»Mit dieser Autorin würde ich überall hingehen.« Sandra Hüller
Es gibt diesen Moment, in dem das eigene Universum zerbricht und weit und breit kein neues in Sicht ist. Über diesen Moment schreibt Karen Köhler. Ihre Figuren stellen sich mit Phantasie dem Leben entgegen, sei es an Bord eines Kreuzfahrtschiffes namens »DeinSchiff«, in der kalifornischen Wüste oder in der sibirischen Wildnis: Kapitulieren kommt nicht in Frage.
Es gibt diesen Moment, in dem das eigene Universum zerbricht und weit und breit kein neues in Sicht ist. Über diesen Moment schreibt Karen Köhler. Ihre Figuren stellen sich mit Phantasie dem Leben entgegen, sei es an Bord eines Kreuzfahrtschiffes namens »DeinSchiff«, in der kalifornischen Wüste oder in der sibirischen Wildnis: Kapitulieren kommt nicht in Frage.
CD 1 | |||
1 | Il comandante | 00:20:00 | |
2 | Eine Stunde später schiebe ich... | 00:15:48 | |
3 | Cowboy und Indianer | 00:22:23 | |
4 | Sie war neu auf der Schule... | 00:16:12 | |
CD 2 | |||
1 | Aus dem Radio kommt... | 00:12:38 | |
2 | Ich bin eingeschlafen... | 00:16:26 | |
3 | Polarkreis | 00:16:35 | |
4 | Name.Tier.Beruf. | 00:19:36 | |
CD 3 | |||
1 | Wir haben Raketen geangelt | 00:17:20 | |
2 | Familienportraits | 00:14:32 | |
3 | No. 5... | 00:12:38 | |
4 | Starcode Red | 00:14:08 | |
5 | Als ich aufwachte... | 00:18:14 | |
CD 4 | |||
1 | Lofoten... | 00:10:14 | |
2 | Wild ist scheu | 00:16:17 | |
3 | Tag Elf... | 00:15:54 | |
4 | Findling | 00:13:22 | |
5 | Nachdem Natascha... | 00:14:06 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2014Unser Schmerz
Erzählungen am offenen Herzen: Karen Köhlers phänomenales Debüt
Siebzehn Postkarten aus dem Nirgendwo. Er ist fortgelaufen am Morgen, eine Szene wie im Film. "Versuche etwas herauszufinden", stand auf der ersten Karte und "Mein Telefon ist aus". Sie sitzt am Küchentisch, allein, verloren, wartet auf das "Plopp" im Briefkasten vor der Tür. Es ist nicht viel, was er schreibt, nichts Wichtiges. Und doch hängt an seinen Zeilen ein Leben, ihr Leben. Sie hofft und betet, dass er zurückkommt, dass er ihr mit einem Lächeln aus dem Leid hilft wie aus einem schweren Mantel. Aber er schreibt nur "Halt durch" und "Hab Vespa fahren gelernt". Manchmal ist ein kurzes PS dabei, die Zitronen seien hier groß wie Bauarbeiterfäuste.
Wozu das alles, warum nur? Neapel, Ischia, Stromboli - die Stempel auf den Karten verraten Ort und Datum, zeigen ihr hämisch die wachsende Entfernung, immer wieder aufs Neue. Und sie bleibt sitzen und fröstelt. Mit jedem Satz auf der Karte pellt sich eine weitere Schutzschicht von ihrem Herzen ab, bis es schließlich offen daliegt, ganz ungeschützt und nackt. "Ich brauche noch", schreibt er, aber dann auch wieder: "Ich vermisse Dich". Es ist ein Handel auf ungleicher Ebene: Der eine ist gegangen, kann schreiben und zögern, ganz nach Belieben, die andere ist geblieben, abgelegt worden, verdammt zum Warten. Sie ruft an, immer wieder, um ihre Nachrichten nach dem Piepton in ein leeres Loch zu schicken.
Die zwölfte Karte zeigt Amalfi bei Nacht - eine Katze überfahren, der Rucksack geklaut, ein Grappa aufs Haus. Und auf einmal steht da wieder: "In Liebe", "Ich warte auf Dich". Und nun? Was jetzt? Wird sie hinfahren, Hals über Kopf, mit wehendem Schal auf ihn zulaufen am Kai? Oder wird sie bleiben, Stille und Stolz bewahren, jetzt, da sich alles umkehrt. Wird sie die Postkarten in die Tischschublade einschließen, sich das Haar richten und auf die Straße treten? Man weiß es nicht. Es kommen keine Karten mehr, die letzte Seite bleibt weiß. Nur unten rechts wartet mit buschigem Schwanz ein kleiner Luchs im Scherenschnitt, um den Leser hinüber zu geleiten zur nächsten Geschichte. "Polarkreis" heißt die Erzählung, nur wenige Sätze stehen da jeweils, gerade eben so viele, wie auf eine Postkarte passen. So viele, wie es braucht, um sich in eine Trennungsgeschichte einzufühlen. Mit all ihrer Gemeinheit, Traurigkeit, Ungerechtigkeit und Falschheit. Und der verzweifelten Enttäuschung darüber, dass er, der doch eben noch der Engvertraute war, auf einmal fern ist. Das ist am Ende doch der größte Betrug, dass da einer mir nichts, dir nichts einfach so zum Fremden wird.
Um dann vielleicht auf einmal wieder vor der Tür zu stehen. Einfach so. Als wäre nichts gewesen. Wie in "Name.Tier.Beruf", einer anderen Erzählung von Karen Köhler. Ein Weggegangener im Großstadtanzug und eine Hiergebliebene mit Abwaschschaum im Haar, im Schrillen der Türklingel verdichten sich fünfzehn Jahre: "Kann ich reinkommen?" Es ist der Moment, in dem das Gedächtnis vom Jetzt überfallen wird. Im bemüht unbeteiligten Austausch der gemeinsamen Dorfjugenderinnerung zerrinnt die lang gehegte Wunschvorstellung von der ersten Wiederbegegnung zur Plattitüde mit Wodkashots und Gewürzgurken. "Ich hab damals sogar deinen Müll durchsucht", sagt sie. "Verrückte Nudel", sagt er. Und später dann, wenn sie beide auf dem Friedhof stehen, wo ihre Schwester liegt, die damals älter, hübscher und deshalb seine Freundin war, bis sie an den Baum fuhr und er aus Trauer in der Scheune einmal die jüngere nahm, als sie da stehen, ohne Mond, da sagt sie schnell und platt: "Da liegt auch dein Baby. Ich habs mit reingelegt, als ichs verlor."
