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"Wiener Straße" beginnt im November 1980 an dem Tag, an dem Frank Lehmann mit der rebellischen Berufsnichte Chrissie sowie den beiden Extremkünstlern Karl Schmidt und H. R. Ledigt in eine Wohnung über dem Café Einfall verpflanzt wird, um Erwin Kächeles Familienplanung nicht länger im Weg zu stehen. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam, ein ehemaliger Intimfriseurladen, eine Kettensäge, ein Kontaktbereichsbeamter, eine Kreuzberger Kunstaustellung, der Kampf um die Einkommensoptionen Putzjob und Kuchenverkauf, der Besuch einer Mutter und ein Schwangerschaftssimulator setzen eine…mehr

Produktbeschreibung
"Wiener Straße" beginnt im November 1980 an dem Tag, an dem Frank Lehmann mit der rebellischen Berufsnichte Chrissie sowie den beiden Extremkünstlern Karl Schmidt und H. R. Ledigt in eine Wohnung über dem Café Einfall verpflanzt wird, um Erwin Kächeles Familienplanung nicht länger im Weg zu stehen. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam, ein ehemaliger Intimfriseurladen, eine Kettensäge, ein Kontaktbereichsbeamter, eine Kreuzberger Kunstaustellung, der Kampf um die Einkommensoptionen Putzjob und Kuchenverkauf, der Besuch einer Mutter und ein Schwangerschaftssimulator setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle ins Verderben reißen.
Außer einen!
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Autorenporträt
Sven Regener ist Musiker (Element of Crime) und Autor von: Herr Lehmann (2001), Neue Vahr Süd (2004), Der kleine Bruder (2009), Meine Jahre mit Hamburg-Heiner (2011), Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013), Wiener Straße (2017) und Glitterschnitter (2021). Seine Bücher sind allesamt als ungekürzte Autorenlesungen bei tacheles! erschienen.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

"Wiener Straße" schließt unmittelbar an "Der kleine Bruder", den dritten Teil der Lehmann-Trilogie, an. Für die Fans des Frank Lehmann jedoch vorab: Er ist nicht der Protagonist in Regeners neuem Roman - aber immerhin einer der Hauptakteure. Lehmann schrubbt Toiletten, verprügelt Kunden im Café "Einfall" und hat hier und da erneut Momente der tiefen Selbstreflexion. Im Mittelpunkt des Buches steht jedoch Erwin Kächele, Besitzer des Cafés und gerade mit seiner Familienplanung beschäftigt: Freundin Helga ist schwanger und Erwin fiebert mit. Dabei hilft ihm der Schwangerschaftssimulator. Diesen "Mitfühlbauch" trägt er - mal mehr, mal weniger stolz - an seiner eigenen Wampe und gerät damit in ebenso absurde wie skurrile Situationen. Erwins Viertel ist Berlin-Kreuzberg, Anfang der 80er-Jahre. Hier begegnen sich Axt-schwingende Freaks, Punks, Künstler der vertrauten ArschArt-Galerie, Hausbesetzer und ein konflikterprobter ZDF-Moderator. Auch berühren sich Ost und West auf vielfältige Weise. Wie immer bei Regener, der in diesem Jahr zum ersten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, darf man urkomische ebenso wie überraschend nachdenkliche Passagen genießen.

© BÜCHERmagazin, Anna Gielas
Sar’ ick ma

Ein Heimatroman
aus dem alten Kreuzberg:
Sven Regeners „Wiener Straße“
lebt vom Sound der Szene

VON GUSTAV SEIBT

Das „Café Einfall“ öffnet eigentlich erst um 18 Uhr. Aber am Morgen muss es durchgewischt werden, und die Klos brauchen auch eine summarische Reinigung. Also steht die Tür offen. Draußen liegt die Wiener Straße, hinterm Görli, dem heute so beliebten Drogenbrennpunkt. Doch wir sind im November 1980, da warnt der Kontaktpolizist zwar schon vor Junkies – Drogen in der Kneipe, das wäre ein Grund, sie zu schließen, nehmt also besser Kaffeelöffel mit kleinem Loch, damit niemand auf falsche Gedanken kommt. Aber noch ist man weit entfernt vom mafiagesteuerten Großhandel, der heute die Szene beherrscht.

Eher bräuchte man einen Kaffee am Morgen, darum fragt alle paar Minuten jemand in die geöffnete Tür des „Einfall“ hinein, ob schon offen ist. Nein, wir machen nur sauber. Geduldig muss dies immer wieder Frank Lehmann erklären, der Gute. Er wischt ganz gern, diese Tätigkeit ist stressarm und betrachtsam. Natürlich kennen wir Herrn Lehmann längst, aber das ist gar nicht so wichtig.

