In seinen neuen Geschichten zeigt sich Peter Stamm wieder als Meister im Erzählen unerwarteter Wendepunkte, des flüchtigen Glücks, mit dem man nicht mehr gerechnet hat.
Bruno arbeitet seit dreißig Jahren als Portier in einem Hotel. Er war beim Arzt, ein schlimmes Ergebnis könnte ihn erwarten. Noch weiß er nichts endgültiges, es ist seine letzte Nacht vor dem Resultat. Für einen Moment ist er glücklich.
Es sind diese Momente, in denen sich etwas verändert im Leben, in denen etwas geschieht, man merkt es kaum. Momente, die der Zeit enthoben scheinen. Eine neue Welt tut sich auf, man erkennt die Sackgasse, in die man vor langer Zeit geraten ist. Und plötzlich herrscht ein anderes Licht.
Bruno arbeitet seit dreißig Jahren als Portier in einem Hotel. Er war beim Arzt, ein schlimmes Ergebnis könnte ihn erwarten. Noch weiß er nichts endgültiges, es ist seine letzte Nacht vor dem Resultat. Für einen Moment ist er glücklich.
Es sind diese Momente, in denen sich etwas verändert im Leben, in denen etwas geschieht, man merkt es kaum. Momente, die der Zeit enthoben scheinen. Eine neue Welt tut sich auf, man erkennt die Sackgasse, in die man vor langer Zeit geraten ist. Und plötzlich herrscht ein anderes Licht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2008Heidis Sehnsucht
Peter Stamms unerlöste Erzählungen: „Wir fliegen”
In der letzten seiner zwölf neuen Erzählungen deutet Peter Stamm ein kleines Selbstporträt an. Er lässt einen Maler zu sich selbst sagen: „Deine wahre Liebe gilt den Skizzen, den Stimmungen.” Peter Stamm weiß, worin er zu Hause ist, er weiß, was er am besten kann. Das lässt sich in seinem bisherigen Werk genau verfolgen: Auffällig gut gelingen ihm die kurzen Formen, einfühlsame Beschreibungen innerer Zustände, überschaubare, emotional angespannte Konstellationen. Aber irgendwie will er mehr. Und das wird auch gleich in der besagten Erzählung über den Maler deutlich: Sie weitet sich aus zu einer ausladenden Reflexion über das künstlerische Schaffen per se, mit kurzen, pathetischen Aufflügen. Das Stilmittel, den Maler in ein Selbstgespräch zu verwickeln, sich immer wieder fordernd mit du anzusprechen, ist jedoch schnell erschöpft. Es trägt nicht einmal diese wenigen Seiten. Es gibt Geschichten in diesem Band, die wunderbar in sich geschlossen sind, in denen man keinen falschen Zungenschlag und keine Überreizung spürt, da scheint sich der Autor seiner Mittel völlig sicher zu sein. „Drei Schwestern” ist so eine Erzählung, sie hallt lange nach und berührt auf sonderbare Weise. Heidi hat, in ihrer entlegenen Provinz, das Talent zum Zeichnen in sich entdeckt, und ihre Lehrerin ermutigt sie dazu, sich bei der Wiener Kunstakademie zu bewerben. Auf der langen Zugfahrt zu dem Bewerbungsgespräch bekommt sie jedoch Angst, und sie steigt mittendrin, in Innsbruck, aus, wo sie auf einer Parkbank von Rainer angesprochen wird. Mit ihm führt sie dann eine öde, durchschnittliche Ehe.
Das Unglück mit Benno
Hier fällt kein Wort zu viel, und zwischen den Zeilen steigt etwas auf wie Sehnsucht, wie das Gefühl für ein verfehltes Leben. Heimlich zeichnet Heidi weiter, und draußen auf der Straße fällt ihr ein Mädchen auf, der „freche Blick einer Siebzehnjährigen, die alles wusste und nichts verstand”. Wenn sie dieses Mädchen skizziert, wird ein Unterstrom deutlich, der auf etwas anderes hinführt – aufdringliche Wörter wie „lesbisch” werden vermieden, doch schon die Beziehung zur Zeichenlehrerin war von angsteinflößender Emotionalität geprägt, und die Siebzehnjährige steht für eine Entgrenzung, die Heidi nur leise ahnen kann. „Drei Schwestern” heißen die drei Berge der Alpen, auf die Heidi von ihrer Wohnung aus jeden Tag schaut. Drei andere Schwestern entwerfen ein geheimes Gegenbild dazu: die Zeichenlehrerin, die siebzehnjährige Sinnliche und Heidi. Es eint sie die Sehnsucht, auszubrechen, das Gefühl für ein Leben jenseits des jegliche Sinne abtötenden Alltags.
