Roger Willemsens letztes Buch sollte "Wer wir waren" heißen. Es sollte die Versäumnisse der Gegenwart aus der Perspektive derjenigen erzählen, die nach uns leben werden. Dieses Buch werden wir nie lesen können. Umso stärker wirkt eine Rede, die Roger Willemsen noch im Juli 2015 gehalten hat: Sie ist nicht nur das melancholische Resümee und die scharfe Analyse eines außergewöhnlichen Zeitgenossen, sondern zugleich das leidenschaftliche Plädoyer für eine »Abspaltung aus der Rasanz der Zeit«. Sie ist ein Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären.
Roger Willemsen hat diese Rede am 24. Juli 2015 gehalten. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.
»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.« Roger Willemsen
Roger Willemsen hat diese Rede am 24. Juli 2015 gehalten. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.
»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.« Roger Willemsen
CD | |||
1 | Wer wir waren | 00:04:24 | |
2 | Die Welt altert in Schüben | 00:03:55 | |
3 | Wo Zeitungen und Fernsehprogramme | 00:05:14 | |
4 | Wir können diese Vorstellungen | 00:04:36 | |
5 | Machen wir von hier einen Sprunge | 00:05:41 | |
6 | Halten wir kurz inne | 00:04:34 | |
7 | Nach seiner Rückkehr | 00:03:39 | |
8 | Gemessen am Pathos | 00:03:07 | |
9 | Zu keiner Zeit | 00:04:13 | |
10 | Neu ist vielleicht nicht | 00:03:47 | |
11 | Gewiss, so sprechen | 00:04:48 | |
12 | Wir kamen aus einer Zeit | 00:05:00 | |
13 | Zuerst fühlen die Menschen | 00:04:21 | |
14 | Auf unsere Zeit übertragen | 00:03:50 | |
15 | Unser Beitrag zu dieser Geschichte | 00:04:03 | |
16 | Wir waren die | 00:02:41 | |
17 | Doch nicht damit will ich enden | 00:03:42 |
buecher-magazin.deMan hört dieses Zukunftsmanifest und fragt sich: Dürfen wir noch hoffen? Roger Willemsen macht in seiner Rückschau auf die Schwächen unserer Gesellschaft deutlich, dass es keinesfalls um kleine Versäumnisse geht. Wir bewegen uns vielmehr an der Grenzlinie zum Unumkehrbaren. Dabei lässt er die Frage offen, ob wir die Grenze schon überschritten haben. Für Christian Brückner sind Zukunftsszenarien kein unbekanntes Terrain. Er hat schon mit McCarthys "Die Straße" den Hörer in den Zustand zwischen Verzweiflung und Hoffnung versetzt. Er gibt Willemsen die Stimme, die er selbst nicht mehr erheben kann. Und verleiht diesem Testament die nötige Eindringlichkeit, die ein wenig die Willemsen typische Heiterkeit vermissen lässt. Oder ist sie bei diesem Thema vielleicht auch gar nicht angebracht? Brückner deutet den Text wie folgt: "Unhaltbare Zustände sichtbar zu machen - das geschieht doch immer mit dem kleinen Schimmer der Resthoffnung. Das Benennen bannt auch etwas von der Bedrohung." So hat Willemsen am Ende das getan, was er zeitlebens am besten konnte: Er hat uns ein Licht angezündet. Dass es weiterbrennt, liegt in unserer Verantwortung.
© BÜCHERmagazin, Sabine Kelp (sk)
© BÜCHERmagazin, Sabine Kelp (sk)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2016Leben als Filialexistenz
Roger Willemsens letzte Rede "Wer wir waren"
"Im Grunde ist alles Leben ein Prozess des Niedergangs", schreibt F. Scott Fitzgerald in seinem autobiographischen Essay "The Crack-Up" (Der Knacks), erschienen im Jahr 1936. Knapp fünfzig Jahre später erschien im Merve Verlag eine deutsche Übersetzung zusammen mit einem Aufsatz von Gilles Deleuze ("Porzellan und Vulkan"). Roger Willemsen war zu dieser Zeit Assistent am Institut für Deutsche Philologie der Universität München und ein angehender Star seiner Zunft, umschwärmt, bewundert, sprühend vor Gelehrsamkeit. Den Merve-Band empfahl er hemmungslos, weil er vom "Knacks" so beeindruckt war.