Die existentielle Wucht, mit der den Leser die Sätze treffen, rührt nicht von besonders ausgefallenen Szenenbeschreibungen, nicht vom ungewöhnlichen und effektvollen Handlungsverlauf. Es ist vor allem der besondere, an den amerikanischen Theaterautor Neil LaBute erinnernde Grundton, der kompromisslos direkt aufs Ganze hin zielt, der immer nah am Abgrund spielt, der einen so aus der Fassung bringt.
Karen Köhler, 1974 in Hamburg geboren, hat Schauspiel studiert und war einige Jahre am Theater engagiert. Auf ihrer Website steht, dass sie eigentlich Kosmonautin werden wollte, Fallschirmspringen gelernt und Performances mit Sandra Hüller aufgeführt hat. Bisher hat sie vor allem Theaterstücke für Kinder und Erwachsene geschrieben, "Wir haben Raketen geangelt" ist ihr erster Prosaband, mit dem sie gleich nach Klagenfurt eingeladen wurde. Aber dann bekam sie die Windpocken und konnte nicht fahren. Schicksalhaftes Anfängerglück.
Ihr Erzählband wartet mit einem reichen Panorama auf. Vom kranken Indianer in der Wüstenraststätte bis zur philosophierenden Einsiedlerin im russischen Hochland, jede der Geschichten setzt neu, an ganz anderer Stelle an und findet doch wieder zum einen Thema zurück: Fast immer geht es in Köhlers Erzählungen um den ewig lang hinausgezögerten oder sich ganz unvermittelt einstellenden Moment der Trennung. Vom Partner, vom Beruf, vom Leben.
Eine junge Frau auf einem Hochsitz an einer kleinen Lichtung. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Bis zum Schluss zu bleiben. Die Kälte dringt durch die Ritzen, der Hunger sticht ihr zwischen die Rippen. In der Stille der Morgendämmerung liegt sie wach und malt sich Speisemenüs aus. Jeden Tag schreibt sie ein paar Sätze auf, gegen die Sirenen des Rettungswagens, gegen die Lippen der Polizisten, die die Nachricht vom Unfalltod ihres Mannes formten. "Für Dich, B. Ich schreibe alles auf". Die Bewegungen werden anstrengender, die Nächte immer klammer, die Einträge knapper: "Mir ist heut nicht viel" und "Du fehlst mir so". Am Ende, als die Zunge sich schwer und fremd anfühlt, keinen Speichel mehr produzieren will und die Haut zu Pergament geworden ist, als die letzten Erinnerungskaskaden wie beim Daumenkino immer schneller vorbeirasen, kommt der Schnee und legt sich sanft auf das verglühende Herz.
Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Beschreibung der unendlichen Verzweiflung und des erlösenden Selbstmords im Schnee erinnert "Wild ist Scheu" an Vladimir Nabokovs "Der Pol", jene Schilderung der letzten Lebensminuten des glücklosen Südpolreisenden Robert F. Scott, der auf dem Rückmarsch seiner gescheiterten Expedition entkräftet, übermüdet und hungrig im Schnee erfriert - sein Tagebuch in der Hand. Ein Abschied in Stille, ganz wie der der jungen Frau auf dem Hochstand, am Rand des Waldes, bewacht von den grasenden Rehen.
Das Wunderbare, ungemein Suggestive an dieser neuen jungen Autorinnenstimme ist ihr Mut zum Wiedererzählen. Sie kennt keine Angst vor Sonnenuntergängen, vor dem Zettel auf dem Küchentisch mit dem Satz "Bin Zigaretten holen" oder den zwei Mädchen auf der Schultoilette, die sich ewige Freundschaft schwören. Auch der absurde Horror einer Kreuzschifffahrt wird beschrieben, ganz egal, ob sich das nach David Foster Wallace eigentlich noch jemand trauen sollte oder nicht. Viele der Szenen und Sätze, die hier vorkommen, meint man wiederzuerkennen, sind gesammelte Werkstücke aus unserem kollektiven Erfahrungsschatz.
Vielleicht ist das für den einen oder anderen Leser nicht genug. Vielleicht taugen die hingeschleuderte Wehmut und der schlichte Satzbau nicht als Aufhänger für das reflexhaft verliehene Gütesiegel einer neuen, immer noch dringlicheren Generation deutscher Gegenwartsliteratur. Und vielleicht reicht das Provokationspotential nicht aus, um eine Kritikerjury in Rage zu bringen. Aber: Wen interessieren am Ende die Jurys und Klappentextsiegel, wenn man an einem dieser sommerlichen Gewitterabende zu Hause sitzt, ohne Mut und mit leerem Kühlschrank, und einem Köhlers Sätze gegen den Kopf schlagen wie zurückschnellende Äste im Dickicht des Alltags.
Hier gibt es keine hochtrabende Programmatik, keinen Drang, gegen irgendjemanden Positionskriege zu führen, weder Standortbestimmung noch Ideologie ist Ziel der Unternehmung. Es geht ums Geschichten-Erzählen und ums Stimulieren von Gefühl und Sinn. Dabei hat die Autorin auch keine Angst vor dem halbhohen Ton. Zum Glück, denn ihre Sprache nimmt so mitunter lyrische Züge an, spannt die Flügel der Seele weit auf. Im besten Sinne altmodisch ist Köhler in ihrem Vertrauen auf die emotionale Fähigkeit des Lesers, sich von Bildern und Worten anrühren zu lassen.
