"Wiener Straße" beginnt im November 1980 an dem Tag, an dem Frank Lehmann mit der rebellischen Berufsnichte Chrissie sowie den beiden Extremkünstlern Karl Schmidt und H. R. Ledigt in eine Wohnung über dem Café Einfall verpflanzt wird, um Erwin Kächeles Familienplanung nicht länger im Weg zu stehen. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam, ein ehemaliger Intimfriseurladen, eine Kettensäge, ein Kontaktbereichsbeamter, eine Kreuzberger Kunstaustellung, der Kampf um die Einkommensoptionen Putzjob und Kuchenverkauf, der Besuch einer Mutter und ein Schwangerschaftssimulator setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle ins Verderben reißen.
Außer einen!
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buecher-magazin.de"Wiener Straße" schließt unmittelbar an "Der kleine Bruder", den dritten Teil der Lehmann-Trilogie, an. Für die Fans des Frank Lehmann jedoch vorab: Er ist nicht der Protagonist in Regeners neuem Roman - aber immerhin einer der Hauptakteure. Lehmann schrubbt Toiletten, verprügelt Kunden im Café "Einfall" und hat hier und da erneut Momente der tiefen Selbstreflexion. Im Mittelpunkt des Buches steht jedoch Erwin Kächele, Besitzer des Cafés und gerade mit seiner Familienplanung beschäftigt: Freundin Helga ist schwanger und Erwin fiebert mit. Dabei hilft ihm der Schwangerschaftssimulator. Diesen "Mitfühlbauch" trägt er - mal mehr, mal weniger stolz - an seiner eigenen Wampe und gerät damit in ebenso absurde wie skurrile Situationen. Erwins Viertel ist Berlin-Kreuzberg, Anfang der 80er-Jahre. Hier begegnen sich Axt-schwingende Freaks, Punks, Künstler der vertrauten ArschArt-Galerie, Hausbesetzer und ein konflikterprobter ZDF-Moderator. Auch berühren sich Ost und West auf vielfältige Weise. Wie immer bei Regener, der in diesem Jahr zum ersten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, darf man urkomische ebenso wie überraschend nachdenkliche Passagen genießen.
© BÜCHERmagazin, Anna Gielas
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2017Kreuzberger Nächte sind Kunst
Der unendliche Roman: Sven Regener erzählt weiter von Herrn Lehmann
Die Lehmann-Trilogie geht vollends aus dem Leim, so langsam kommt man nun doch etwas durcheinander: Gehört das neue Buch überhaupt noch dazu, obwohl es gar keine Hauptfigur mehr gibt, und, wenn ja, an welche (handlungs-)chronologische Stelle? An die erste gehört "Neue Vahr Süd" (2004), an die zweite "Der kleine Bruder" (2008), dann kommt "Herr Lehmann" (2001), der die ganze Sache ins Rollen brachte, schließlich, mit einer aus den Kulissen sanft ins Rampenlicht gezogenen Titelfigur und handlungstechnisch weit in die Neunziger katapultiert, "Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt" (2013), das war der vierte Streich, mit dem schon keiner mehr gerechnet hatte.
Und der fünfte, "Wiener Straße", folgt jetzt, im Regener-typischen, bedächtigen Abstand von drei, vier Jahren, und nimmt die Mitte ein, indem er an ein paar Tagen im November 1980 spielt, natürlich wieder in Kreuzberg. Wie viele Berlin-Romane will Sven Regener eigentlich noch schreiben? Es wurde weiß Gott schon viel gesagt und geredet von und über Frank Lehmann, Karl Schmidt, Marko, Erwin Kächele, Chrissie, P. Immel, H. R. Ledigt und wie sie alle, zum Teil sehr witzigerweise, heißen. Aber das "Thema" ist noch nicht erschöpft, obwohl sich das Personal vom Café Einfall und der ArschArt-Galerie nicht wegbewegt.
Die Handlung setzt ein, als Erwin Kächele, Eigentümer des Café Einfall, sein Geschäftsmodell erweitern will, dabei aber seine Mieter loswerden muss, weil seine Frau schwanger ist. Frank Lehmann macht sich als Putzmann nützlich, es muss auch allerhand renoviert werden. Unterdessen ist der Rest der Bagage damit beschäftigt, die ArschArt-Galerie mit dreistem Dilettantismus als Kunstzentrum zu etablieren. Die dort herumlungernde Hausbesetzerszene ist nur Attrappe, wird aber in dem Moment selbst Kunst, in dem das ZDF mit einem Kamerateam anrückt. Nicht nur sorgfältig geplante Installationen und Performances gewinnen also Kunststatus, sondern auch alltägliche Gegenstände und Momente, die, eingefroren zu einem Bild, aus dem Fluss des Lebens herausgehoben sind.
