Ein Ort in der französischen Provinz in den 1990er-Jahren: Die Eltern, gezeichnet von harter Arbeit, verfallen den Versprechungen der Nationalisten. Die Kinder, voller Lebenswut, wachsen inmitten von Gewalt und Hoffnungslosigkeit auf. Über vier Sommer begleiten wir Anthony, Stéph, Hacine und ihre Freunde zwischen Nirvana und der Fußball-WM 1998 - in eine Welt, in der ihnen nichts geschenkt wird und an der sie dennoch hängen. Doch jetzt im Sommer herrscht Aufbruchstimmung, alle haben viel zu viel Zeit und am See mit Badekleidung verwischen die Standesunterschiede. Alles scheint möglich - zumindest für eine kurze Zeit.Ungekürzte Lesung mit Barnaby Metschurat2 mp3-CDs ca. 13 h 30 min
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.07.2019Wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut
Literarische Grundlagenforschung zur Frage, wie das alles kam mit dem Rechtspopulismus und der
Trübsal der Abgehängten in Europa: Nicolas Mathieus Neunziger-Jahre-Roman „Wie später ihre Kinder“
VON ALEX RÜHLE
Ein großes Gesellschaftsporträt. Ein Roman, der vom Rand der Gesellschaft aus ins Zentrum unserer politischen Krise zielt: Wie kann es sein, dass die Rechtspopulisten mitten in Europa so erfolgreich sind? Dass so viele das Gefühl haben, abgehängt zu sein? Na, schaut euch die fiktive Kleinstadt Heillange an, da wurde in den Neunzigern die Grundlage für das aktuelle Desaster gelegt.
Gleichzeitig ist „Wie später ihre Kinder“ kein politischer Roman, der seinen Figuren sozialpolitische Thesen überwerfen würde wie Mäntel, die ihnen zu groß sind. Nicolas Mathieu bleibt dicht an seinen jugendlichen Figuren, Hacine, Steph und Anthony, vier brütend heiße Sommer lang, 1992, ’94, ’96, am Ende läuft alles auf das WM-Finale ’98 zu, das kurze euphorische Zwischenhoch im großen Niedergang. Moderatoren reden ab dem gewonnenen Viertelfinale gegen Italien enthusiastisch vom neuen Zusammenhalt, plötzlich flackert ein „Wir“ auf, aber am nächsten Morgen ist dann doch nur der Plastikmüll übrig.
Anthony ist 14. „Nachmittags konnte er ein ganzes Baguette mit La Vache qui rit verdrücken.“ Sein Körper ist eine hormonelle Überdruckkammer, auf der anderen Seite des Sees soll es einen FKK-Strand geben, er muss da hin und klaut mit seinem Cousin ein Kanu. Als sie drüben ankommen, stimmt das mit FKK zwar nicht, aber immerhin finden sie zwei Mädchen, Steph und Clem, grazil, mit Pferdeschwanz, irgendwie sehr viel cooler als die beiden tumben, notgeilen Jungs. Pierre Bourdieus feine Unterschiede, aber nicht im Zentrum von Paris, sondern an einem namenlosen Baggersee. Anthony spürt diese Unterschiede, ohne sie benennen zu können, mehr wie einen Duft, den er nicht kennt, die Souveränität der Mädchen, ihre Bewegungen, die Kleidung, „er hätte es nicht in Worte fassen können, aber es hinterließ bei ihm einen eigenartigen Eindruck von Schuld, Unzulänglichkeit, Schäbigkeit“.
Am selben Abend gibt es eine Party. Anthony und sein Cousin nehmen heimlich das Moped von Anthonys Vater, einem cholerischen Alkoholiker, am Ende der Party ist es weg, geklaut von Hacine, dem Sohn eines Marokkaners. Die Begegnung mit Steph wird ein jahrelanges vergebliches Begehren zur Folge haben. Und der Mofaklau wird eine Feindschaft in Gang setzen, durch die eine Ehe endgültig zerstört wird, Gewalt, Gefängnis, Selbstmord, Hacine wird nach Marokko gehen müssen. Ganz am Ende aber ist es wie bei Monopoly, alle wieder auf Los, bloß leider ohne Geld.