Auch die Titelgeschichte zeigt einen zermürbenden, austauschbaren Normalzustand und versetzt ihn mit einem irritierenden Flackern. Angelika arbeitet in einer Kindertagesstätte, und als Dominics Eltern das Kind nicht pünktlich abholen, nimmt sie es erst einmal mit zu sich nach Hause, wo sie ein nicht recht befriedigendes Leben mit Benno führt. Dominic wird später zwar von seiner hektischen, überforderten Mutter abgeholt, aber die wenigen Stunden mit dem Kind am Abend in der eigenen Wohnung zeigen, ohne dass etwas Besonderes geschieht, den Leerlauf in ihrem Alltag auf, die Öde mit Benno. Dominic hat ein kleines Leitmotiv: Wenn er spielt, möchte er fliegen, mit Benno entwirft er eine Choreographie dazu. Der Ausruf „Wir fliegen” steht in einem großen, sarkastischen Gegensatz zur Lebensrealität. Er verweist auf das Grundmodell in Peter Stamms Geschichten: dem Gleichmaß, der Desillusionierung steht eine Sehnsucht gegenüber, die nicht recht zu fassen ist und etwas Verstörendes hat.
Stamm verwendet meist eine sehr einfache, schlichte Sprache. Das kann eine starke Wirkung entfalten. Oft weiß man über etliche Sätze hinweg nicht, ob ein Mann spricht oder eine Frau, welches Alter die Hauptperson hat, wo man sich befindet. Das ist wie ein leichtes Verrutschen, eine suggestive Verrätselung, die aber den Zustand der jeweiligen Person mit leichter Hand genau beschreibt. Stamms Figuren haben keine materiellen Sorgen, sie sind irgendwie angestellt, gehen austauschbaren Tätigkeiten nach. Es geht um ein langsames Ersticken, etwas Psychisches, das der relative äußere Wohlstand erst hervorzubringen scheint. Dabei ist der Ton sehr leise, unterschwellig, es kommen keine großen dramatischen Konflikte auf. Die Schweizer Provinz scheint der ideale Rahmen für derlei Handlungen zu sein.
Das ein bisschen Geduckte, das Hinnehmen des Unausweichlichen mit kleinen anarchischen Volten: Bei solchen Inszenierungen geistert immer ein bisschen auch Robert Walser herum. Und wenn Peter Stamm dann mal auf die Tube drückt, wird es sofort zu viel. Die Geschichte des Dorfschullehrers etwa, der von seinem ersten Liebeserlebnis nicht loskommt und langsam durchdreht, ist viel zu plakativ und eindimensional. Und der Erzählung „Videocity” merkt man schon in den ersten Worten die Anstrengung an, jetzt wirklich die ganze Anonymität der Großstadt, die Leere der elektronischen Ersatzwelten, die irreale Wahrnehmung aus Videos und technischen Rastern aufzuzeigen, bis hin zur Paranoia. Wenn man in einigen Texten gespürt hat, wie sensibel Stamm Stimmungen einfangen und im bloßen Andeuten viel sagen kann, ist man über solche Ausreißer sehr verblüfft. Man ahnt: Er will zu viel. Es gibt da etwas Unerlöstes in der Ästhetik selbst.
Wie der Text „Kinder Gottes” in diesen Band mit aufgenommen werden konnte, ist das größte Rätsel. Hier spielt der Autor mit einem religiösen Märchenton, mit ganz großen Themen wie Jungfrauengeburt und Pfarrer-Einsamkeit, und auch wenn er ein paar Distanzierungspartikel einstreut, wird doch deutlich: Hier passt alles nicht. Ein unerträglicher religiöser Kitsch ist das Bindemittel zwischen den Sätzen, und das wird noch verschlimmert, wenn Stamm in den pathetischen Ton der Lutherbibel verfällt.
Was immer an Sehnsüchten und Karikaturen er hier im Schilde geführt haben mag, hier hätte er gewarnt werden müssen. Merkwürdigerweise erfassen derlei Misstöne im Nachhinein dann auch die Geschichten, die so rund und gelungen erschienen sind. Wenn das Umfeld nicht mehr stimmt, sind Sätze wie der folgende vielleicht gar nicht mehr so schön, und sie verraten ein untergründiges Dilemma: „Vor einiger Zeit war Felicitas’ Meerschweinchen gestorben, und jetzt stellte sie sich vor, dass es mit dem Großvater zusammen im Himmel war, eine Vorstellung, die sie sichtlich überforderte.” HELMUT BÖTTIGER
PETER STAMM: Wir fliegen. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 174 Seiten. 17,90 Euro.
Weiß, wo er zu Hause ist: Peter Stamm Foto: Jean Claude Gisberg/Opale
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Peter Stamms unerlöste Erzählungen: „Wir fliegen”
In der letzten seiner zwölf neuen Erzählungen deutet Peter Stamm ein kleines Selbstporträt an. Er lässt einen Maler zu sich selbst sagen: „Deine wahre Liebe gilt den Skizzen, den Stimmungen.” Peter Stamm weiß, worin er zu Hause ist, er weiß, was er am besten kann. Das lässt sich in seinem bisherigen Werk genau verfolgen: Auffällig gut gelingen ihm die kurzen Formen, einfühlsame Beschreibungen innerer Zustände, überschaubare, emotional angespannte Konstellationen. Aber irgendwie will er mehr. Und das wird auch gleich in der besagten Erzählung über den Maler deutlich: Sie weitet sich aus zu einer ausladenden Reflexion über das künstlerische Schaffen per se, mit kurzen, pathetischen Aufflügen. Das Stilmittel, den Maler in ein Selbstgespräch zu verwickeln, sich immer wieder fordernd mit du anzusprechen, ist jedoch schnell erschöpft. Es trägt nicht einmal diese wenigen Seiten. Es gibt Geschichten in diesem Band, die wunderbar in sich geschlossen sind, in denen man keinen falschen Zungenschlag und keine Überreizung spürt, da scheint sich der Autor seiner Mittel völlig sicher zu sein. „Drei Schwestern” ist so eine Erzählung, sie hallt lange nach und berührt auf sonderbare Weise. Heidi hat, in ihrer entlegenen Provinz, das Talent zum Zeichnen in sich entdeckt, und ihre Lehrerin ermutigt sie dazu, sich bei der Wiener Kunstakademie zu bewerben. Auf der langen Zugfahrt zu dem Bewerbungsgespräch bekommt sie jedoch Angst, und sie steigt mittendrin, in Innsbruck, aus, wo sie auf einer Parkbank von Rainer angesprochen wird. Mit ihm führt sie dann eine öde, durchschnittliche Ehe.
Das Unglück mit Benno
Hier fällt kein Wort zu viel, und zwischen den Zeilen steigt etwas auf wie Sehnsucht, wie das Gefühl für ein verfehltes Leben. Heimlich zeichnet Heidi weiter, und draußen auf der Straße fällt ihr ein Mädchen auf, der „freche Blick einer Siebzehnjährigen, die alles wusste und nichts verstand”. Wenn sie dieses Mädchen skizziert, wird ein Unterstrom deutlich, der auf etwas anderes hinführt – aufdringliche Wörter wie „lesbisch” werden vermieden, doch schon die Beziehung zur Zeichenlehrerin war von angsteinflößender Emotionalität geprägt, und die Siebzehnjährige steht für eine Entgrenzung, die Heidi nur leise ahnen kann. „Drei Schwestern” heißen die drei Berge der Alpen, auf die Heidi von ihrer Wohnung aus jeden Tag schaut. Drei andere Schwestern entwerfen ein geheimes Gegenbild dazu: die Zeichenlehrerin, die siebzehnjährige Sinnliche und Heidi. Es eint sie die Sehnsucht, auszubrechen, das Gefühl für ein Leben jenseits des jegliche Sinne abtötenden Alltags.
