Schami, der schon früh die Kunst des Zuhörens und des Erzählens kennenlernen durfte. Als Kind stellte er sich oft schlafend und konnte den Gesprächen seiner Mutter mit ihren Freundinnen lauschen, in denen es nicht selten um Affären ging – sie hätten ihn also sicher weggeschickt, wenn sie bemerkt hätten, dass er wach war. Sein neues Buch widmet er deshalb Hanne, seiner Mutter, die ihn mit „ihrem feinen Gehör und Humor zum Erzähler machte“, und seinem Vater, Ibrahim, „der mir die Liebe zur Stille der Bücher beigebracht hat“.
Es geht darin um ein Königreich, das von dem gerechten Herrscher Salih regiert wird, er heiratet die Liebe seines Lebens (keine königliche Vernunftehe, was wahrscheinlich der modernen Feder Schamis zu verdanken ist) und sie bekommen eine Tochter, Jasmin. Sie wächst zu einer selbstbewussten Frau heran, die sich ihr eigenes Bild über ihr zukünftiges Herrschaftsgebiet machen möchte. Sie bereist es und die Nachbarländer deshalb inkognito mit ihrer Zofe (eine Art freiwilliges soziales Jahr als Prinzessin). Es passiert, was auf so einer Tour nun mal passiert: Sie verliebt sich. Als Prinzessin ist das allerdings komplizierter.
Und so kommt es durch eine Verkettung unglücklicher Umstände dazu, dass die Mutter Opfer eines Attentats wird. Jasmin gibt sich die Schuld an ihrem Tod und versinkt, würde man heute sagen, in eine tiefe Depression. Der Vater lässt Ärzte, Heilerinnen und irgendwann auch Scharlatane, Bettler und Verrückte in den Palast kommen, um seine Tochter zu heilen – doch nichts hilft. Nur ein Kaffeehauserzähler, der die vergangenen fünf Jahre in einem Gefangenenlager im Nachbarland festsaß, schafft es, ihre Aufmerksamkeit zu erregen – mit außergewöhnlichen Geschichten. Denn das Erzählen, sagt Schami, macht aus einer Sackgasse eine Kreuzung und verwandelt von Kummer gebeutelte Erwachsene nach einer Viertelstunde in träumende Kinder.
Das Angenehme am Kaffeehauserzähler Karam ist, dass er kein großes Ego hat – er empowert stattdessen andere Zuhörer, den Hakawati in sich zu entdecken. Auf die Kanzel treten im Laufe des Buches ein Fischhändler, ein Rabbiner, eine Witwe, ein Parfümeur oder eine Wäscherin. Sie erzählen von Aberglauben und Lügen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Feindschaft und Freundschaft, von der Weisheit des Herzens. Und fast immer ist man danach klüger – oder zumindest gut unterhalten.
Sollten wir nicht überhaupt, statt gesellschaftliche Spaltungen zu beschwören, wieder mehr zuhören? „Es ist schon erstaunlich, wie viele Experten es in diesem Land gibt“, sagt Schami. „Es scheint mir manchmal so, als hätten wir das ehrliche Zuhören verlernt, das In-Erwägung-Ziehen, dass der andere recht hat.“ In Europa sei alles auf die Schriftkultur ausgerichtet, alles muss festgehalten und bewiesen werden, eine Kultur der Fußnote. Dabei sei es auch wichtig, dem mündlichen Erzählen Raum zu geben, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man gerne miteinander spricht. Schweigen und scrollen sei kein Schutz für die Demokratie.
Die Probleme der arabischen Welt machten ihn auch sehr traurig, sagt Schami. Dass Karam, der begnadete Erzähler im Buch, in einem grausamen Lager für Staatsfeinde inhaftiert war, nur weil er eine lustige Tierfabel über den König der Tiere erzählt hatte, erinnert an Schamis Heimatland Syrien. Und Karams Flucht ins Nachbarland Sitt Hudud, das von dem weisen Herrscher Salih regiert wird, der auch kleinen Leuten zuhört, das klingt nach einer Wunschvorstellung Schamis für die Region.
Sie liegt ihm bis heute am Herzen. Erinnerungen an die alte Heimat, das Schreiben darüber tragen ihn durch das Exil. Mittlerweile ist es nicht nur Syrien, dem Rafik Schami fernbleiben muss. Die gesamte arabische Welt ist für ihn tabu, man könnte ihn nach Syrien ausliefern. Ein Albtraum. Das will er seiner Frau und seinem Sohn nicht antun, sagt er. Könnte er irgendwann in einem Flieger Richtung Syrien sitzen, träumt er, dann würde sein Sohn neben ihm sitzen. Sie würden durch die Gassen der Altstadt bummeln, in die Hocke gehen und Murmeln über den Pflasterweg schnipsen – bis eine in den zahlreichen Schlaglöchern landet. Ein Spiel, das er als Kind immer gespielt hat – und das er so gerne seinem eigenen mittlerweile erwachsenen Kind zeigen würde.