Der Reiz dieser nun wieder auf engstem Raum spielenden Geschichte liegt in der Abwandlung des Bekannten. Regener, dieser Meister des auf kunstvolle Weise kunstlos wirkenden Dialogs, hat sein Erzählverfahren weiter verfeinert. Ohnehin dürfte sich die Frage, wie viele Teile noch folgen, mit der Lektüre erübrigt haben. Das weiß nur Regener, der drauf und dran ist, Gerhard Henschels unendlicher Geschichte um Martin Schlosser (F.A.Z. vom 29. April) etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen. Während aber der an Kempowski ausgerichtete Henschel auf einen einzigen, nun schon veritable ProustDimensionen annehmenden Generationen-, Familien- und vor allem Bildungsroman aus ist, der freilich auch nur langsam von der Stelle kommt, begnügt Regener sich mit mikroskopischen Charakter- und Milieustudien, in denen die Zeit zuweilen nahezu stillzustehen scheint.
Genauigkeit, nicht die szenische Raffung oder Auslassung, war deswegen von Anfang an oberstes Gebot für ihn. Der Lehmann-Kosmos ist voll mit Sprachlektionen, die dem nachsichtigen Leser pedantisch vorkommen mögen. Aber es steckt mehr dahinter, das merkt man in der "Wiener Straße" in der lustigen zweiten Szene, in der sich H. R. Ledigt, der von seinen Kumpels aus Versehen im Baumarkt zurückgelassen wurde, dort eine Grabgabel und eine Kettensäge kaufen will und dabei einen Verkäufer und eine Kassiererin in ein Gespräch verwickelt, das es an geradezu quälender Spitzfindigkeit mit Loriots Parkplatzsketch "Die Politesse" aufnehmen kann: "Bloß weil ich eine Kettensäge will, heißt das ja nicht, dass ich keine Grabgabel halten darf, da besteht doch überhaupt kein Zusammenhang, guter Mann!"
H. R. Ledigt, der Künstler, hat die Logik auf seiner Seite. Der Roman ist allerdings so komponiert, dass sich am hier nicht zu verratenden Ende auf so überraschende wie zwingende Weise ein semantischer Zusammenhang ergibt. Alles kreist nämlich um die Frage: Was ist Kunst? Es wäre ein Missverständnis zu sagen, es handele sich wieder um einen Berlin-Roman; dafür ist der gezeigte Ausschnitt zu klein. Ein gesellschaftliches Leben, das halbwegs repräsentativ wäre, gibt es hier nicht. Was ist aber denn nun Kunst? Die Antwort steht im Vorgänger-Roman über Karl Schmidt: Etwas ist Kunst, wenn einer sagt, dass es Kunst ist, und es mindestens einen gibt, der das auch glaubt. Dem Leser bleibt nichts anders übrig. Esse est percipi, wie Berkeley sagte, das gilt auch für die Kunst: Wahrgenommen zu werden ist die Gewähr für ihr Sein. Kunst, die niemand als solche betrachtet, gibt es nicht.