Auch die Titelgeschichte zeigt einen zermürbenden, austauschbaren Normalzustand und versetzt ihn mit einem irritierenden Flackern. Angelika arbeitet in einer Kindertagesstätte, und als Dominics Eltern das Kind nicht pünktlich abholen, nimmt sie es erst einmal mit zu sich nach Hause, wo sie ein nicht recht befriedigendes Leben mit Benno führt. Dominic wird später zwar von seiner hektischen, überforderten Mutter abgeholt, aber die wenigen Stunden mit dem Kind am Abend in der eigenen Wohnung zeigen, ohne dass etwas Besonderes geschieht, den Leerlauf in ihrem Alltag auf, die Öde mit Benno. Dominic hat ein kleines Leitmotiv: Wenn er spielt, möchte er fliegen, mit Benno entwirft er eine Choreographie dazu. Der Ausruf „Wir fliegen” steht in einem großen, sarkastischen Gegensatz zur Lebensrealität. Er verweist auf das Grundmodell in Peter Stamms Geschichten: dem Gleichmaß, der Desillusionierung steht eine Sehnsucht gegenüber, die nicht recht zu fassen ist und etwas Verstörendes hat.
Stamm verwendet meist eine sehr einfache, schlichte Sprache. Das kann eine starke Wirkung entfalten. Oft weiß man über etliche Sätze hinweg nicht, ob ein Mann spricht oder eine Frau, welches Alter die Hauptperson hat, wo man sich befindet. Das ist wie ein leichtes Verrutschen, eine suggestive Verrätselung, die aber den Zustand der jeweiligen Person mit leichter Hand genau beschreibt. Stamms Figuren haben keine materiellen Sorgen, sie sind irgendwie angestellt, gehen austauschbaren Tätigkeiten nach. Es geht um ein langsames Ersticken, etwas Psychisches, das der relative äußere Wohlstand erst hervorzubringen scheint. Dabei ist der Ton sehr leise, unterschwellig, es kommen keine großen dramatischen Konflikte auf. Die Schweizer Provinz scheint der ideale Rahmen für derlei Handlungen zu sein.
Das ein bisschen Geduckte, das Hinnehmen des Unausweichlichen mit kleinen anarchischen Volten: Bei solchen Inszenierungen geistert immer ein bisschen auch Robert Walser herum. Und wenn Peter Stamm dann mal auf die Tube drückt, wird es sofort zu viel. Die Geschichte des Dorfschullehrers etwa, der von seinem ersten Liebeserlebnis nicht loskommt und langsam durchdreht, ist viel zu plakativ und eindimensional. Und der Erzählung „Videocity” merkt man schon in den ersten Worten die Anstrengung an, jetzt wirklich die ganze Anonymität der Großstadt, die Leere der elektronischen Ersatzwelten, die irreale Wahrnehmung aus Videos und technischen Rastern aufzuzeigen, bis hin zur Paranoia. Wenn man in einigen Texten gespürt hat, wie sensibel Stamm Stimmungen einfangen und im bloßen Andeuten viel sagen kann, ist man über solche Ausreißer sehr verblüfft. Man ahnt: Er will zu viel. Es gibt da etwas Unerlöstes in der Ästhetik selbst.
Wie der Text „Kinder Gottes” in diesen Band mit aufgenommen werden konnte, ist das größte Rätsel. Hier spielt der Autor mit einem religiösen Märchenton, mit ganz großen Themen wie Jungfrauengeburt und Pfarrer-Einsamkeit, und auch wenn er ein paar Distanzierungspartikel einstreut, wird doch deutlich: Hier passt alles nicht. Ein unerträglicher religiöser Kitsch ist das Bindemittel zwischen den Sätzen, und das wird noch verschlimmert, wenn Stamm in den pathetischen Ton der Lutherbibel verfällt.
Was immer an Sehnsüchten und Karikaturen er hier im Schilde geführt haben mag, hier hätte er gewarnt werden müssen. Merkwürdigerweise erfassen derlei Misstöne im Nachhinein dann auch die Geschichten, die so rund und gelungen erschienen sind. Wenn das Umfeld nicht mehr stimmt, sind Sätze wie der folgende vielleicht gar nicht mehr so schön, und sie verraten ein untergründiges Dilemma: „Vor einiger Zeit war Felicitas’ Meerschweinchen gestorben, und jetzt stellte sie sich vor, dass es mit dem Großvater zusammen im Himmel war, eine Vorstellung, die sie sichtlich überforderte.” HELMUT BÖTTIGER
PETER STAMM: Wir fliegen. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 174 Seiten. 17,90 Euro.
Weiß, wo er zu Hause ist: Peter Stamm Foto: Jean Claude Gisberg/Opale
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2008Anders als die anderen
Frau liebt Frau - wo ist das Problem? Der Schweizer Peter Stamm geht dieser Frage in seinem neuen Erzählungsband auf kunstvoll wortkarge Weise nach. Motto: Der Leser muss nicht alles wissen.
Von Pia Reinacher
Das Spiel mit der Möglichkeitsform reizte den Schweizer Peter Stamm schon immer. Am radikalsten inszenierte er die Überlagerung von Realität und Fiktion in seinem Erstling "Agnes" (1998). Das irrlichternde Drama einer misslungenen Liebe verhalf ihm auf Anhieb zum Durchbruch. In seinen späteren Romanen, Erzählungen und Theaterstücken zielte er immer wieder auf den irisierenden Effekt übereinandergelagerter Wirklichkeiten. Die Technik des simulierten Lebens schien geradezu prädestiniert, um der Fun-Generation literarisch habhaft zu werden und ihr zwischen Orientierungslosigkeit, Reizüberflutung und totaler Freiheit flottierendes Selbstgefühl abzubilden.
Dieses Konstruktionsprinzip bestimmt auch den Grundriss der meisten der zwölf neuen Erzählungen in "Wir fliegen", wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Am exzessivsten betreibt Stamm die Überblendung der trostlosen Realität mit wilden Imaginationen in der Eingangserzählung "Die Erwartung". Hier schlägt er aus dem Generalkonflikt, der sich aus dem ereignislosen Leben einer alleinstehenden Frau und ihren Lust- und Ausbruchsphantasien ergibt, denen sie kompensatorisch nachzuhängen pflegt, tatsächlich literarische Funken. Mit sparsamen Beschreibungen, die mehr verschweigen als verbalisieren, entsteht vor den Augen des Lesers das Porträt einer einsamen Frau, die sich aus Geräuschen, Beobachtungen und Phantasien ein Leben zusammenklebt: halb wahr, halb erfunden. Durch Zufall kommt sie einem viel jüngeren Nachbarn näher, den sie anfangs für einen Einbrecher hält. Eine seltsame erotische Beziehung entspinnt sich, die allerdings durchsetzt ist von rigorosen Distanzierungsritualen. Die Frau liebt ihren Verführer auf verschrobene Weise und ohne je zu erfahren, wer er ist und was er sucht. Der geheimnisvolle Mann unternimmt nicht den geringsten Versuch von Selbsterklärung. Ein beklemmendes Spiel, bei dem getäuschte Hoffnung und hochfliegende Erwartungen regungslos wie Nebelfetzen in der Luft hängen bleiben. Gegenstück dazu ist die vielleicht auf blasphemische Provokation zielende, tatsächlich aber harmlose Geschichte "Kinder Gottes". Eine junge Frau wird schwanger und behauptet bei der Heiligen Muttergottes, niemals mit einem Mann zusammengewesen zu sein. Der Vater schlägt sie grün und blau und schickt sie aus dem Haus. Dorfpfarrer Michael erbarmt sich des Mädchens, nimmt es auf, erliegt der Versuchung und macht es zu seiner Frau. Gewiss, ein ungewöhnlicher Einfall und ein unter religiöser Optik verbotener Fall, der aber keinerlei Strahlkraft entwickelt. Vielmehr demonstriert er exemplarisch die Gefahren dieser Strategie: Wie leicht kippt Verrätselung in Geheimnistuerei! Stamm gerät die schillernde Illusionsmalerei zum flachen Abziehbild.
Neben ein paar missratenen oder allzu schlichten Erzählungen bleiben allerdings immer noch genügend überzeugende Texte. Sie verwickeln den Leser in fremde Lebensläufe, führen ihn im Zickzackkurs durch die Abenteuer seiner Helden und konfrontieren ihn mit den potentiellen Veränderungen, die jederzeit sintflutartig ins ruhige Leben einbrechen und alles mit sich reißen könnten. Erstaunliche Sogwirkung entwickeln "Drei Schwestern". Heidi, die Frau im Mittelpunkt, entdeckt auf Umwegen ihre eigentliche sexuelle Orientierung. Bis dahin durchläuft sie allerdings einen verzwickten Parcours von fatalen Irrtümern. Sie will Malerin werden und lässt sich von einer älteren Künstlerin unterrichten. Bereits in dieser Phase wird sie aber durch undurchsichtige Vorkommnisse irritiert, die sie sich nicht erklären kann und auf der Stelle verleugnet. Einmal zieht Renate die Schülerin nach dem Unterricht ins Wohnzimmer. Beide sind barfuß, Heidi riecht den angenehmen Körpergeruch der Lehrerin und bemerkt überrascht, wie die Frau sie leichthin umarmt. Renate zieht unter einem Stapel von Zeichnungen der Schülerin ein Bild hervor, das anders ist als die anderen: Das sei eine Vulva. Auf der Reise nach Wien, wo sich Heidi für die Akademie der Künste bewerben will, wiederholt sich der Vorgang. Die deutsche Kollegin, die sie zufällig kennenlernt, will auf ihren Bildern lauter Muschis entdeckt haben - eine Beobachtung, die Heidi in den Wind schlägt. Schließlich begegnet die Frau Rainer, wird schwanger, bringt den Mann als willkommenen Schwiegersohn nach Hause, heiratet - und entfremdet sich ihm bald auf unbegreifliche Art. Stamm lässt uns bis zuletzt im Ungewissen. Mit gezielten Suggestionen und zeichenhaften Anspielungen öffnet er Assoziationsräume, stimuliert die Einbildungskraft und hebt versunkene Bilder ins Bewusstsein. Erwartungen laufen ins Leere. Man erfährt nur, dass Heidi Carmen trifft, die sich nicht für Jungs interessiert. Gemeinsam kaufen sie Unterwäsche, lassen sich schminken und frisieren. Die Freundinnen halten all dies mit der Videokamera fest - ein raffinierter Schachzug: Die Wahrheit der sexuellen Identität zischt gewissermaßen immer wieder auf und verglüht; sie lässt sich nur in den gespiegelten Bildern ablesen.
In solchen Texten zeigt sich Peter Stamm auf der Höhe seiner Kunst. Sein Spiel mit Leerstellen und virtuellen Wirklichkeiten übersetzt sich in eine schnörkellose Sprache. Wortkarg und beiläufig bildet er die vielschichtige Wirklichkeit ab und erzeugt eine elektrisierende Atmosphäre. Das ist als literarische Versuchsanlage nicht wenig.
- Peter Stamm: "Wir fliegen". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 175 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frau liebt Frau - wo ist das Problem? Der Schweizer Peter Stamm geht dieser Frage in seinem neuen Erzählungsband auf kunstvoll wortkarge Weise nach. Motto: Der Leser muss nicht alles wissen.
Von Pia Reinacher
Das Spiel mit der Möglichkeitsform reizte den Schweizer Peter Stamm schon immer. Am radikalsten inszenierte er die Überlagerung von Realität und Fiktion in seinem Erstling "Agnes" (1998). Das irrlichternde Drama einer misslungenen Liebe verhalf ihm auf Anhieb zum Durchbruch. In seinen späteren Romanen, Erzählungen und Theaterstücken zielte er immer wieder auf den irisierenden Effekt übereinandergelagerter Wirklichkeiten. Die Technik des simulierten Lebens schien geradezu prädestiniert, um der Fun-Generation literarisch habhaft zu werden und ihr zwischen Orientierungslosigkeit, Reizüberflutung und totaler Freiheit flottierendes Selbstgefühl abzubilden.
Dieses Konstruktionsprinzip bestimmt auch den Grundriss der meisten der zwölf neuen Erzählungen in "Wir fliegen", wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Am exzessivsten betreibt Stamm die Überblendung der trostlosen Realität mit wilden Imaginationen in der Eingangserzählung "Die Erwartung". Hier schlägt er aus dem Generalkonflikt, der sich aus dem ereignislosen Leben einer alleinstehenden Frau und ihren Lust- und Ausbruchsphantasien ergibt, denen sie kompensatorisch nachzuhängen pflegt, tatsächlich literarische Funken. Mit sparsamen Beschreibungen, die mehr verschweigen als verbalisieren, entsteht vor den Augen des Lesers das Porträt einer einsamen Frau, die sich aus Geräuschen, Beobachtungen und Phantasien ein Leben zusammenklebt: halb wahr, halb erfunden. Durch Zufall kommt sie einem viel jüngeren Nachbarn näher, den sie anfangs für einen Einbrecher hält. Eine seltsame erotische Beziehung entspinnt sich, die allerdings durchsetzt ist von rigorosen Distanzierungsritualen. Die Frau liebt ihren Verführer auf verschrobene Weise und ohne je zu erfahren, wer er ist und was er sucht. Der geheimnisvolle Mann unternimmt nicht den geringsten Versuch von Selbsterklärung. Ein beklemmendes Spiel, bei dem getäuschte Hoffnung und hochfliegende Erwartungen regungslos wie Nebelfetzen in der Luft hängen bleiben. Gegenstück dazu ist die vielleicht auf blasphemische Provokation zielende, tatsächlich aber harmlose Geschichte "Kinder Gottes". Eine junge Frau wird schwanger und behauptet bei der Heiligen Muttergottes, niemals mit einem Mann zusammengewesen zu sein. Der Vater schlägt sie grün und blau und schickt sie aus dem Haus. Dorfpfarrer Michael erbarmt sich des Mädchens, nimmt es auf, erliegt der Versuchung und macht es zu seiner Frau. Gewiss, ein ungewöhnlicher Einfall und ein unter religiöser Optik verbotener Fall, der aber keinerlei Strahlkraft entwickelt. Vielmehr demonstriert er exemplarisch die Gefahren dieser Strategie: Wie leicht kippt Verrätselung in Geheimnistuerei! Stamm gerät die schillernde Illusionsmalerei zum flachen Abziehbild.