Der Wirt, dem Lehmann Lohn gibt, Herr Kächele aus dem Schwabenland, hat eine Nichte namens Chrissie, die den vielen Anfragen die Marktlücke ablauscht: Wie wäre es mit einer Morgenöffnung des „Einfall“? Könnte man gar Kuchen zum Kaffee anbieten, zwei Mark das Stück? Bräuchte man dafür nicht eine zusätzliche Tresenkraft, die dann „Geld wie Heu“ machen könnte? Und wäre Chrissie nicht die berufene Person dafür? Dann könnte sie ihrem Onkel auch die Miete bezahlen, denn bei Erwin Kächele hat Chrissie ihr Zimmer.

So geschieht es in Sven Regeners jüngster Erzählung aus dem alten Kreuzberg, die noch einmal seine seit „Herr Lehmann“ (2001) bekannte Romanfamilie versammelt: Lehmann, Karl Schmidt, Kächele, den Chauffeur und Ossi Marko, Künstler wie H. R. Ledigt oder P. Immel, Leute, die Berlins liebenswürdige Schwäche für Wortspiele im Namen tragen. Und diese Erweiterung des Geschäftsmodells des Einfalls ist schon der erheblichste Handlungsstrang von „Wiener Straße“.

Auch die Schauplätze bleiben ganz bei sich: Links und rechts des „Einfalls“ liegen einerseits die „ArschArt Galerie“ und andererseits ein Intimfriseur, der aber auch eher in die Gastronomie tendiert. Die „ArschArt“ hat Größeres vor, sie will sich bei einer vom Bezirk geförderten Kunstausstellung mit Installation und Performance beteiligen (nächster Handlungsstrang). Außerdem simuliert sie das Rollenmuster „Besetztes Haus“ für einen ZDF-Journalisten, der mit SFB-Mitteln darüber eine Reportage dreht, die genau da schwebt, wo seinerzeit ganz Berlin und heute noch Sven Regeners Romane leben: an der Schwelle von Kunst und Leben. Man muss ein paar Punks anheuern für die Deko vom selbstbestimmten Leben in der Ruine, andererseits ein paar Mitarbeiter der Galerie in Bauklamotten werfen, wegen des Aspekts „Instandbesetzung“. Gut, dass der ZDF-Mann ein Österreicher ist wie der recht autoritäre Herr P. Immel, die haben bekanntlich viel Sinn für Aktionskunst. Der Dreh gelingt (dritter Handlungsstrang). Kurz nach ihrem Debüt haben es Regeners Romanfiguren 2003 sogar ins Kino geschafft.

Auch die Ausstellungseröffnung wird ein Erfolg. Der Wein aus den Schraubverschlussflaschen ist zu warm, aber das macht Lehmann als Verkäufer durch Charme wett (den klasse schwachen Berliner Witz „Ick koof bei Lehmann“ lassen wir mal). Auch ein Polizist, der eigentlich die Fällung eines Baums für die Installation (H.R. Ledigt fuchtelt gern mit einer Kettensäge herum) ahnden müsste, kann beruhigt werden. Ende gut, alles gut, auch weil Kächeles über die Zonengrenze angereiste Schwester die eher kläglichen Backversuche von Chrissie mit überlegener schwäbischer Apfelkuchenexpertise ausgleicht und die Morgenöffnung des „Einfalls“ zum Erfolg macht.

Ein Heimatroman also. Nichts Weltbewegendes, außer der alten Zeit, an die ältere Leser sich noch gern erinnern. Das alte West-Berlin! Das alte Kreuzberg! Mauernah und still vor sich hinwuselnd, unendlich gemächlich, noch gänzlich unsmart. Kann man sich kaum vorstellen heute, dieses Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, das Hoppen von Tresenjob zu Putzjob zu Taxi-Job, zu Kunst und Projekt, mit Staatsknete und Gemeineigentum von Bröckelimmobilien. Berliner Ökonomie, prä-neoliberal, dafür libertär. Konflikte gab’s am ehesten, wenn die Freundin schwanger wurde und die Männer zur Gymnastik mitmussten. Kächele läuft einen ganzen Tag mit einem Schwangerschaftsimulator um den Leib gebunden herum.