Im Februar dieses Jahres ist Willemsen, gerade einmal sechzig Jahre alt, gestorben. Seine Laufbahn hat ihn nicht auf einen Lehrstuhl geführt oder in die Gremiengeflechte von Academia, sondern zunächst nach London und von dort aus in den Journalismus. Er reüssierte von 1991 an beim gerade entstehenden Privatfernsehen mit dem Interview-Format "0137" bei Premiere, später mit "Willemsens Woche" im ZDF. Dann besann er sich wieder stärker auf das Buch, daneben war er Moderator, Dokumentarfilmer, Redner, Vortragender seiner thematisch weit gespannten Produktion, die ihn vom Jazz über Afghanistan und den Rest der Welt auch ein Jahr in den Bundestag als Beobachter der politischen Klasse führte. Ein intellektueller Tausendsassa, der zwischen E und U vermitteln konnte, ein Publikumsliebling, der manchem Kritiker wegen seines rhetorischen Übereifers missfiel.
Als er im Spätsommer letzten Jahres seine Krebserkrankung öffentlich machte und sich zurückzog, hatte er gerade die Arbeit an einem neuen Buch begonnen. Es sollte den Titel tragen "Wer wir waren" und aus der Zukunftsperspektive auf unsere Gegenwart als "Filialexistenzen" blicken. Um das Thema abzutasten, schrieb Willemsen einen Essay, den er zweimal vor Publikum vortrug. Als "sein Vermächtnis" ist diese kaum fünfzig kleine Druckseiten füllende "Zukunftsrede" nun veröffentlicht worden.
Willemsens Blick auf die Gegenwart ist gelinde gesagt elegisch, so wie jede gepflegte Kulturkritik aber bemüht, nicht völlig kulturpessimistisch daherzukommen. Doch schon auf der zweiten Seite sind wir an dem Punkt, an dem das Wort "Krise" fällt. Und mit ihm tritt auf der Homo sapiens als Erzeuger der "Krise der ganzen Welt": "Wenn man es genau bedenkt, dann ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten." Da ist nicht nur die Anspielung auf Fitzgerald, da ist auch die Isolierschicht Ironie, die den Befund erträglich machen soll.
Dahinter verbirgt sich gehöriger Ernst. Mehr noch, die Sorge, dass wir uns zwar in der digital beschleunigten Welt die Zukunft als Versprechen auf ein bequemes, effizientes Dasein in der Hand der Maschinen durchaus vorstellen könnten, nicht aber unser kommendes Bewusstsein. Wir ahnen, schreibt Willemsen, "dass wir künftig weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental sein werden". Deswegen verlegt er sich gleich auf das Futur II und fragt nicht, wer wir sind, sondern "wer wir gewesen sein werden". Wie soll dieser Befund optimistisch ausfallen, wenn wir "in der Kapitulation" leben, das Menschsein aufgegeben haben? Wenn wir uns von unserer Zeit haben niederringen lassen?
Die bislang prekärste Ausformung des Homo sapiens, den die Digitalzeit hervorgebracht hat, ist der "Second-Screen-Mensch", dem "der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildbegleitenden Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar". Der Rest ist Selbstpreisgabe und -darstellung in den sozialen Medien sowie eine große Zertrümmerung der epischen Strukturen - womit nicht zuletzt das Ende des Romans gemeint ist. Und so landet der Autor am Ende bei seinem alten Helden Robert Musil, über dessen "Mann ohne Eigenschaften" er eine Dissertation schrieb und der maßgeblichen Einfluss auf Willemsens vergessenes Buch "Figuren der Willkür" (1991) ausübte.
Es steckt viel drin in diesem Brühwürfel, treffend Beobachtetes, Witziges, Skurriles, Theorieschnipsel - ob daraus am Ende ein stringentes Buch hätte werden können, lässt sich nur vermuten; das Skizzenhafte war stets ein Charakteristikum von Willemsens Art zu schreiben. Ob wir wirklich in der "letzten Epoche der Utopie" angekommen sind? Bei Fitzgerald heißt es in "Der Knacks", die wahre Prüfung einer erstklassigen Intelligenz sei die Fähigkeit, zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und trotzdem weiter zu funktionieren. Diese Aufgabe, wird man Roger Willemsen unterstellen dürfen, hat er seinen Lesern mit auf den Weg gegeben.