"Findling" heißt die letzte Geschichte, in der eine alte sterbende Frau einen Brief schreibt an den, der ihren Körper einst finden wird. Berührende und traurige Worte einer einsamen Baucis: "Aber du wirst kommen, eines Tages, ich weiß es, du wirst kommen und mich den Hügel hinauftragen zu den Meinmeinen. Ich bin alt und schwach, ich weiß, dass ich den Frühling nicht mehr sehen werde. Wenn Du mich findest, bitte, lege mich zu den Meinmeinen. Ich habe mir ein Grab ausgehoben. Vor langer Zeit schon, als ich noch Kraft genug hatte. Auch ein Kreuz liegt bereit. Es steht hier neben dem Bett. Mein Name steht drauf. Ich bin Asja. Das war mein Leben. Dies ist mein siebzigster Winter."
Wie gut, dass die Autorin Windpocken bekommen hat, die Krankheit hat ihr (und uns) eingeübte Betriebsdiskussionen erspart. Sentimentalische Dichtung hieß einmal eine Gattung in der Literatur, an die man hier denkt. Aber Karen Köhler braucht kein Gütesiegel. Ihre Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt.
SIMON STRAUSS
Karen Köhler: "Wir haben Raketen geangelt". Erzählungen. Hanser-Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erzählungen am offenen Herzen: Karen Köhlers phänomenales Debüt
Siebzehn Postkarten aus dem Nirgendwo. Er ist fortgelaufen am Morgen, eine Szene wie im Film. "Versuche etwas herauszufinden", stand auf der ersten Karte und "Mein Telefon ist aus". Sie sitzt am Küchentisch, allein, verloren, wartet auf das "Plopp" im Briefkasten vor der Tür. Es ist nicht viel, was er schreibt, nichts Wichtiges. Und doch hängt an seinen Zeilen ein Leben, ihr Leben. Sie hofft und betet, dass er zurückkommt, dass er ihr mit einem Lächeln aus dem Leid hilft wie aus einem schweren Mantel. Aber er schreibt nur "Halt durch" und "Hab Vespa fahren gelernt". Manchmal ist ein kurzes PS dabei, die Zitronen seien hier groß wie Bauarbeiterfäuste.
Wozu das alles, warum nur? Neapel, Ischia, Stromboli - die Stempel auf den Karten verraten Ort und Datum, zeigen ihr hämisch die wachsende Entfernung, immer wieder aufs Neue. Und sie bleibt sitzen und fröstelt. Mit jedem Satz auf der Karte pellt sich eine weitere Schutzschicht von ihrem Herzen ab, bis es schließlich offen daliegt, ganz ungeschützt und nackt. "Ich brauche noch", schreibt er, aber dann auch wieder: "Ich vermisse Dich". Es ist ein Handel auf ungleicher Ebene: Der eine ist gegangen, kann schreiben und zögern, ganz nach Belieben, die andere ist geblieben, abgelegt worden, verdammt zum Warten. Sie ruft an, immer wieder, um ihre Nachrichten nach dem Piepton in ein leeres Loch zu schicken.
Die zwölfte Karte zeigt Amalfi bei Nacht - eine Katze überfahren, der Rucksack geklaut, ein Grappa aufs Haus. Und auf einmal steht da wieder: "In Liebe", "Ich warte auf Dich". Und nun? Was jetzt? Wird sie hinfahren, Hals über Kopf, mit wehendem Schal auf ihn zulaufen am Kai? Oder wird sie bleiben, Stille und Stolz bewahren, jetzt, da sich alles umkehrt. Wird sie die Postkarten in die Tischschublade einschließen, sich das Haar richten und auf die Straße treten? Man weiß es nicht. Es kommen keine Karten mehr, die letzte Seite bleibt weiß. Nur unten rechts wartet mit buschigem Schwanz ein kleiner Luchs im Scherenschnitt, um den Leser hinüber zu geleiten zur nächsten Geschichte. "Polarkreis" heißt die Erzählung, nur wenige Sätze stehen da jeweils, gerade eben so viele, wie auf eine Postkarte passen. So viele, wie es braucht, um sich in eine Trennungsgeschichte einzufühlen. Mit all ihrer Gemeinheit, Traurigkeit, Ungerechtigkeit und Falschheit. Und der verzweifelten Enttäuschung darüber, dass er, der doch eben noch der Engvertraute war, auf einmal fern ist. Das ist am Ende doch der größte Betrug, dass da einer mir nichts, dir nichts einfach so zum Fremden wird.
Um dann vielleicht auf einmal wieder vor der Tür zu stehen. Einfach so. Als wäre nichts gewesen. Wie in "Name.Tier.Beruf", einer anderen Erzählung von Karen Köhler. Ein Weggegangener im Großstadtanzug und eine Hiergebliebene mit Abwaschschaum im Haar, im Schrillen der Türklingel verdichten sich fünfzehn Jahre: "Kann ich reinkommen?" Es ist der Moment, in dem das Gedächtnis vom Jetzt überfallen wird. Im bemüht unbeteiligten Austausch der gemeinsamen Dorfjugenderinnerung zerrinnt die lang gehegte Wunschvorstellung von der ersten Wiederbegegnung zur Plattitüde mit Wodkashots und Gewürzgurken. "Ich hab damals sogar deinen Müll durchsucht", sagt sie. "Verrückte Nudel", sagt er. Und später dann, wenn sie beide auf dem Friedhof stehen, wo ihre Schwester liegt, die damals älter, hübscher und deshalb seine Freundin war, bis sie an den Baum fuhr und er aus Trauer in der Scheune einmal die jüngere nahm, als sie da stehen, ohne Mond, da sagt sie schnell und platt: "Da liegt auch dein Baby. Ich habs mit reingelegt, als ichs verlor."