Dass das gerade alles sehr unwahrscheinlich ist, dass Baschar al-Assad den Syrienkrieg gewonnen hat, falls man nach all dem Leid überhaupt von gewinnen sprechen kann, hätte Rafik Schami nie für möglich gehalten. Als er sich mit 25 Jahren entschied, das Land zu verlassen, weil er den Militärdienst nicht machen wollte, hätte er nie gedacht, dass er so lange auf seine Heimat würde verzichten müssen. Doch die Welt, die Rafik Schami so liebt und die in den vergangenen Jahrzehnten Menschen in mehr als 30 Sprachen begeisterte, trägt er in sich. Auch davon zeugt sein neues Buch – einmal mehr.
Schweigen und scrollen
sei kein Schutz für
die Demokratie, sagt Schami
Feiert auch in seinem jüngsten Buch die mündlichen Ursprünge des Erzählens: Der Schriftsteller Rafik Schami.
Foto: Holger John/imago images/VIADATA
Rafik Schami: Wenn du erzählst, erblüht die
Wüste. Roman. Hanser,
München 2023.
480 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Dunja Ramadan überlegt angesichts des neuen Romans von Rafik Schami, ob Zuhören nicht eine Tugend ist, die sich wieder zu erlernen lohnt. So unterhaltsam die Geschichte um eine verliebte Königstochter, allerhand Komplikationen und die heilende Kraft des Erzählens für Ramadan ist, so faustdick hat sie es sozusagen hinter den Ohren: Sie trägt Schamis Familiengeschichte und die der arabischen Welt mit sich, als Erzählung über Aberglauben und Lügen, Gerechtigkeit und ihr Gegenteil, Freundschaft und Weisheit, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Rafik Schami, der mit allen Wassern der orientalischen Erzählkunst gewaschene Meister, begnügt sich hier mit zehn Nächten, aber... so tief in die orientalische Wunsch- und Abenteuerwelt eingesenkt, dass sie mit den tausendundeinen mithalten können." Erhard Schütz, Das Magazin, Dezember 2023
"Eine Fundgrube von weisen, unterhaltsamen und spannenden Geschichten, gerade so, wie wir es von Rafik Schami gewohnt sind." Silke Arning, SWR2 Literatur, 27.10.23
"Das ist ein Roman, der seinem Autor aufs Schönste entspricht. Zum einen deshalb, weil sich Rafik Schami seit allem Anfang an mit Märchen aus Arabien befasst hat. Zum anderen feiert 'Wenn Du erzählst, erblüht die Wüste' das mündliche Erzählen, das der Autor wie kaum ein anderer auf den Vortragsbühnen landauf und landab pflegt." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 24.09.23
"Rafik Schami hat einen schönen Roman über die Kraft des Erzählens geschrieben, das sogar die Wüste erblühen lässt." Clementine Skorpil, Die Presse, 12.09.23
"Fein webt Schami die Fäden, breitet einen wunderbaren Geschichtenteppich aus, gleichzeitig mythisch und modern, orientalisch und europäisch." Katja Weise, NDR Kultur, 31.08.23
"Das neue Buch von Rafik Schami ist ein Schatz der wunderbarsten Geschichten. Es verzaubert seine Leserinnen und Leser auf magische Weise und gibt Rat für alle Lebenslagen." Andreas Wallentin, WDR 5, 25.08.23
"Eine Fundgrube von weisen, unterhaltsamen und spannenden Geschichten, gerade so, wie wir es von Rafik Schami gewohnt sind." Silke Arning, SWR2 Literatur, 27.10.23
"Das ist ein Roman, der seinem Autor aufs Schönste entspricht. Zum einen deshalb, weil sich Rafik Schami seit allem Anfang an mit Märchen aus Arabien befasst hat. Zum anderen feiert 'Wenn Du erzählst, erblüht die Wüste' das mündliche Erzählen, das der Autor wie kaum ein anderer auf den Vortragsbühnen landauf und landab pflegt." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 24.09.23
"Rafik Schami hat einen schönen Roman über die Kraft des Erzählens geschrieben, das sogar die Wüste erblühen lässt." Clementine Skorpil, Die Presse, 12.09.23
"Fein webt Schami die Fäden, breitet einen wunderbaren Geschichtenteppich aus, gleichzeitig mythisch und modern, orientalisch und europäisch." Katja Weise, NDR Kultur, 31.08.23
"Das neue Buch von Rafik Schami ist ein Schatz der wunderbarsten Geschichten. Es verzaubert seine Leserinnen und Leser auf magische Weise und gibt Rat für alle Lebenslagen." Andreas Wallentin, WDR 5, 25.08.23