HANNES HINTERMEIER
Roger Willemsen: "Wer wir waren". Zukunftsrede.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 60 S., geb., 12.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roger Willemsens letzte Rede "Wer wir waren"
"Im Grunde ist alles Leben ein Prozess des Niedergangs", schreibt F. Scott Fitzgerald in seinem autobiographischen Essay "The Crack-Up" (Der Knacks), erschienen im Jahr 1936. Knapp fünfzig Jahre später erschien im Merve Verlag eine deutsche Übersetzung zusammen mit einem Aufsatz von Gilles Deleuze ("Porzellan und Vulkan"). Roger Willemsen war zu dieser Zeit Assistent am Institut für Deutsche Philologie der Universität München und ein angehender Star seiner Zunft, umschwärmt, bewundert, sprühend vor Gelehrsamkeit. Den Merve-Band empfahl er hemmungslos, weil er vom "Knacks" so beeindruckt war.
Im Februar dieses Jahres ist Willemsen, gerade einmal sechzig Jahre alt, gestorben. Seine Laufbahn hat ihn nicht auf einen Lehrstuhl geführt oder in die Gremiengeflechte von Academia, sondern zunächst nach London und von dort aus in den Journalismus. Er reüssierte von 1991 an beim gerade entstehenden Privatfernsehen mit dem Interview-Format "0137" bei Premiere, später mit "Willemsens Woche" im ZDF. Dann besann er sich wieder stärker auf das Buch, daneben war er Moderator, Dokumentarfilmer, Redner, Vortragender seiner thematisch weit gespannten Produktion, die ihn vom Jazz über Afghanistan und den Rest der Welt auch ein Jahr in den Bundestag als Beobachter der politischen Klasse führte. Ein intellektueller Tausendsassa, der zwischen E und U vermitteln konnte, ein Publikumsliebling, der manchem Kritiker wegen seines rhetorischen Übereifers missfiel.
Als er im Spätsommer letzten Jahres seine Krebserkrankung öffentlich machte und sich zurückzog, hatte er gerade die Arbeit an einem neuen Buch begonnen. Es sollte den Titel tragen "Wer wir waren" und aus der Zukunftsperspektive auf unsere Gegenwart als "Filialexistenzen" blicken. Um das Thema abzutasten, schrieb Willemsen einen Essay, den er zweimal vor Publikum vortrug. Als "sein Vermächtnis" ist diese kaum fünfzig kleine Druckseiten füllende "Zukunftsrede" nun veröffentlicht worden.
Willemsens Blick auf die Gegenwart ist gelinde gesagt elegisch, so wie jede gepflegte Kulturkritik aber bemüht, nicht völlig kulturpessimistisch daherzukommen. Doch schon auf der zweiten Seite sind wir an dem Punkt, an dem das Wort "Krise" fällt. Und mit ihm tritt auf der Homo sapiens als Erzeuger der "Krise der ganzen Welt": "Wenn man es genau bedenkt, dann ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten." Da ist nicht nur die Anspielung auf Fitzgerald, da ist auch die Isolierschicht Ironie, die den Befund erträglich machen soll.
Dahinter verbirgt sich gehöriger Ernst. Mehr noch, die Sorge, dass wir uns zwar in der digital beschleunigten Welt die Zukunft als Versprechen auf ein bequemes, effizientes Dasein in der Hand der Maschinen durchaus vorstellen könnten, nicht aber unser kommendes Bewusstsein. Wir ahnen, schreibt Willemsen, "dass wir künftig weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental sein werden". Deswegen verlegt er sich gleich auf das Futur II und fragt nicht, wer wir sind, sondern "wer wir gewesen sein werden". Wie soll dieser Befund optimistisch ausfallen, wenn wir "in der Kapitulation" leben, das Menschsein aufgegeben haben? Wenn wir uns von unserer Zeit haben niederringen lassen?
Die bislang prekärste Ausformung des Homo sapiens, den die Digitalzeit hervorgebracht hat, ist der "Second-Screen-Mensch", dem "der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildbegleitenden Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar". Der Rest ist Selbstpreisgabe und -darstellung in den sozialen Medien sowie eine große Zertrümmerung der epischen Strukturen - womit nicht zuletzt das Ende des Romans gemeint ist. Und so landet der Autor am Ende bei seinem alten Helden Robert Musil, über dessen "Mann ohne Eigenschaften" er eine Dissertation schrieb und der maßgeblichen Einfluss auf Willemsens vergessenes Buch "Figuren der Willkür" (1991) ausübte.