Anthony, Steph und Hacine. Vier Sommer. Sechs Jahre. 442 großformatige Seiten. Man muss beim Lesen Geduld mitbringen, der Autor Nicolas Mathieu lässt die stumpfe Kleinstadtlangeweile schon erst mal wirken. Das ganze Tal liegt dumpf da wie ein ausgeweidetes Tier. Jeder kennt jeden, Heillange wirkt wie eine gebaute Lebenssackgasse, die Nachmittage am Autoscooter, der Alltag wie ein Monoprixparkplatz, monoton, grau und leer, über den Wildwuchs der Kindheit hat sich der Teer einer linkischen Coolness gelegt.
Aber während man beim Lesen noch denkt, jetzt mach mal hin, setzt sich das Ganze in Bewegung, wie ein schwerer Zug, der langsam Fahrt aufnimmt um dann aber quer durchs ganze Land und ein Jahrzehnt zu fahren, diese paar Monate, das sind die neunziger Jahre, dieses öde Kaff, das ist Frankreich, und jeder Franzose wird bei Heillange, dem fiktiven Namen der Kleinstadt, das echte Hayange in der Nähe der deutsch-luxemburgischen Grenze mitdenken, eine der ersten Städte, in denen es der Front National geschafft hat, das Bürgermeisteramt zu erobern.
Anthony, Steph und Hacine werden groß in einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die Anekdoten der Eltern sind ähnlich rostig wie die Stahlfabrik, die früher allen Arbeit gab und jetzt wie ein Dinosaurierskelett über dem Tal thront. Anthonys Vater Patrick hat hier am Ofen gearbeitet, genauso wie Hacines Vater, ein Marokkaner. In den Sechzigern wurde er gebraucht, seit Schließung der Fabrik aber versteckt er sich in seiner Wohnung, ein alternder Fremdkörper, der hier nie ankam, für den die Heimat aber auch nur noch namenloses „Drüben“ ist.
Patrick war nach der Schließung der Stahlfabrik Gabelstaplerfahrer, heute steht er Schlange bei den Zeitarbeitsfirmen, wenn er Glück hat, darf er Getränkeautomaten auffüllen, aber er hasst die lächerliche Firmenkleidung, „das T-Shirt und die Jacke von Districan, das ging ja noch. Aber diese schlecht sitzende Mütze im Corporate Design, rot und angeblich verstellbar, da hörte es für ihn auf.“ Er führt Krieg gegen diese Mütze, stellvertretend für seinen Frust über eine Zeit, in der sie ihm beim Arbeitsamt mit Begriffen wie Soft Skills und Kundenzufriedenheit kommen – und in der die Sozialdemokraten ihre Stammwählerschaft verloren, weil sie anfingen, die quecksilbrige Atomisierung der Dienstleistungsgesellschaft nicht als soziale Katastrophe sondern als Zeitalter der Ich-AG zu verbrämen.
Anthony sieht die mickrige Hoffnungslosigkeit seiner Familie, „sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal und alles andere kam sowieso nicht infrage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut.“
Der Front National wird diese Wut bald schon melken wie giftige Milch, noch ist er Randerscheinung, noch hindert alle so etwas wie Resthöflichkeit daran, offen loszuhetzen, aber im Grunde denken die meisten längst, diese ganzen Araber sollten endlich wieder heimgehen, nehmen doch nur all unsere Jobs weg.
Die Gemeinderäte glauben sich zumindest anfangs noch selbst die Mär vom baldigen neuen Wohlstand durch Tourismus, es gibt schließlich schöne Wanderwege in der Gegend, also wird der Campingplatz instandgesetzt und wenn erst das Museum für Eisen und Stahl fertig sein wird... Aber wie nennt man eine „Krise“, wenn sie nicht vorbeigeht? Schicksal?
Der Soundtrack zu diesem Panorama kommt anfangs von Nirvana, deren Songs sich 1992 ausbreiten „wie ein Virus, überall da, wo es schlaksige Jungprolls gab, verkorkste Kids, Krisenverlierer. Sie ließen sich die Haare wachsen, und versuchten, Melancholie in Wut zu verwandeln, Depression in Dezibel. Das Paradies war endgültig verloren, die Revolution würde nicht kommen. Ihnen blieb nur der Lärm.“
In solchen Passagen fragt man sich, wer da gerade spricht. Mathieu ist meist sehr nah an diesen Jugendlichen, die selbst eigentlich nie hinauskommen über stumpfe Verstehensanfänge. Anthony kann mit dem Wort „Paris“ rein gar nichts anfangen, so etwas wie „Revolution“ würde ihm nicht mal in den Sinn kommen, woher also diese musiksoziologischen Assoziationen?