Heimatliteratur: Da spielt, was passiert, keine allzugroße Rolle. Man liebt die Menschen, aber vor allem, ihre Art zu reden. Eigentlich ist „Wiener Straße“ ein Soundtrack des endlosen Berliner Redens, des Zeitschindens mit Reden, des Sich-Beschnüffelns mit Gerede, des Redens, das wissen lässt: Noch der kleinste Handwerkertermin bleibt Verhandlungssache, und auch die Frau an der Kasse muss erst mal jarnüscht, und wenn die Schlange noch so lang ist. Sar’ick ma. – „Sar’ick ma“, das sagen die Leute hier ununterbrochen, aber hallo. Kommt ein Handwerker, um die Kaffeemaschine des „Einfalls“ zu reparieren – er kommt im vollen Bewusstsein seiner Unersetzlichkeit, wer kennt schon alte Kaffeemaschinen mit Dampf für Milchschaum und so? –, dann wird erst einmal ausgiebig geredet: „Dit is dit jute Stück, oda? Isset doch, oda?“„Aba hallo! Sieht man nicht mehr oft. Ist mindestens dreißig Jahre alt, jibtet eintlé jané mehr.“

Irgendwann werden die Leute aussterben, die noch wissen, dass das „Café Einfall“ in Wirklichkeit das „Madonna“ ist, dass die Wiener Straße erschreckend nah an der Mauer lag, dass ganz West-Berlin subventioniert war und in herrlicher Faulheit in den Tag hinein lebte.

Aber dann wird man immer noch mit Freude und Lust dem Gerede dieser Leute zuhören, dem Reden um des Redens willen. Das kennt die deutsche Literatur durchaus, wenn auch selten – man darf, dabei den Kopf tief in den Nacken legend, um nach oben zu schauen, an Autoren wie Wilhelm Raabe oder Eckhard Henscheid denken. Sven Regener ist ihr nicht unwürdiger kleiner Neffe.

Sven Regener
Foto: dpa

Bilder des untergegangenen West-Berlin: Leander Haußmanns Verfilmung von Sven Regeners Romandebüt „Herr Lehmann“.

Foto: Delphi Filmverleih

Sven Regener:
Wiener Straße.
Roman. Galiani
Verlag, Berlin 2017.
297 Seiten, 20 Euro.
E-Book 18,99 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2019

NEUE TASCHENBÜCHER
Die hohe Kunst
des Laberns
Wenn ein gewisser Karl Schmidt zehn Kisten mit ungewissem Inhalt vernagelt, ist das dann Kunst oder nur „Kunstmarktscheiß“, wie die Besucherin einer Kreuzberger Ausstellung urteilt? Am einfachsten ist es, wie der Künstler selbst bei der Bezeichnung „Wundertüte“ zu bleiben. Die passt auch gut auf Sven Regeners ganzen Roman „Wiener Straße“, der sich nicht nur variationsreich dem Thema Kunst beziehungsweise ihrer Simulation verschreibt – sondern auch, wieder einmal, der Rekonstruktion eines Westberliner Lebensgefühls, diesmal Anfang der Achtzigerjahre. Rund um allen Regener-Fans geläufige Figuren wie Frank Lehmann oder Wirt Erwin Kächele machen sich Aktionskünstler in scheinbesetzten Häusern wichtig, tapezieren einsame Ostdeutsche WGs mit Raufaser, und fast alle suchen irgendeinen Job, ohne wirklich arbeiten zu wollen. Statt dessen zelebrieren diese Typen ebenso wie ihr Schöpfer Regener – hier wieder einmal ein Meister des lakonischen bis irrwitzigen Dialogs – die Kunst des mehr und weniger gepflegten Gelabers. Die diesbezüglich wichtigste Frage des Romans lautet sowieso: Wo gibt’s das nächste Käffchen? ANTJE WEBER
Sven Regener: Wiener Straße. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 296 Seiten,
12 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2017

Kreuzberger Nächte sind Kunst
Der unendliche Roman: Sven Regener erzählt weiter von Herrn Lehmann

Die Lehmann-Trilogie geht vollends aus dem Leim, so langsam kommt man nun doch etwas durcheinander: Gehört das neue Buch überhaupt noch dazu, obwohl es gar keine Hauptfigur mehr gibt, und, wenn ja, an welche (handlungs-)chronologische Stelle? An die erste gehört "Neue Vahr Süd" (2004), an die zweite "Der kleine Bruder" (2008), dann kommt "Herr Lehmann" (2001), der die ganze Sache ins Rollen brachte, schließlich, mit einer aus den Kulissen sanft ins Rampenlicht gezogenen Titelfigur und handlungstechnisch weit in die Neunziger katapultiert, "Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt" (2013), das war der vierte Streich, mit dem schon keiner mehr gerechnet hatte.