Die existentielle Wucht, mit der den Leser die Sätze treffen, rührt nicht von besonders ausgefallenen Szenenbeschreibungen, nicht vom ungewöhnlichen und effektvollen Handlungsverlauf. Es ist vor allem der besondere, an den amerikanischen Theaterautor Neil LaBute erinnernde Grundton, der kompromisslos direkt aufs Ganze hin zielt, der immer nah am Abgrund spielt, der einen so aus der Fassung bringt.
Karen Köhler, 1974 in Hamburg geboren, hat Schauspiel studiert und war einige Jahre am Theater engagiert. Auf ihrer Website steht, dass sie eigentlich Kosmonautin werden wollte, Fallschirmspringen gelernt und Performances mit Sandra Hüller aufgeführt hat. Bisher hat sie vor allem Theaterstücke für Kinder und Erwachsene geschrieben, "Wir haben Raketen geangelt" ist ihr erster Prosaband, mit dem sie gleich nach Klagenfurt eingeladen wurde. Aber dann bekam sie die Windpocken und konnte nicht fahren. Schicksalhaftes Anfängerglück.
Ihr Erzählband wartet mit einem reichen Panorama auf. Vom kranken Indianer in der Wüstenraststätte bis zur philosophierenden Einsiedlerin im russischen Hochland, jede der Geschichten setzt neu, an ganz anderer Stelle an und findet doch wieder zum einen Thema zurück: Fast immer geht es in Köhlers Erzählungen um den ewig lang hinausgezögerten oder sich ganz unvermittelt einstellenden Moment der Trennung. Vom Partner, vom Beruf, vom Leben.
Eine junge Frau auf einem Hochsitz an einer kleinen Lichtung. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Bis zum Schluss zu bleiben. Die Kälte dringt durch die Ritzen, der Hunger sticht ihr zwischen die Rippen. In der Stille der Morgendämmerung liegt sie wach und malt sich Speisemenüs aus. Jeden Tag schreibt sie ein paar Sätze auf, gegen die Sirenen des Rettungswagens, gegen die Lippen der Polizisten, die die Nachricht vom Unfalltod ihres Mannes formten. "Für Dich, B. Ich schreibe alles auf". Die Bewegungen werden anstrengender, die Nächte immer klammer, die Einträge knapper: "Mir ist heut nicht viel" und "Du fehlst mir so". Am Ende, als die Zunge sich schwer und fremd anfühlt, keinen Speichel mehr produzieren will und die Haut zu Pergament geworden ist, als die letzten Erinnerungskaskaden wie beim Daumenkino immer schneller vorbeirasen, kommt der Schnee und legt sich sanft auf das verglühende Herz.
Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Beschreibung der unendlichen Verzweiflung und des erlösenden Selbstmords im Schnee erinnert "Wild ist Scheu" an Vladimir Nabokovs "Der Pol", jene Schilderung der letzten Lebensminuten des glücklosen Südpolreisenden Robert F. Scott, der auf dem Rückmarsch seiner gescheiterten Expedition entkräftet, übermüdet und hungrig im Schnee erfriert - sein Tagebuch in der Hand. Ein Abschied in Stille, ganz wie der der jungen Frau auf dem Hochstand, am Rand des Waldes, bewacht von den grasenden Rehen.
Das Wunderbare, ungemein Suggestive an dieser neuen jungen Autorinnenstimme ist ihr Mut zum Wiedererzählen. Sie kennt keine Angst vor Sonnenuntergängen, vor dem Zettel auf dem Küchentisch mit dem Satz "Bin Zigaretten holen" oder den zwei Mädchen auf der Schultoilette, die sich ewige Freundschaft schwören. Auch der absurde Horror einer Kreuzschifffahrt wird beschrieben, ganz egal, ob sich das nach David Foster Wallace eigentlich noch jemand trauen sollte oder nicht. Viele der Szenen und Sätze, die hier vorkommen, meint man wiederzuerkennen, sind gesammelte Werkstücke aus unserem kollektiven Erfahrungsschatz.
Vielleicht ist das für den einen oder anderen Leser nicht genug. Vielleicht taugen die hingeschleuderte Wehmut und der schlichte Satzbau nicht als Aufhänger für das reflexhaft verliehene Gütesiegel einer neuen, immer noch dringlicheren Generation deutscher Gegenwartsliteratur. Und vielleicht reicht das Provokationspotential nicht aus, um eine Kritikerjury in Rage zu bringen. Aber: Wen interessieren am Ende die Jurys und Klappentextsiegel, wenn man an einem dieser sommerlichen Gewitterabende zu Hause sitzt, ohne Mut und mit leerem Kühlschrank, und einem Köhlers Sätze gegen den Kopf schlagen wie zurückschnellende Äste im Dickicht des Alltags.
Hier gibt es keine hochtrabende Programmatik, keinen Drang, gegen irgendjemanden Positionskriege zu führen, weder Standortbestimmung noch Ideologie ist Ziel der Unternehmung. Es geht ums Geschichten-Erzählen und ums Stimulieren von Gefühl und Sinn. Dabei hat die Autorin auch keine Angst vor dem halbhohen Ton. Zum Glück, denn ihre Sprache nimmt so mitunter lyrische Züge an, spannt die Flügel der Seele weit auf. Im besten Sinne altmodisch ist Köhler in ihrem Vertrauen auf die emotionale Fähigkeit des Lesers, sich von Bildern und Worten anrühren zu lassen.
"Findling" heißt die letzte Geschichte, in der eine alte sterbende Frau einen Brief schreibt an den, der ihren Körper einst finden wird. Berührende und traurige Worte einer einsamen Baucis: "Aber du wirst kommen, eines Tages, ich weiß es, du wirst kommen und mich den Hügel hinauftragen zu den Meinmeinen. Ich bin alt und schwach, ich weiß, dass ich den Frühling nicht mehr sehen werde. Wenn Du mich findest, bitte, lege mich zu den Meinmeinen. Ich habe mir ein Grab ausgehoben. Vor langer Zeit schon, als ich noch Kraft genug hatte. Auch ein Kreuz liegt bereit. Es steht hier neben dem Bett. Mein Name steht drauf. Ich bin Asja. Das war mein Leben. Dies ist mein siebzigster Winter."