Andererseits ist dieser Zoom aus den trüben Gedanken eines halbstarken Langweilers hoch nach oben, in die Vogelperspektive seines Autors, gerade die Stärke und der Trick dieses Buchs. Man kennt das zur Genüge aus den Great American Novels. Harry Angstrom, die Hauptfigur in John Updikes Rabbit-Tetralogie, ist im Grunde auch blind für sein eigenes Schicksal und dennoch werden hinter seinem Rücken letztgültige Sätze über den leeren Alltag der Mittelklasse im Zeitalter des Konsumismus formuliert. Wobei zu Mathieu eher die Romane von Larry Brown passen, Amerika ganz unten, der tägliche, verbissene Kampf, nicht in völlige Armut abzurutschen. Brown hat mal auf den Vorwurf, seine Bücher seien brutal, gesagt: „Schon okay, wenn Sie das brutal nennen, solange Sie nur zugeben, dass es ehrlich ist.“
Nicolas Mathieu bekam für diesen Roman 2018 den Prix Goncourt. Zum einen, weil er damit so was wie literarische Grundlagenforschung zum Aufstieg des Brutalopopulismus betreibt. Zum anderen, weil er dank seiner Beschreibungsgenauigkeit ein ganzes Jahrzehnt auferstehen lässt, von der Musik und dem Slang über die ekle Wirtschaftsrhetorik und das Technokratengewäsch bis hin zu Einkaufsketten, Marken, Drogenvertriebswegen.
Die beiden Übersetzer Lena Müller und André Hansen haben das enorm gut im Deutschen wiedergeben, nur im Jugendslang fragt man sich zuweilen, ob sie sich nicht doch um ein, zwei Jahrzehnte vergriffen haben. War 1994 tatsächlich schon irgendwer „aggro“? Und „krass“? Hat man einander schon „Alter“ genannt?
Der Titel „Wie später Ihre Kinder“ stammt aus einem vorangestellten Zitat von Jesus Sirach, einem der apokryphen Texte des Alten Testaments: „An andere aber denkt niemand mehr; es ist, als hätten sie nie gelebt. Sie sind gestorben und vergessen, genauso wie später ihre Kinder.“ Nicolas Mathieu ist somit auch ein Seelenverwandter von Edouard Louis und Didier Eribon. Wie sie will er eine Welt zeigen, die normalerweise meist ausgeblendet wird. Wie sie stammt er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen, aus Épinal, einer Kleinstadt in Lothringen, und wuchs in den leer geräumten Kulissen des einstigen Wirtschaftswunders auf. Wie sie kennt er die brutalen Auswahlmechanismen des französischen Schulsystems, das immer noch an der Fiktion von der republikanischen Gleichheit festhält, obwohl die eigene Zukunft schon klar ist, wenn man in den Kindergarten kommt.
Das Einzige, was die Jugendlichen in seinem Roman eint, ist der Wunsch, aus Heillange rauszukommen. Am Ende aber wird nur Steph den Absprung schaffen, erst in eine Pariser Kaderschmiede, ab da liegt das Leben vor ihr wie die Great Plains, ein schillerndes Versprechen, Optionenbingo, Paris, Kanada, mal sehen. Anthony und Hacim bleiben, jeder für sich, jeder nach seinem eigenen missglückten Ausbruchsversuch, zurück in Heillange. Was ihnen bleibt, ist, wie es im letzten Satz heißt, „die sanfte Beklemmung dazuzugehören.“
Am Ende ist es wie bei Monopoly,
alle wieder auf Los,
bloß leider ohne Geld.
Hilferuf aus der Provinz: Hayange, Kleinstadt in Lothringen und Vorbild für das krisengebeutelte Heillange in Nicolas Mathieus Roman.
Foto: AFP
Nicolas Mathieu:
Wie später ihre Kinder.
Roman. Aus dem
Französischen von
Lena Müller und
André Hansen.
Hanser Berlin,
München 2019.