Man könnte annehmen, dass dieser reine Behauptungscharakter den Kunst-Begriff inflationiert und der Roman dadurch entweder an Überfrachtung oder an Beliebigkeit scheitert. Doch nicht erst die sorgfältig arrangierte Schlusskadenz, in der die scheinbar läppisch-slapstickhaften Handlungsfäden zusammenlaufen, gewinnt eine verblüffende Evidenz, so dass ein widerrechtlich (mit der Motorsäge!) gefällter Baum oder eine in einem Karton sorgsam verpackte Flasche Bier zu Kunst wird; auch der verbrannte Kuchen in der Glasvitrine des Café Einfall ist es oder kann es zumindest sein. Spätestens seit Beuys weiß man, dass es immer auf den Kontext und auf die Geste (die in der Behauptung liegt) ankommt. Wer sich mit Regener über Kunst unterhält, der weiß, dass er darüber ausgesprochen "inklusiv" denkt; Elitarismus und Dünkel sind ihm hier so fremd wie sonst auch. Im Verzicht auf handwerkliche Standards, der dem Glauben an den einen, unerklärlichen und auch im Dunkeln gelassenen Moment der Erleuchtung Raum bietet, liegt etwas prinzipiell Anarchisches, das im Roman ohne jeden Mutwillen, fast beiläufig ausgekostet wird. Schon in dieser Unangestrengtheit zeigt sich erzählerische Meisterschaft; der Ton stimmt einfach. Das Buch gewinnt uns auf Anhieb mit der schönen Pointe, dass es mit den Sorgen Erwin Kächeles einsetzt, des knauserigen Schwaben, der, wie Frank Lehmann, Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin und handwerkliches Können durchaus hochhält und schnell verzweifelt, wenn "Pfeifen" es anders halten. Hierin liegt zweifellos ein konservativer Zug.
"Wiener Straße" stand auf der Longlist zum Frankfurter Buchpreis. Dass Regener ihn gewinnen würde, dafür gab es nicht viel Hoffnung, sosehr man ihm das auch gegönnt hätte. Das "Thema" wird den Juroren am Ende nicht gewichtig oder nicht neu genug erschienen sein. Vielleicht hat man es, zufriedengestellt durch den notorischen Regener-Ton, aber mehr auch nicht, mit der Aussortierung aber doch unterschätzt. Denn Regener hat sein Verfahren nun perfektioniert: Es gibt keinen auktorialen Erzähler mehr; Regener schlüpft jedem einzelnen in den Kopf und erleuchtet ihn mit kurzen inneren Monologen, die manchmal abgrundtief blicken lassen. Die Dialoge, die immer schon seine große Kunst waren, sind jetzt noch entschlackter. Beim Abspulen der mit äußerstem Geschick gegengeschnittenen Szenen gibt es nicht ein Körnchen Sand im Getriebe. Man merkt, wie Regener das Milieu, in das er vor bald vierzig Jahren (als junger, linker Hitzkopf) eintauchte, in Fleisch und Blut übergegangen ist. In Ermangelung von alten Aufzeichnungen wird er sich manches ausgedacht haben; aber nichts wirkt so, alles scheint tief erlebt und ist doch so leicht erzählt. Und um noch einmal auf die Kunst zurückzukommen: Einen schöneren, unprätentiöseren Roman über sie wird man so schnell nicht zu lesen bekommen.
Es gibt keinen Grund, in dieser Manier nicht fortzufahren. Das hätte absolut nichts Opportunistisches. Sven Regener ist schließlich keen Koofmich, weeßte!?
EDO REENTS
Sven Regener: "Wiener
Straße". Roman.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 296 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der unendliche Roman: Sven Regener erzählt weiter von Herrn Lehmann
Die Lehmann-Trilogie geht vollends aus dem Leim, so langsam kommt man nun doch etwas durcheinander: Gehört das neue Buch überhaupt noch dazu, obwohl es gar keine Hauptfigur mehr gibt, und, wenn ja, an welche (handlungs-)chronologische Stelle? An die erste gehört "Neue Vahr Süd" (2004), an die zweite "Der kleine Bruder" (2008), dann kommt "Herr Lehmann" (2001), der die ganze Sache ins Rollen brachte, schließlich, mit einer aus den Kulissen sanft ins Rampenlicht gezogenen Titelfigur und handlungstechnisch weit in die Neunziger katapultiert, "Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt" (2013), das war der vierte Streich, mit dem schon keiner mehr gerechnet hatte.
Und der fünfte, "Wiener Straße", folgt jetzt, im Regener-typischen, bedächtigen Abstand von drei, vier Jahren, und nimmt die Mitte ein, indem er an ein paar Tagen im November 1980 spielt, natürlich wieder in Kreuzberg. Wie viele Berlin-Romane will Sven Regener eigentlich noch schreiben? Es wurde weiß Gott schon viel gesagt und geredet von und über Frank Lehmann, Karl Schmidt, Marko, Erwin Kächele, Chrissie, P. Immel, H. R. Ledigt und wie sie alle, zum Teil sehr witzigerweise, heißen. Aber das "Thema" ist noch nicht erschöpft, obwohl sich das Personal vom Café Einfall und der ArschArt-Galerie nicht wegbewegt.