Es steckt viel drin in diesem Brühwürfel, treffend Beobachtetes, Witziges, Skurriles, Theorieschnipsel - ob daraus am Ende ein stringentes Buch hätte werden können, lässt sich nur vermuten; das Skizzenhafte war stets ein Charakteristikum von Willemsens Art zu schreiben. Ob wir wirklich in der "letzten Epoche der Utopie" angekommen sind? Bei Fitzgerald heißt es in "Der Knacks", die wahre Prüfung einer erstklassigen Intelligenz sei die Fähigkeit, zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und trotzdem weiter zu funktionieren. Diese Aufgabe, wird man Roger Willemsen unterstellen dürfen, hat er seinen Lesern mit auf den Weg gegeben.
HANNES HINTERMEIER
Roger Willemsen: "Wer wir waren". Zukunftsrede.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 60 S., geb., 12.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.01.2017Wenn der eine Bildschirm nicht mehr reicht
In seinem letzten Buch wollte Roger Willemsen seine Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft betrachten – „Wer wir waren“
Von nahezu allem kann der Mensch der Gegenwart Auskunft geben, nur sich selbst kennt er wenig und gerade das Entscheidende nicht. Die Gegenwart weiß nicht, wo ihr Witz ist. Diesem wollte der Literaturwissenschaftler, Journalist und findige Autor Roger Willemsen nachspüren, indem er aus der Perspektive der Zukunft über das Heute und unsere Versäumnisse in ihm schrieb. „Wer wir waren“ sollte das Buch heißen, an dem er 2015 arbeitete, bis ihn die Krebsdiagnose traf. Am 7. Februar 2016 starb er, einer der neugierigsten, umtriebigsten Intellektuellen seiner Generation.
Das Buch ist nicht geschrieben worden; seine Gedanken, Intentionen und Motive erprobte Roger Willemsen in einer „Zukunftsrede“, die er 2015 zweimal hielt. Deren Text hat die Literaturkritikerin Insa Wilke nun aus dem Nachlass herausgegeben: einen suggestiven, klugen Versuch zur Rettung der Geistesgegenwart.
Dabei scheinen Willemsen Geist wie Gegenwart nicht selbstverständlich zu sein, gleichen wir doch „Geiseln der organisierten Abwesenheit“: „Sie sind alle nicht da, abgestoßen vom Hier, auf der Flucht, im Zwischenreich, auf dem Wege, zerstäubt, in einem dezentrierten Leben, das sich darunter oft phlegmatisch höhlt.“ Ist das neu? Gab es das nicht bereits, den Menschen, „der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau“? Auch die Verlockungen des Virtuellen, der Bildschirme, gibt es ja schon länger, wie Willemsen wusste, der Nachdenklichkeit im TV erfolgreich erprobt hat. Neu erschien ihm „eher jener Typus des ,Second-Screen-Menschen‘, dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildgeleiteten Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar“.
Ja, diese „Zukunftsrede“ führt immer wieder in eine kulturkritische Litanei. Aber diese langweilt nicht und nervt nicht. Die Standardargumente gegen Kulturkritik sind ja inzwischen so leicht zur Hand, dass man misstrauisch wird angesichts der energischen Abwehr allen Spielverderbertums. Willemsen nutzt sie als rhetorische Sprungbretter. Wenn immer schon alles schlechter wurde, immer Krise war, Erwartungen regelmäßig enttäuscht wurden, Bilder des Unheils unsere Vorstellungskraft kontaminierten, wie wären dann unsere Bilder der Zukunft zu erklären? Willemsen stellt verschiedene nebeneinander, die Niedergangsprognosen, die Verheißungen von Frische, erschwindelte Versprechen, verkitschte Sehnsüchte, grassierende Erwartungslosigkeit.
Es wird schon alles so bleiben, wie es ist, nur schneller wird es werden. Rasanz und Flüchtigkeit bestimmen für Willemsen unser Gegenwartsverhältnis. Dieses will er analysieren, ohne Technologie zu verdammen oder in den Ton eines Erweckungspredigers zu fallen. Man liest diesen kulturkritischen Abriss der Gegenwart gern, weil er von intellektueller Neugier, wirklichem Erkenntnisinteresse statt Bescheidwissertum getragen ist. Was heißt Bewusstsein, wie entsteht ein Ich, was meint Gegenwart unter digitalisierten Verhältnissen? Roger Willemsen hat in dieser „Zukunftsrede“ formuliert, was geistesgegenwärtige Kulturkritik zu leisten hätte.