445 Seiten, 24 Euro.
Der Schriftsteller Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren. 2018 bekam er den Prix Goncourt.
Foto: Joel Saget/AFP
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Literarische Grundlagenforschung zur Frage, wie das alles kam mit dem Rechtspopulismus und der
Trübsal der Abgehängten in Europa: Nicolas Mathieus Neunziger-Jahre-Roman „Wie später ihre Kinder“
VON ALEX RÜHLE
Ein großes Gesellschaftsporträt. Ein Roman, der vom Rand der Gesellschaft aus ins Zentrum unserer politischen Krise zielt: Wie kann es sein, dass die Rechtspopulisten mitten in Europa so erfolgreich sind? Dass so viele das Gefühl haben, abgehängt zu sein? Na, schaut euch die fiktive Kleinstadt Heillange an, da wurde in den Neunzigern die Grundlage für das aktuelle Desaster gelegt.
Gleichzeitig ist „Wie später ihre Kinder“ kein politischer Roman, der seinen Figuren sozialpolitische Thesen überwerfen würde wie Mäntel, die ihnen zu groß sind. Nicolas Mathieu bleibt dicht an seinen jugendlichen Figuren, Hacine, Steph und Anthony, vier brütend heiße Sommer lang, 1992, ’94, ’96, am Ende läuft alles auf das WM-Finale ’98 zu, das kurze euphorische Zwischenhoch im großen Niedergang. Moderatoren reden ab dem gewonnenen Viertelfinale gegen Italien enthusiastisch vom neuen Zusammenhalt, plötzlich flackert ein „Wir“ auf, aber am nächsten Morgen ist dann doch nur der Plastikmüll übrig.
Anthony ist 14. „Nachmittags konnte er ein ganzes Baguette mit La Vache qui rit verdrücken.“ Sein Körper ist eine hormonelle Überdruckkammer, auf der anderen Seite des Sees soll es einen FKK-Strand geben, er muss da hin und klaut mit seinem Cousin ein Kanu. Als sie drüben ankommen, stimmt das mit FKK zwar nicht, aber immerhin finden sie zwei Mädchen, Steph und Clem, grazil, mit Pferdeschwanz, irgendwie sehr viel cooler als die beiden tumben, notgeilen Jungs. Pierre Bourdieus feine Unterschiede, aber nicht im Zentrum von Paris, sondern an einem namenlosen Baggersee. Anthony spürt diese Unterschiede, ohne sie benennen zu können, mehr wie einen Duft, den er nicht kennt, die Souveränität der Mädchen, ihre Bewegungen, die Kleidung, „er hätte es nicht in Worte fassen können, aber es hinterließ bei ihm einen eigenartigen Eindruck von Schuld, Unzulänglichkeit, Schäbigkeit“.
Am selben Abend gibt es eine Party. Anthony und sein Cousin nehmen heimlich das Moped von Anthonys Vater, einem cholerischen Alkoholiker, am Ende der Party ist es weg, geklaut von Hacine, dem Sohn eines Marokkaners. Die Begegnung mit Steph wird ein jahrelanges vergebliches Begehren zur Folge haben. Und der Mofaklau wird eine Feindschaft in Gang setzen, durch die eine Ehe endgültig zerstört wird, Gewalt, Gefängnis, Selbstmord, Hacine wird nach Marokko gehen müssen. Ganz am Ende aber ist es wie bei Monopoly, alle wieder auf Los, bloß leider ohne Geld.
Anthony, Steph und Hacine. Vier Sommer. Sechs Jahre. 442 großformatige Seiten. Man muss beim Lesen Geduld mitbringen, der Autor Nicolas Mathieu lässt die stumpfe Kleinstadtlangeweile schon erst mal wirken. Das ganze Tal liegt dumpf da wie ein ausgeweidetes Tier. Jeder kennt jeden, Heillange wirkt wie eine gebaute Lebenssackgasse, die Nachmittage am Autoscooter, der Alltag wie ein Monoprixparkplatz, monoton, grau und leer, über den Wildwuchs der Kindheit hat sich der Teer einer linkischen Coolness gelegt.