Die Handlung setzt ein, als Erwin Kächele, Eigentümer des Café Einfall, sein Geschäftsmodell erweitern will, dabei aber seine Mieter loswerden muss, weil seine Frau schwanger ist. Frank Lehmann macht sich als Putzmann nützlich, es muss auch allerhand renoviert werden. Unterdessen ist der Rest der Bagage damit beschäftigt, die ArschArt-Galerie mit dreistem Dilettantismus als Kunstzentrum zu etablieren. Die dort herumlungernde Hausbesetzerszene ist nur Attrappe, wird aber in dem Moment selbst Kunst, in dem das ZDF mit einem Kamerateam anrückt. Nicht nur sorgfältig geplante Installationen und Performances gewinnen also Kunststatus, sondern auch alltägliche Gegenstände und Momente, die, eingefroren zu einem Bild, aus dem Fluss des Lebens herausgehoben sind.
Der Reiz dieser nun wieder auf engstem Raum spielenden Geschichte liegt in der Abwandlung des Bekannten. Regener, dieser Meister des auf kunstvolle Weise kunstlos wirkenden Dialogs, hat sein Erzählverfahren weiter verfeinert. Ohnehin dürfte sich die Frage, wie viele Teile noch folgen, mit der Lektüre erübrigt haben. Das weiß nur Regener, der drauf und dran ist, Gerhard Henschels unendlicher Geschichte um Martin Schlosser (F.A.Z. vom 29. April) etwas Vergleichbares an die Seite zu stellen. Während aber der an Kempowski ausgerichtete Henschel auf einen einzigen, nun schon veritable ProustDimensionen annehmenden Generationen-, Familien- und vor allem Bildungsroman aus ist, der freilich auch nur langsam von der Stelle kommt, begnügt Regener sich mit mikroskopischen Charakter- und Milieustudien, in denen die Zeit zuweilen nahezu stillzustehen scheint.
Genauigkeit, nicht die szenische Raffung oder Auslassung, war deswegen von Anfang an oberstes Gebot für ihn. Der Lehmann-Kosmos ist voll mit Sprachlektionen, die dem nachsichtigen Leser pedantisch vorkommen mögen. Aber es steckt mehr dahinter, das merkt man in der "Wiener Straße" in der lustigen zweiten Szene, in der sich H. R. Ledigt, der von seinen Kumpels aus Versehen im Baumarkt zurückgelassen wurde, dort eine Grabgabel und eine Kettensäge kaufen will und dabei einen Verkäufer und eine Kassiererin in ein Gespräch verwickelt, das es an geradezu quälender Spitzfindigkeit mit Loriots Parkplatzsketch "Die Politesse" aufnehmen kann: "Bloß weil ich eine Kettensäge will, heißt das ja nicht, dass ich keine Grabgabel halten darf, da besteht doch überhaupt kein Zusammenhang, guter Mann!"
H. R. Ledigt, der Künstler, hat die Logik auf seiner Seite. Der Roman ist allerdings so komponiert, dass sich am hier nicht zu verratenden Ende auf so überraschende wie zwingende Weise ein semantischer Zusammenhang ergibt. Alles kreist nämlich um die Frage: Was ist Kunst? Es wäre ein Missverständnis zu sagen, es handele sich wieder um einen Berlin-Roman; dafür ist der gezeigte Ausschnitt zu klein. Ein gesellschaftliches Leben, das halbwegs repräsentativ wäre, gibt es hier nicht. Was ist aber denn nun Kunst? Die Antwort steht im Vorgänger-Roman über Karl Schmidt: Etwas ist Kunst, wenn einer sagt, dass es Kunst ist, und es mindestens einen gibt, der das auch glaubt. Dem Leser bleibt nichts anders übrig. Esse est percipi, wie Berkeley sagte, das gilt auch für die Kunst: Wahrgenommen zu werden ist die Gewähr für ihr Sein. Kunst, die niemand als solche betrachtet, gibt es nicht.