Und der fünfte, "Wiener Straße", folgt jetzt, im Regener-typischen, bedächtigen Abstand von drei, vier Jahren, und nimmt die Mitte ein, indem er an ein paar Tagen im November 1980 spielt, natürlich wieder in Kreuzberg. Wie viele Berlin-Romane will Sven Regener eigentlich noch schreiben? Es wurde weiß Gott schon viel gesagt und geredet von und über Frank Lehmann, Karl Schmidt, Marko, Erwin Kächele, Chrissie, P. Immel, H. R. Ledigt und wie sie alle, zum Teil sehr witzigerweise, heißen. Aber das "Thema" ist noch nicht erschöpft, obwohl sich das Personal vom Café Einfall und der ArschArt-Galerie nicht wegbewegt.

Die Handlung setzt ein, als Erwin Kächele, Eigentümer des Café Einfall, sein Geschäftsmodell erweitern will, dabei aber seine Mieter loswerden muss, weil seine Frau schwanger ist. Frank Lehmann macht sich als Putzmann nützlich, es muss auch allerhand renoviert werden. Unterdessen ist der Rest der Bagage damit beschäftigt, die ArschArt-Galerie mit dreistem Dilettantismus als Kunstzentrum zu etablieren. Die dort herumlungernde Hausbesetzerszene ist nur Attrappe, wird aber in dem Moment selbst Kunst, in dem das ZDF mit einem Kamerateam anrückt. Nicht nur sorgfältig geplante Installationen und Performances gewinnen also Kunststatus, sondern auch alltägliche Gegenstände und Momente, die, eingefroren zu einem Bild, aus dem Fluss des Lebens herausgehoben sind.

Der Reiz dieser nun wieder auf engstem Raum spielenden Geschichte liegt in der Abwandlung des Bekannten. Regener, dieser Meister des auf kunstvolle Weise kunstlos wirkenden Dialogs, hat sein Erzählverfahren weiter verfeinert. Ohnehin dürfte sich die Frage, wie viele Teile noch folgen, mit der Lektüre erübrigt haben. Das weiß nur Regener, der drauf und dran ist, Gerhard Henschels unendlicher Geschichte um Martin Schlosser (F.A.Z. vom 29. April) etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen. Während aber der an Kempowski ausgerichtete Henschel auf einen einzigen, nun schon veritable ProustDimensionen annehmenden Generationen-, Familien- und vor allem Bildungsroman aus ist, der freilich auch nur langsam von der Stelle kommt, begnügt Regener sich mit mikroskopischen Charakter- und Milieustudien, in denen die Zeit zuweilen nahezu stillzustehen scheint.

Genauigkeit, nicht die szenische Raffung oder Auslassung, war deswegen von Anfang an oberstes Gebot für ihn. Der Lehmann-Kosmos ist voll mit Sprachlektionen, die dem nachsichtigen Leser pedantisch vorkommen mögen. Aber es steckt mehr dahinter, das merkt man in der "Wiener Straße" in der lustigen zweiten Szene, in der sich H. R. Ledigt, der von seinen Kumpels aus Versehen im Baumarkt zurückgelassen wurde, dort eine Grabgabel und eine Kettensäge kaufen will und dabei einen Verkäufer und eine Kassiererin in ein Gespräch verwickelt, das es an geradezu quälender Spitzfindigkeit mit Loriots Parkplatzsketch "Die Politesse" aufnehmen kann: "Bloß weil ich eine Kettensäge will, heißt das ja nicht, dass ich keine Grabgabel halten darf, da besteht doch überhaupt kein Zusammenhang, guter Mann!"

H. R. Ledigt, der Künstler, hat die Logik auf seiner Seite. Der Roman ist allerdings so komponiert, dass sich am hier nicht zu verratenden Ende auf so überraschende wie zwingende Weise ein semantischer Zusammenhang ergibt. Alles kreist nämlich um die Frage: Was ist Kunst? Es wäre ein Missverständnis zu sagen, es handele sich wieder um einen Berlin-Roman; dafür ist der gezeigte Ausschnitt zu klein. Ein gesellschaftliches Leben, das halbwegs repräsentativ wäre, gibt es hier nicht. Was ist aber denn nun Kunst? Die Antwort steht im Vorgänger-Roman über Karl Schmidt: Etwas ist Kunst, wenn einer sagt, dass es Kunst ist, und es mindestens einen gibt, der das auch glaubt. Dem Leser bleibt nichts anders übrig. Esse est percipi, wie Berkeley sagte, das gilt auch für die Kunst: Wahrgenommen zu werden ist die Gewähr für ihr Sein. Kunst, die niemand als solche betrachtet, gibt es nicht.

Man könnte annehmen, dass dieser reine Behauptungscharakter den Kunst-Begriff inflationiert und der Roman dadurch entweder an Überfrachtung oder an Beliebigkeit scheitert. Doch nicht erst die sorgfältig arrangierte Schlusskadenz, in der die scheinbar läppisch-slapstickhaften Handlungsfäden zusammenlaufen, gewinnt eine verblüffende Evidenz, so dass ein widerrechtlich (mit der Motorsäge!) gefällter Baum oder eine in einem Karton sorgsam verpackte Flasche Bier zu Kunst wird; auch der verbrannte Kuchen in der Glasvitrine des Café Einfall ist es oder kann es zumindest sein. Spätestens seit Beuys weiß man, dass es immer auf den Kontext und auf die Geste (die in der Behauptung liegt) ankommt. Wer sich mit Regener über Kunst unterhält, der weiß, dass er darüber ausgesprochen "inklusiv" denkt; Elitarismus und Dünkel sind ihm hier so fremd wie sonst auch. Im Verzicht auf handwerkliche Standards, der dem Glauben an den einen, unerklärlichen und auch im Dunkeln gelassenen Moment der Erleuchtung Raum bietet, liegt etwas prinzipiell Anarchisches, das im Roman ohne jeden Mutwillen, fast beiläufig ausgekostet wird. Schon in dieser Unangestrengtheit zeigt sich erzählerische Meisterschaft; der Ton stimmt einfach. Das Buch gewinnt uns auf Anhieb mit der schönen Pointe, dass es mit den Sorgen Erwin Kächeles einsetzt, des knauserigen Schwaben, der, wie Frank Lehmann, Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin und handwerkliches Können durchaus hochhält und schnell verzweifelt, wenn "Pfeifen" es anders halten. Hierin liegt zweifellos ein konservativer Zug.

"Wiener Straße" stand auf der Longlist zum Frankfurter Buchpreis. Dass Regener ihn gewinnen würde, dafür gab es nicht viel Hoffnung, sosehr man ihm das auch gegönnt hätte. Das "Thema" wird den Juroren am Ende nicht gewichtig oder nicht neu genug erschienen sein. Vielleicht hat man es, zufriedengestellt durch den notorischen Regener-Ton, aber mehr auch nicht, mit der Aussortierung aber doch unterschätzt. Denn Regener hat sein Verfahren nun perfektioniert: Es gibt keinen auktorialen Erzähler mehr; Regener schlüpft jedem einzelnen in den Kopf und erleuchtet ihn mit kurzen inneren Monologen, die manchmal abgrundtief blicken lassen. Die Dialoge, die immer schon seine große Kunst waren, sind jetzt noch entschlackter. Beim Abspulen der mit äußerstem Geschick gegengeschnittenen Szenen gibt es nicht ein Körnchen Sand im Getriebe. Man merkt, wie Regener das Milieu, in das er vor bald vierzig Jahren (als junger, linker Hitzkopf) eintauchte, in Fleisch und Blut übergegangen ist. In Ermangelung von alten Aufzeichnungen wird er sich manches ausgedacht haben; aber nichts wirkt so, alles scheint tief erlebt und ist doch so leicht erzählt. Und um noch einmal auf die Kunst zurückzukommen: Einen schöneren, unprätentiöseren Roman über sie wird man so schnell nicht zu lesen bekommen.

Es gibt keinen Grund, in dieser Manier nicht fortzufahren. Das hätte absolut nichts Opportunistisches. Sven Regener ist schließlich keen Koofmich, weeßte!?

EDO REENTS

Sven Regener: "Wiener

Straße". Roman.

Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 296 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Aber es ist doch alles wieder neu und frisch und anders. Regener wirft eine grandios lustige Dialogschleudermaschine an, die einen das Staunen lehrt. (...) So schön, kaputt, schlapp und wunderbar blödsinnig kann das reale Kreuzberg gar nie gewesen sein. Wolfgang Höbel Der Spiegel LiteraturSpiegel

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Es ist Sven Regeners besonderes Talent das historische Vor-Wende-Berlin so " bis zur Kenntlichkeit karikiert" darzustellen, dass noch heute Zugezogene mitlachen können, erklärt Cornelia Geissler. Herr Lehmann geht mit dem neuen Buch "Wiener Straße" also weiter - und hat diesmal neben eingefleischten Fans sogar die Kritiker so sehr überzeugt, dass sie das Buch bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gebracht haben, verrät die Rezensentin. Es geht gewohnt schlagfertig zur Sache, und obwohl die wenigsten Figuren wirklich aus Berlin kommen, wird hier und da sogar berlinert, freut sich Geissler.

© Perlentaucher Medien GmbH