Neben ein paar missratenen oder allzu schlichten Erzählungen bleiben allerdings immer noch genügend überzeugende Texte. Sie verwickeln den Leser in fremde Lebensläufe, führen ihn im Zickzackkurs durch die Abenteuer seiner Helden und konfrontieren ihn mit den potentiellen Veränderungen, die jederzeit sintflutartig ins ruhige Leben einbrechen und alles mit sich reißen könnten. Erstaunliche Sogwirkung entwickeln "Drei Schwestern". Heidi, die Frau im Mittelpunkt, entdeckt auf Umwegen ihre eigentliche sexuelle Orientierung. Bis dahin durchläuft sie allerdings einen verzwickten Parcours von fatalen Irrtümern. Sie will Malerin werden und lässt sich von einer älteren Künstlerin unterrichten. Bereits in dieser Phase wird sie aber durch undurchsichtige Vorkommnisse irritiert, die sie sich nicht erklären kann und auf der Stelle verleugnet. Einmal zieht Renate die Schülerin nach dem Unterricht ins Wohnzimmer. Beide sind barfuß, Heidi riecht den angenehmen Körpergeruch der Lehrerin und bemerkt überrascht, wie die Frau sie leichthin umarmt. Renate zieht unter einem Stapel von Zeichnungen der Schülerin ein Bild hervor, das anders ist als die anderen: Das sei eine Vulva. Auf der Reise nach Wien, wo sich Heidi für die Akademie der Künste bewerben will, wiederholt sich der Vorgang. Die deutsche Kollegin, die sie zufällig kennenlernt, will auf ihren Bildern lauter Muschis entdeckt haben - eine Beobachtung, die Heidi in den Wind schlägt. Schließlich begegnet die Frau Rainer, wird schwanger, bringt den Mann als willkommenen Schwiegersohn nach Hause, heiratet - und entfremdet sich ihm bald auf unbegreifliche Art. Stamm lässt uns bis zuletzt im Ungewissen. Mit gezielten Suggestionen und zeichenhaften Anspielungen öffnet er Assoziationsräume, stimuliert die Einbildungskraft und hebt versunkene Bilder ins Bewusstsein. Erwartungen laufen ins Leere. Man erfährt nur, dass Heidi Carmen trifft, die sich nicht für Jungs interessiert. Gemeinsam kaufen sie Unterwäsche, lassen sich schminken und frisieren. Die Freundinnen halten all dies mit der Videokamera fest - ein raffinierter Schachzug: Die Wahrheit der sexuellen Identität zischt gewissermaßen immer wieder auf und verglüht; sie lässt sich nur in den gespiegelten Bildern ablesen.
In solchen Texten zeigt sich Peter Stamm auf der Höhe seiner Kunst. Sein Spiel mit Leerstellen und virtuellen Wirklichkeiten übersetzt sich in eine schnörkellose Sprache. Wortkarg und beiläufig bildet er die vielschichtige Wirklichkeit ab und erzeugt eine elektrisierende Atmosphäre. Das ist als literarische Versuchsanlage nicht wenig.
- Peter Stamm: "Wir fliegen". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008. 175 S., geb., 17,90 [Euro].
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