Man könnte annehmen, dass dieser reine Behauptungscharakter den Kunst-Begriff inflationiert und der Roman dadurch entweder an Überfrachtung oder an Beliebigkeit scheitert. Doch nicht erst die sorgfältig arrangierte Schlusskadenz, in der die scheinbar läppisch-slapstickhaften Handlungsfäden zusammenlaufen, gewinnt eine verblüffende Evidenz, so dass ein widerrechtlich (mit der Motorsäge!) gefällter Baum oder eine in einem Karton sorgsam verpackte Flasche Bier zu Kunst wird; auch der verbrannte Kuchen in der Glasvitrine des Café Einfall ist es oder kann es zumindest sein. Spätestens seit Beuys weiß man, dass es immer auf den Kontext und auf die Geste (die in der Behauptung liegt) ankommt. Wer sich mit Regener über Kunst unterhält, der weiß, dass er darüber ausgesprochen "inklusiv" denkt; Elitarismus und Dünkel sind ihm hier so fremd wie sonst auch. Im Verzicht auf handwerkliche Standards, der dem Glauben an den einen, unerklärlichen und auch im Dunkeln gelassenen Moment der Erleuchtung Raum bietet, liegt etwas prinzipiell Anarchisches, das im Roman ohne jeden Mutwillen, fast beiläufig ausgekostet wird. Schon in dieser Unangestrengtheit zeigt sich erzählerische Meisterschaft; der Ton stimmt einfach. Das Buch gewinnt uns auf Anhieb mit der schönen Pointe, dass es mit den Sorgen Erwin Kächeles einsetzt, des knauserigen Schwaben, der, wie Frank Lehmann, Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin und handwerkliches Können durchaus hochhält und schnell verzweifelt, wenn "Pfeifen" es anders halten. Hierin liegt zweifellos ein konservativer Zug.
"Wiener Straße" stand auf der Longlist zum Frankfurter Buchpreis. Dass Regener ihn gewinnen würde, dafür gab es nicht viel Hoffnung, sosehr man ihm das auch gegönnt hätte. Das "Thema" wird den Juroren am Ende nicht gewichtig oder nicht neu genug erschienen sein. Vielleicht hat man es, zufriedengestellt durch den notorischen Regener-Ton, aber mehr auch nicht, mit der Aussortierung aber doch unterschätzt. Denn Regener hat sein Verfahren nun perfektioniert: Es gibt keinen auktorialen Erzähler mehr; Regener schlüpft jedem einzelnen in den Kopf und erleuchtet ihn mit kurzen inneren Monologen, die manchmal abgrundtief blicken lassen. Die Dialoge, die immer schon seine große Kunst waren, sind jetzt noch entschlackter. Beim Abspulen der mit äußerstem Geschick gegengeschnittenen Szenen gibt es nicht ein Körnchen Sand im Getriebe. Man merkt, wie Regener das Milieu, in das er vor bald vierzig Jahren (als junger, linker Hitzkopf) eintauchte, in Fleisch und Blut übergegangen ist. In Ermangelung von alten Aufzeichnungen wird er sich manches ausgedacht haben; aber nichts wirkt so, alles scheint tief erlebt und ist doch so leicht erzählt. Und um noch einmal auf die Kunst zurückzukommen: Einen schöneren, unprätentiöseren Roman über sie wird man so schnell nicht zu lesen bekommen.
Es gibt keinen Grund, in dieser Manier nicht fortzufahren. Das hätte absolut nichts Opportunistisches. Sven Regener ist schließlich keen Koofmich, weeßte!?
EDO REENTS
Sven Regener: "Wiener
Straße". Roman.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 296 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber es ist doch alles wieder neu und frisch und anders. Regener wirft eine grandios lustige Dialogschleudermaschine an, die einen das Staunen lehrt. (...) So schön, kaputt, schlapp und wunderbar blödsinnig kann das reale Kreuzberg gar nie gewesen sein. Wolfgang Höbel Der Spiegel LiteraturSpiegel
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Es ist Sven Regeners besonderes Talent das historische Vor-Wende-Berlin so " bis zur Kenntlichkeit karikiert" darzustellen, dass noch heute Zugezogene mitlachen können, erklärt Cornelia Geissler. Herr Lehmann geht mit dem neuen Buch "Wiener Straße" also weiter - und hat diesmal neben eingefleischten Fans sogar die Kritiker so sehr überzeugt, dass sie das Buch bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gebracht haben, verrät die Rezensentin. Es geht gewohnt schlagfertig zur Sache, und obwohl die wenigsten Figuren wirklich aus Berlin kommen, wird hier und da sogar berlinert, freut sich Geissler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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