Aber während man beim Lesen noch denkt, jetzt mach mal hin, setzt sich das Ganze in Bewegung, wie ein schwerer Zug, der langsam Fahrt aufnimmt um dann aber quer durchs ganze Land und ein Jahrzehnt zu fahren, diese paar Monate, das sind die neunziger Jahre, dieses öde Kaff, das ist Frankreich, und jeder Franzose wird bei Heillange, dem fiktiven Namen der Kleinstadt, das echte Hayange in der Nähe der deutsch-luxemburgischen Grenze mitdenken, eine der ersten Städte, in denen es der Front National geschafft hat, das Bürgermeisteramt zu erobern.
Anthony, Steph und Hacine werden groß in einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die Anekdoten der Eltern sind ähnlich rostig wie die Stahlfabrik, die früher allen Arbeit gab und jetzt wie ein Dinosaurierskelett über dem Tal thront. Anthonys Vater Patrick hat hier am Ofen gearbeitet, genauso wie Hacines Vater, ein Marokkaner. In den Sechzigern wurde er gebraucht, seit Schließung der Fabrik aber versteckt er sich in seiner Wohnung, ein alternder Fremdkörper, der hier nie ankam, für den die Heimat aber auch nur noch namenloses „Drüben“ ist.
Patrick war nach der Schließung der Stahlfabrik Gabelstaplerfahrer, heute steht er Schlange bei den Zeitarbeitsfirmen, wenn er Glück hat, darf er Getränkeautomaten auffüllen, aber er hasst die lächerliche Firmenkleidung, „das T-Shirt und die Jacke von Districan, das ging ja noch. Aber diese schlecht sitzende Mütze im Corporate Design, rot und angeblich verstellbar, da hörte es für ihn auf.“ Er führt Krieg gegen diese Mütze, stellvertretend für seinen Frust über eine Zeit, in der sie ihm beim Arbeitsamt mit Begriffen wie Soft Skills und Kundenzufriedenheit kommen – und in der die Sozialdemokraten ihre Stammwählerschaft verloren, weil sie anfingen, die quecksilbrige Atomisierung der Dienstleistungsgesellschaft nicht als soziale Katastrophe sondern als Zeitalter der Ich-AG zu verbrämen.
Anthony sieht die mickrige Hoffnungslosigkeit seiner Familie, „sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal und alles andere kam sowieso nicht infrage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut.“
Der Front National wird diese Wut bald schon melken wie giftige Milch, noch ist er Randerscheinung, noch hindert alle so etwas wie Resthöflichkeit daran, offen loszuhetzen, aber im Grunde denken die meisten längst, diese ganzen Araber sollten endlich wieder heimgehen, nehmen doch nur all unsere Jobs weg.
Die Gemeinderäte glauben sich zumindest anfangs noch selbst die Mär vom baldigen neuen Wohlstand durch Tourismus, es gibt schließlich schöne Wanderwege in der Gegend, also wird der Campingplatz instandgesetzt und wenn erst das Museum für Eisen und Stahl fertig sein wird... Aber wie nennt man eine „Krise“, wenn sie nicht vorbeigeht? Schicksal?
Der Soundtrack zu diesem Panorama kommt anfangs von Nirvana, deren Songs sich 1992 ausbreiten „wie ein Virus, überall da, wo es schlaksige Jungprolls gab, verkorkste Kids, Krisenverlierer. Sie ließen sich die Haare wachsen, und versuchten, Melancholie in Wut zu verwandeln, Depression in Dezibel. Das Paradies war endgültig verloren, die Revolution würde nicht kommen. Ihnen blieb nur der Lärm.“
In solchen Passagen fragt man sich, wer da gerade spricht. Mathieu ist meist sehr nah an diesen Jugendlichen, die selbst eigentlich nie hinauskommen über stumpfe Verstehensanfänge. Anthony kann mit dem Wort „Paris“ rein gar nichts anfangen, so etwas wie „Revolution“ würde ihm nicht mal in den Sinn kommen, woher also diese musiksoziologischen Assoziationen?