Wie gut, dass die Autorin Windpocken bekommen hat, die Krankheit hat ihr (und uns) eingeübte Betriebsdiskussionen erspart. Sentimentalische Dichtung hieß einmal eine Gattung in der Literatur, an die man hier denkt. Aber Karen Köhler braucht kein Gütesiegel. Ihre Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt.
SIMON STRAUSS
Karen Köhler: "Wir haben Raketen geangelt". Erzählungen. Hanser-Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Karen Köhlers Debüt "Wir haben Raketen geangelt" enthält neun Erzählungen und nicht ein einziges "beliebiges Wort", berichtet Ursula März. Die scheinbar zeitgeisttypisch gehaltene Sprache könnte leicht darüber hinwegtäuschen, wie präzise die Autorin in ihren Formulierungen ist, weiß die Rezensentin, die ganz angetan von den temperamentvollen, künstlerisch autonomen und raffiniert konstruierten Erzählungen ist und ihnen "Virtuosität" und einen "fetzigen Sound" attestiert. Die Erzählung "Polarkreis" bestehe etwa nur aus zwei Briefen und siebzehn Postkarten, während die titelgebende Story aus 31 Kurzszenen, Dialogen und Musikstücken zusammengesetzt ist, die sich erst nach der Lektüre als Nekrolog auf einen verstorbenen Freund herausstellen. Die meisten Figuren verlieren erst alle Sicherheiten - meist in Form von Jobs und Gepäck, verrät März - und werden nur mühsam, falls überhaupt, gerettet. Hier ist "Meisterschaft am Werk", jubelt die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2014Zum Unglück? Erste Abzweigung links
Temporeiche Katastrophen-Kreuzfahrt: Karen Köhlers Erzählungsband „Wir haben Raketen geangelt“
Trennungen und Todesfälle, Krebs und Chemotherapie, zwei vollendete Selbstmorde und ein in Arbeit befindlicher, ferner eine Fehlgeburt, Trunksucht, Demenz, Inzest, ein Vergewaltigungsversuch und eine rassistisch motivierte Schlägerei: Lauter schlimme Geschichten sind es, die Karen Köhler, Jahrgang 1974, in ihrem Debüt-Prosaband versammelt. Einmal ist denn auch, als wär’s ein Resümee, die Rede von der „Beschissenheit der Welt“, doch das geht ein wenig unter, weil Kommentare wie „Scheiße“, „Shit“ oder „Fuck“ auch an anderen Stellen die Dinge auf den Punkt bringen. Köhlers Ich-Erzählerinnen, mit einer Ausnahme eher jung, schleppen schwere Schicksalspakete über kurze und kürzeste Erzählstrecken, deshalb muss ihre Sprache so lakonisch wie möglich sein und zugleich ein Höchstmaß an Dramatik transportieren. Denn hier geht es immer ums Äußerste, um Grenzsituationen und extreme Gefühlszustände.
„Ich verletzte mich an allem“, heißt es im Bericht einer Frau, die von ihrem Lebensgefährten verlassen wurde. „Am Zahnputzbecher. Dem stummen Telefon. Gerüchen. Und Gerüchen, die verblassten. An Musik. An Freunden und Bekannten, die es alle schon viel früher wussten. Ich verletzte mich an meinem Alter. An der Straße. An Büchern und Tageszeitungen. Der Post im Briefkasten. Der Post, die nicht mehr im Briefkasten war.“ Die Frau ist Schauspielerin, wie übrigens auch Karen Köhler in ihrem Erstberuf. Zwecks Trauerbewältigung hat sie in der Entertainment-Crew eines Kreuzfahrtschiffs angeheuert, als „erste Qualle von links“ in einem Unterwassermusical. Und schon ereignet sich das nächste Unglück, das die Heldin zwar nicht direkt betrifft, aber Zeichencharakter hat: „Ob wir es schon gehört haben? Was denn? Das mit der Leiche? Welcher Leiche? Die jetzt in einem Kühlraum auf Deck 2 liegt! Was? Ja! Seit wann? Seit letzter Nacht. Und wer ist der Tote? Ein Mann, schon älter. Pax oder Crew? Pax. Wann ist es passiert? Gestern Abend. Herzinfarkt. Kurz hat er noch gelebt.“
Man muss sich Karen Köhlers Erzählsound über weite Strecken so vorstellen wie dieses kurzatmige Katastrophen-Kommuniqué. Die Anmutung ist zunächst einmal cool, flott und fetzig, da hier immerhin ein gutes Gespür für Rhythmus am Werk ist. Mitunter wird das Stakkato sanfter und gewinnt nahezu lyrische Qualitäten, etwa wenn die Kreuzfahrerin auf den Lofoten den kühnen Entschluss fasst, an Land zu bleiben, und das Auslaufen ihres schwimmenden Wohlfühlghettos von einem Berggipfel aus beobachtet: „Vereinzelt fallen Sonnenstrahlen durch die Wolkenlöcher. Ein Polizeiwagen fährt auf einer Straße. Ein Wasserfall rauscht irgendwo. Aus Miniaturhäuserschornsteinen steigt Rauch. Auf einem Campingplatz treffen sich Motorradfahrer. Ein Regenbogen spannt sich auf. Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut. Drei Mal tutet das deutsche Schiff. Und fährt.“
Unübersehbar kündigt sich hier eine Heilung der Verletzung an, eine Befreiung, ein Wiedergewinn der Autonomie. Das ist offenbar Karen Köhlers Anliegen: Mit minimalistischen Mitteln Bedeutung zu schaffen, Bewegungen der Seele darzustellen, aber auch unerklärliche Fügungen zu insinuieren – und Furchtbares durch einen poetisch erzeugten Hoffnungsschimmer zu mildern. Oft gelingt es ihr, manchmal landet sie dort, wo Frauenmagazine ihre Leserinnen abholen.
In der Schiffsgeschichte mit dem Alarmleuchten-Titel „Starcode Red“ ist die Ausgangslage noch vergleichsweise harmlos, ebenso wie in „Cowboy und Indianer“, wo die psychisch angeschlagene Erzählerin im Death Valley von einer leibhaftigen Rothaut vor dem Hitzetod gerettet wird und nach einem Autotrip voller Entbehrungen kathartische Erleichterung findet. Und in „Name. Tier. Beruf“ hat die Heldin nach der Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund, die schmerzhafte Verluste in Erinnerung ruft, sogar das Gefühl, „dass da jetzt ein Ort in mir ist“.
Härter trifft es die Tagebuchschreiberin in „Wild ist scheu“, die sich auf einem spätherbstlichen Hochsitz zu Tode hungert, nachdem ihr Partner bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. In der aus 31 miniaturkurzen Szenen bestehenden Titelstory „Wir haben Raketen geangelt“ hat sich der Freund mit Tabletten umgebracht, und im Eingangsstück „Il Comandante“ verbinden sich die schonungslos geschilderten Schrecken der Krebstherapie mit der Trauer um einen Mitpatienten, der wie ein geheimnisvoller Beistand plötzlich auftaucht, Kraft spendet und bald darauf das Zeitliche segnet. Einigermaßen gruselig geht es auch in den sechs kurzen „Familienportraits“ zu, die womöglich, das wird nicht ganz klar, Motive und Figuren der längeren Geschichten wieder aufnehmen. Aus dem Rahmen fällt „Polarkreis“, die eher unaufgeregte Postkarten- und Briefserie einer Beziehungsflüchtigen: Sie gönnt sich eine Auszeit in Italien, merkt aber schon nach einem Monat, dass ihr an einem Happy End mit Ring auf der Insel Stromboli gelegen ist.
Und dann gibt es da noch den Monolog einer Greisin im ländlichen Russland, auf dem Sterbebett notiert – die alte Frau hat es schwer gehabt im Leben, dennoch bleibt dunkel, was diese brave Rollenprosa unter Karen Köhlers gegenwartsnahen, zeitgeistgefärbten Texten zu suchen hat. Vielleicht handelt es sich um eine Fingerübung in Langsamkeit, im Zuendeschreiben von Sätzen und im ruhigen Gebrauch der Vergangenheitsform nach all den atemlosen Ellipsen, dem Präsens-Rausch zwischen Dramen- und Reportagestil. Wenn dem aber so ist, dann könnte das erklären, warum auch der Rest des Bandes, diese ganze Kollektion existenzieller Traumata, romantischer Träume und exotischer Phantasien, mitsamt ihrem rotzig-juvenilen Pathos zuweilen etwas angestrengt wirkt, so sehr um Lockerheit und Authentizität bemüht, dass die Glaubwürdigkeit leidet: Karen Köhler besitzt ein bemerkenswertes Erzähltalent, aber sie übt noch, und das ist ihr gutes Recht. Komisch nur, dass sie bei ihrer Affinität zu allem Amerikanischen den berühmten Energydrink „Gatorade“ mehrmals falsch buchstabiert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Sammelt Traumata und romantische Träume: Karen Köhler.
Foto: Lumma-Foto
Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt.
Erzählungen. Carl Hanser Verlag, München 2014.
240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Temporeiche Katastrophen-Kreuzfahrt: Karen Köhlers Erzählungsband „Wir haben Raketen geangelt“
Trennungen und Todesfälle, Krebs und Chemotherapie, zwei vollendete Selbstmorde und ein in Arbeit befindlicher, ferner eine Fehlgeburt, Trunksucht, Demenz, Inzest, ein Vergewaltigungsversuch und eine rassistisch motivierte Schlägerei: Lauter schlimme Geschichten sind es, die Karen Köhler, Jahrgang 1974, in ihrem Debüt-Prosaband versammelt. Einmal ist denn auch, als wär’s ein Resümee, die Rede von der „Beschissenheit der Welt“, doch das geht ein wenig unter, weil Kommentare wie „Scheiße“, „Shit“ oder „Fuck“ auch an anderen Stellen die Dinge auf den Punkt bringen. Köhlers Ich-Erzählerinnen, mit einer Ausnahme eher jung, schleppen schwere Schicksalspakete über kurze und kürzeste Erzählstrecken, deshalb muss ihre Sprache so lakonisch wie möglich sein und zugleich ein Höchstmaß an Dramatik transportieren. Denn hier geht es immer ums Äußerste, um Grenzsituationen und extreme Gefühlszustände.
„Ich verletzte mich an allem“, heißt es im Bericht einer Frau, die von ihrem Lebensgefährten verlassen wurde. „Am Zahnputzbecher. Dem stummen Telefon. Gerüchen. Und Gerüchen, die verblassten. An Musik. An Freunden und Bekannten, die es alle schon viel früher wussten. Ich verletzte mich an meinem Alter. An der Straße. An Büchern und Tageszeitungen. Der Post im Briefkasten. Der Post, die nicht mehr im Briefkasten war.“ Die Frau ist Schauspielerin, wie übrigens auch Karen Köhler in ihrem Erstberuf. Zwecks Trauerbewältigung hat sie in der Entertainment-Crew eines Kreuzfahrtschiffs angeheuert, als „erste Qualle von links“ in einem Unterwassermusical. Und schon ereignet sich das nächste Unglück, das die Heldin zwar nicht direkt betrifft, aber Zeichencharakter hat: „Ob wir es schon gehört haben? Was denn? Das mit der Leiche? Welcher Leiche? Die jetzt in einem Kühlraum auf Deck 2 liegt! Was? Ja! Seit wann? Seit letzter Nacht. Und wer ist der Tote? Ein Mann, schon älter. Pax oder Crew? Pax. Wann ist es passiert? Gestern Abend. Herzinfarkt. Kurz hat er noch gelebt.“
Man muss sich Karen Köhlers Erzählsound über weite Strecken so vorstellen wie dieses kurzatmige Katastrophen-Kommuniqué. Die Anmutung ist zunächst einmal cool, flott und fetzig, da hier immerhin ein gutes Gespür für Rhythmus am Werk ist. Mitunter wird das Stakkato sanfter und gewinnt nahezu lyrische Qualitäten, etwa wenn die Kreuzfahrerin auf den Lofoten den kühnen Entschluss fasst, an Land zu bleiben, und das Auslaufen ihres schwimmenden Wohlfühlghettos von einem Berggipfel aus beobachtet: „Vereinzelt fallen Sonnenstrahlen durch die Wolkenlöcher. Ein Polizeiwagen fährt auf einer Straße. Ein Wasserfall rauscht irgendwo. Aus Miniaturhäuserschornsteinen steigt Rauch. Auf einem Campingplatz treffen sich Motorradfahrer. Ein Regenbogen spannt sich auf. Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut. Drei Mal tutet das deutsche Schiff. Und fährt.“
Unübersehbar kündigt sich hier eine Heilung der Verletzung an, eine Befreiung, ein Wiedergewinn der Autonomie. Das ist offenbar Karen Köhlers Anliegen: Mit minimalistischen Mitteln Bedeutung zu schaffen, Bewegungen der Seele darzustellen, aber auch unerklärliche Fügungen zu insinuieren – und Furchtbares durch einen poetisch erzeugten Hoffnungsschimmer zu mildern. Oft gelingt es ihr, manchmal landet sie dort, wo Frauenmagazine ihre Leserinnen abholen.
In der Schiffsgeschichte mit dem Alarmleuchten-Titel „Starcode Red“ ist die Ausgangslage noch vergleichsweise harmlos, ebenso wie in „Cowboy und Indianer“, wo die psychisch angeschlagene Erzählerin im Death Valley von einer leibhaftigen Rothaut vor dem Hitzetod gerettet wird und nach einem Autotrip voller Entbehrungen kathartische Erleichterung findet. Und in „Name. Tier. Beruf“ hat die Heldin nach der Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund, die schmerzhafte Verluste in Erinnerung ruft, sogar das Gefühl, „dass da jetzt ein Ort in mir ist“.
Härter trifft es die Tagebuchschreiberin in „Wild ist scheu“, die sich auf einem spätherbstlichen Hochsitz zu Tode hungert, nachdem ihr Partner bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. In der aus 31 miniaturkurzen Szenen bestehenden Titelstory „Wir haben Raketen geangelt“ hat sich der Freund mit Tabletten umgebracht, und im Eingangsstück „Il Comandante“ verbinden sich die schonungslos geschilderten Schrecken der Krebstherapie mit der Trauer um einen Mitpatienten, der wie ein geheimnisvoller Beistand plötzlich auftaucht, Kraft spendet und bald darauf das Zeitliche segnet. Einigermaßen gruselig geht es auch in den sechs kurzen „Familienportraits“ zu, die womöglich, das wird nicht ganz klar, Motive und Figuren der längeren Geschichten wieder aufnehmen. Aus dem Rahmen fällt „Polarkreis“, die eher unaufgeregte Postkarten- und Briefserie einer Beziehungsflüchtigen: Sie gönnt sich eine Auszeit in Italien, merkt aber schon nach einem Monat, dass ihr an einem Happy End mit Ring auf der Insel Stromboli gelegen ist.
Und dann gibt es da noch den Monolog einer Greisin im ländlichen Russland, auf dem Sterbebett notiert – die alte Frau hat es schwer gehabt im Leben, dennoch bleibt dunkel, was diese brave Rollenprosa unter Karen Köhlers gegenwartsnahen, zeitgeistgefärbten Texten zu suchen hat. Vielleicht handelt es sich um eine Fingerübung in Langsamkeit, im Zuendeschreiben von Sätzen und im ruhigen Gebrauch der Vergangenheitsform nach all den atemlosen Ellipsen, dem Präsens-Rausch zwischen Dramen- und Reportagestil. Wenn dem aber so ist, dann könnte das erklären, warum auch der Rest des Bandes, diese ganze Kollektion existenzieller Traumata, romantischer Träume und exotischer Phantasien, mitsamt ihrem rotzig-juvenilen Pathos zuweilen etwas angestrengt wirkt, so sehr um Lockerheit und Authentizität bemüht, dass die Glaubwürdigkeit leidet: Karen Köhler besitzt ein bemerkenswertes Erzähltalent, aber sie übt noch, und das ist ihr gutes Recht. Komisch nur, dass sie bei ihrer Affinität zu allem Amerikanischen den berühmten Energydrink „Gatorade“ mehrmals falsch buchstabiert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Sammelt Traumata und romantische Träume: Karen Köhler.
Foto: Lumma-Foto
Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt.
Erzählungen. Carl Hanser Verlag, München 2014.
240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Womöglich rührt die besondere Anziehungskraft dieser Erzählungen vor allem daher, dass Karen Köhler ihren Protagonistinnen viel, manchmal alles zumutet, ihnen aber zugleich bedingungslos beisteht. Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen." Holger Heimann, Deutschlandfunk, 28.01.15
"Karen Köhler ist der überraschendste Debüt-Erfolg des Jahres gelungen." Redaktion der Süddeutschen Zeitung, Süddeutsche Zeitung, 30.12.14
"Das Debüt des Jahres! Karen Köhler schreibt Geschichten so geistesvoll, voller Witz, mit gekonnten Dialogen und wie beiläufig dargebotenen Pointen, dass es die schiere Lesefreude ist." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 06.12.14
"Diese Autorin hat keine Angst vor zu viel Gefühl. Sie beschreibt Empfindungen in extremster Form; beim Lesen am besten irgendwo festhalten." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.14
"Auf Geschichten wie diejenigen von Karen Köhler haben wir lange gewartet: Sie sind unsentimental, witzig, dabei grundernst." Elke Heidenreich, Cicero, 09/14
"Leute lest mehr Erzählbände. Wenigstens dieses Debüt. Indianer kommen vor und tanzende Quallen, der totale Tod und das schöne Leben. Eine echte Rakete." Elmar Krekeler, Die Welt, 04.10.14
"Köhlers leuchtende Geschichten erzählen leichtfüßig und drastisch zugleich von Heldinnen, die stark und verletzlich sind." Dana Buchzik, Die Welt, 04.10.14
"Neun fröhlich-melancholische Geschichten voller Überraschungen und Hoffnung. Perfekte Herbst-Literatur!" Brigitte, 24.09.14
"Dieses Buch zeugt von großem erzählerischen Gestaltungswillen, und es ist ein sehr guter Grund, mal wieder Kurzgeschichten zu lesen." Claudia Voigt, KulturSpiegel, 29.09.14
"Eines der fünf großen Bücher der Herbstsaison." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.14
"Karen Köhler ist die Entdeckung dieser Saison: Die Schauspielerin hat mit Ihrem Erzähldebüt 'Wir haben Raketen geangelt' viel gewagt und fast alles gewonnen. ... Was dieses Debüt besitzt und was es so sympathisch macht, das sind vor allem zwei Eigenschaften: echtes Temperament und künstlerische Autonomie. ... Reden wir nicht darum herum: Da ist Meisterschaft am Werk." Ursula März, Die Zeit, 21.08.14
"Das Debüt des Jahres." Peter von Becker, Tagesspiegel, 06.12.14
"Keine Angst vor zu viel Gefühl: Die Schauspielerin Karen Köhler hat mit 'Wir haben Raketen geangelt' einen hinreißenden Erzählungsband geschrieben. ... Ein Buch über Frauen, aber kein Frauenbuch." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.14
"Karen Köhlers Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt." Simon Strauß, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.14
"Sie schreibt lakonisch, knapp, und sie endet sanft: So ist es eben. Karen Köhler wollte Kosmonautin werden, nun ist sie eine: eine neue Stimme im Kosmos der Literatur." Elke Heidenreich, Cicero, September 2014
"Den Kosmos der Literatur mischt sie jedenfalls auf mit ihren Momentaufnahmen der Seele und des bekloppten Lebens, von dem wir nur ein einziges haben." Elke Heidenreich, Stern, 04.09.14
"Ein starkes Debüt." Hans-Jost Weyandt, Spiegel Online, 10.10.14
"Von existenziellen Situationen zu sprechen ist eine Kunst. Karen Köhler kann das in einer selten gelesenen Balance zwischen Leichtigkeit und höchster Tragik." Verena Auffermann, Deutschlandradio Kultur, 08.10.14
"Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen." Holger Heimann, Deutschlandfunk, 28.01.15
"Karen Köhler ist der überraschendste Debüt-Erfolg des Jahres gelungen." Redaktion der Süddeutschen Zeitung, Süddeutsche Zeitung, 30.12.14
"Das Debüt des Jahres! Karen Köhler schreibt Geschichten so geistesvoll, voller Witz, mit gekonnten Dialogen und wie beiläufig dargebotenen Pointen, dass es die schiere Lesefreude ist." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 06.12.14
"Diese Autorin hat keine Angst vor zu viel Gefühl. Sie beschreibt Empfindungen in extremster Form; beim Lesen am besten irgendwo festhalten." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.14
"Auf Geschichten wie diejenigen von Karen Köhler haben wir lange gewartet: Sie sind unsentimental, witzig, dabei grundernst." Elke Heidenreich, Cicero, 09/14
"Leute lest mehr Erzählbände. Wenigstens dieses Debüt. Indianer kommen vor und tanzende Quallen, der totale Tod und das schöne Leben. Eine echte Rakete." Elmar Krekeler, Die Welt, 04.10.14
"Köhlers leuchtende Geschichten erzählen leichtfüßig und drastisch zugleich von Heldinnen, die stark und verletzlich sind." Dana Buchzik, Die Welt, 04.10.14
"Neun fröhlich-melancholische Geschichten voller Überraschungen und Hoffnung. Perfekte Herbst-Literatur!" Brigitte, 24.09.14
"Dieses Buch zeugt von großem erzählerischen Gestaltungswillen, und es ist ein sehr guter Grund, mal wieder Kurzgeschichten zu lesen." Claudia Voigt, KulturSpiegel, 29.09.14
"Eines der fünf großen Bücher der Herbstsaison." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.14
"Karen Köhler ist die Entdeckung dieser Saison: Die Schauspielerin hat mit Ihrem Erzähldebüt 'Wir haben Raketen geangelt' viel gewagt und fast alles gewonnen. ... Was dieses Debüt besitzt und was es so sympathisch macht, das sind vor allem zwei Eigenschaften: echtes Temperament und künstlerische Autonomie. ... Reden wir nicht darum herum: Da ist Meisterschaft am Werk." Ursula März, Die Zeit, 21.08.14
"Das Debüt des Jahres." Peter von Becker, Tagesspiegel, 06.12.14
"Keine Angst vor zu viel Gefühl: Die Schauspielerin Karen Köhler hat mit 'Wir haben Raketen geangelt' einen hinreißenden Erzählungsband geschrieben. ... Ein Buch über Frauen, aber kein Frauenbuch." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.14
"Karen Köhlers Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt." Simon Strauß, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.14
"Sie schreibt lakonisch, knapp, und sie endet sanft: So ist es eben. Karen Köhler wollte Kosmonautin werden, nun ist sie eine: eine neue Stimme im Kosmos der Literatur." Elke Heidenreich, Cicero, September 2014
"Den Kosmos der Literatur mischt sie jedenfalls auf mit ihren Momentaufnahmen der Seele und des bekloppten Lebens, von dem wir nur ein einziges haben." Elke Heidenreich, Stern, 04.09.14
"Ein starkes Debüt." Hans-Jost Weyandt, Spiegel Online, 10.10.14
"Von existenziellen Situationen zu sprechen ist eine Kunst. Karen Köhler kann das in einer selten gelesenen Balance zwischen Leichtigkeit und höchster Tragik." Verena Auffermann, Deutschlandradio Kultur, 08.10.14
"Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen." Holger Heimann, Deutschlandfunk, 28.01.15