JENS BISKY
Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 64 Seiten, 12 Euro. E-Book 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem letzten Buch wollte Roger Willemsen seine Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft betrachten – „Wer wir waren“
Von nahezu allem kann der Mensch der Gegenwart Auskunft geben, nur sich selbst kennt er wenig und gerade das Entscheidende nicht. Die Gegenwart weiß nicht, wo ihr Witz ist. Diesem wollte der Literaturwissenschaftler, Journalist und findige Autor Roger Willemsen nachspüren, indem er aus der Perspektive der Zukunft über das Heute und unsere Versäumnisse in ihm schrieb. „Wer wir waren“ sollte das Buch heißen, an dem er 2015 arbeitete, bis ihn die Krebsdiagnose traf. Am 7. Februar 2016 starb er, einer der neugierigsten, umtriebigsten Intellektuellen seiner Generation.
Das Buch ist nicht geschrieben worden; seine Gedanken, Intentionen und Motive erprobte Roger Willemsen in einer „Zukunftsrede“, die er 2015 zweimal hielt. Deren Text hat die Literaturkritikerin Insa Wilke nun aus dem Nachlass herausgegeben: einen suggestiven, klugen Versuch zur Rettung der Geistesgegenwart.
Dabei scheinen Willemsen Geist wie Gegenwart nicht selbstverständlich zu sein, gleichen wir doch „Geiseln der organisierten Abwesenheit“: „Sie sind alle nicht da, abgestoßen vom Hier, auf der Flucht, im Zwischenreich, auf dem Wege, zerstäubt, in einem dezentrierten Leben, das sich darunter oft phlegmatisch höhlt.“ Ist das neu? Gab es das nicht bereits, den Menschen, „der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau“? Auch die Verlockungen des Virtuellen, der Bildschirme, gibt es ja schon länger, wie Willemsen wusste, der Nachdenklichkeit im TV erfolgreich erprobt hat. Neu erschien ihm „eher jener Typus des ,Second-Screen-Menschen‘, dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildgeleiteten Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar“.
Ja, diese „Zukunftsrede“ führt immer wieder in eine kulturkritische Litanei. Aber diese langweilt nicht und nervt nicht. Die Standardargumente gegen Kulturkritik sind ja inzwischen so leicht zur Hand, dass man misstrauisch wird angesichts der energischen Abwehr allen Spielverderbertums. Willemsen nutzt sie als rhetorische Sprungbretter. Wenn immer schon alles schlechter wurde, immer Krise war, Erwartungen regelmäßig enttäuscht wurden, Bilder des Unheils unsere Vorstellungskraft kontaminierten, wie wären dann unsere Bilder der Zukunft zu erklären? Willemsen stellt verschiedene nebeneinander, die Niedergangsprognosen, die Verheißungen von Frische, erschwindelte Versprechen, verkitschte Sehnsüchte, grassierende Erwartungslosigkeit.
Es wird schon alles so bleiben, wie es ist, nur schneller wird es werden. Rasanz und Flüchtigkeit bestimmen für Willemsen unser Gegenwartsverhältnis. Dieses will er analysieren, ohne Technologie zu verdammen oder in den Ton eines Erweckungspredigers zu fallen. Man liest diesen kulturkritischen Abriss der Gegenwart gern, weil er von intellektueller Neugier, wirklichem Erkenntnisinteresse statt Bescheidwissertum getragen ist. Was heißt Bewusstsein, wie entsteht ein Ich, was meint Gegenwart unter digitalisierten Verhältnissen? Roger Willemsen hat in dieser „Zukunftsrede“ formuliert, was geistesgegenwärtige Kulturkritik zu leisten hätte.
JENS BISKY
Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 64 Seiten, 12 Euro. E-Book 9,99 Euro.
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Es sind Fragen, um die uns »kein Navigationssystem herum manövriert«, die Willemsen hier aufwirft. Es ist ein Glück, dass er sie uns hinterlassen hat. Katja Kraft Münchner Merkur 20161123