Andererseits ist dieser Zoom aus den trüben Gedanken eines halbstarken Langweilers hoch nach oben, in die Vogelperspektive seines Autors, gerade die Stärke und der Trick dieses Buchs. Man kennt das zur Genüge aus den Great American Novels. Harry Angstrom, die Hauptfigur in John Updikes Rabbit-Tetralogie, ist im Grunde auch blind für sein eigenes Schicksal und dennoch werden hinter seinem Rücken letztgültige Sätze über den leeren Alltag der Mittelklasse im Zeitalter des Konsumismus formuliert. Wobei zu Mathieu eher die Romane von Larry Brown passen, Amerika ganz unten, der tägliche, verbissene Kampf, nicht in völlige Armut abzurutschen. Brown hat mal auf den Vorwurf, seine Bücher seien brutal, gesagt: „Schon okay, wenn Sie das brutal nennen, solange Sie nur zugeben, dass es ehrlich ist.“
Nicolas Mathieu bekam für diesen Roman 2018 den Prix Goncourt. Zum einen, weil er damit so was wie literarische Grundlagenforschung zum Aufstieg des Brutalopopulismus betreibt. Zum anderen, weil er dank seiner Beschreibungsgenauigkeit ein ganzes Jahrzehnt auferstehen lässt, von der Musik und dem Slang über die ekle Wirtschaftsrhetorik und das Technokratengewäsch bis hin zu Einkaufsketten, Marken, Drogenvertriebswegen.
Die beiden Übersetzer Lena Müller und André Hansen haben das enorm gut im Deutschen wiedergeben, nur im Jugendslang fragt man sich zuweilen, ob sie sich nicht doch um ein, zwei Jahrzehnte vergriffen haben. War 1994 tatsächlich schon irgendwer „aggro“? Und „krass“? Hat man einander schon „Alter“ genannt?
Der Titel „Wie später Ihre Kinder“ stammt aus einem vorangestellten Zitat von Jesus Sirach, einem der apokryphen Texte des Alten Testaments: „An andere aber denkt niemand mehr; es ist, als hätten sie nie gelebt. Sie sind gestorben und vergessen, genauso wie später ihre Kinder.“ Nicolas Mathieu ist somit auch ein Seelenverwandter von Edouard Louis und Didier Eribon. Wie sie will er eine Welt zeigen, die normalerweise meist ausgeblendet wird. Wie sie stammt er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen, aus Épinal, einer Kleinstadt in Lothringen, und wuchs in den leer geräumten Kulissen des einstigen Wirtschaftswunders auf. Wie sie kennt er die brutalen Auswahlmechanismen des französischen Schulsystems, das immer noch an der Fiktion von der republikanischen Gleichheit festhält, obwohl die eigene Zukunft schon klar ist, wenn man in den Kindergarten kommt.
Das Einzige, was die Jugendlichen in seinem Roman eint, ist der Wunsch, aus Heillange rauszukommen. Am Ende aber wird nur Steph den Absprung schaffen, erst in eine Pariser Kaderschmiede, ab da liegt das Leben vor ihr wie die Great Plains, ein schillerndes Versprechen, Optionenbingo, Paris, Kanada, mal sehen. Anthony und Hacim bleiben, jeder für sich, jeder nach seinem eigenen missglückten Ausbruchsversuch, zurück in Heillange. Was ihnen bleibt, ist, wie es im letzten Satz heißt, „die sanfte Beklemmung dazuzugehören.“
Am Ende ist es wie bei Monopoly,
alle wieder auf Los,
bloß leider ohne Geld.
Hilferuf aus der Provinz: Hayange, Kleinstadt in Lothringen und Vorbild für das krisengebeutelte Heillange in Nicolas Mathieus Roman.
Foto: AFP
Nicolas Mathieu:
Wie später ihre Kinder.
Roman. Aus dem
Französischen von
Lena Müller und
André Hansen.
Hanser Berlin,
München 2019.
445 Seiten, 24 Euro.
Der Schriftsteller Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren. 2018 bekam er den Prix Goncourt.
Foto: Joel Saget/AFP
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»Der Hintergrund ist düster, aber der Roman ist es nicht. Er ist getragen von der Energie der Jugendlichen, die er darstellt, vom Licht des Sommers, elektrisiert durch sexuelles Begehren und die Lebenswut seiner Protagonisten.« Télérama »Nicolas Mathieu ist ein Stilist, der der Fiktion eine unglaubliche Kraft verleiht. Ein großartiger, vielstimmiger Roman.« L'Express
»Nicolas Mathieu schreibt Sätze, die wie Fallbeile niedergehen auf ein Land, dem er den Spiegel vorhält.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung