Ein stiller Teppichhändler, der sich ganz den Häusern und Dingen verschrieben hat. Eine junge Frau, die sich auf ihr Talent zur Improvisation und ihr heiteres Wesen verlässt. Eine alte Stadt, die über Nacht von einer alptraumhaften Flut heimgesucht wird.Es ist Nacht und er kann nicht einschlafen. Auf das Dach schlägt der Regen. Irgendwann steht er auf und geht die Treppe hinunter. Kniehoch steht das Wasser im unteren Stock. Schuhe, Kleider, Kissen schwimmen darin. Aus der Ferne ist ein Hubschrauber zu hören. Er zieht sich Stiefel an und geht hinaus. Eine Frau hat sich auf ein Floß gerettet. Sie treibt auf dem wilden Fluss, die Ufer gezeichnet von der Zerstörung. Alles, was sie immer für andere war, hilft ihr jetzt nicht mehr. Sie ist auf sich allein gestellt. Das Floß lässt sich nicht steuern, genauso wenig wie ihre Angst ...Diese intensive Novelle erzählt von einem Ausnahmezustand, einer Welt ohne festen Boden. Und sie fragt, wie zwei Fremde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, doch zusammenfinden. Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte mit einem besonderen Blick für all das, was unser Dasein im Verborgenen ausmacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2023Simon Strauss, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, hat eine Novelle über eine untergehende Welt und das unwahrscheinliche Wunder der Begegnung geschrieben: "Gar nicht leicht zu erklären, warum zwei zusammenkommen. Wie es sein kann, dass am Ende Namen von zweien auf einem Stein stehen, die am Anfang gar nichts voneinander wussten." Es geht um einen Teppichhändler, der sich ganz den Häusern und Dingen verschrieben hat. Und um eine junge Frau, die sich frohgemut auf ihr Talent zur Konversation verlässt. Sie leben als Letzte in einer Stadt, die über Nacht von einer großen Flut heimgesucht wird. Die Novelle "zu zweit" erzählt vom Ausnahmezustand, von einer Welt ohne festen Boden. Und fragt, wie zwei Fremde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, doch zusammenfinden. (Simon Strauß: "zu zweit". Novelle. Tropen Verlag, Stuttgart 2023. 160 S., geb., 22,- Euro).F.A.Z.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2023Den Bach runter
In Simon Strauß’ Novelle „Zu zweit“
kommt das Weltenende in Form einer Flutkatastrophe
VON HUBERT WINKELS
Am Anfang ist die Idee. Buchstäblich steht sie da, auf einer kursiv gesetzten Seite: Der Zufall, die Menge, die schiere Kontingenz verhindert unendlich viele mögliche Begegnungen von Menschen mit Menschen, selbst in nächster Nähe. Einer sehnt sich, die andere geht vorbei; einer stürzt, der Nachbar feiert. Und welch ein Wunder schließlich, „dass am Ende Namen von zweien auf einem Stein stehen, die am Anfang gar nichts voneinander wussten“. Vom Chaos zum gemeinsamen Grabstein in zweiundzwanzig Zeilen. Das reicht als Kurzbeschreibung des sozialen Lebens überhaupt. Aber es ist vor allem die programmatische Idee der Strauß-Novelle „Zu zweit“.
Dem Theaterkritiker Simon Strauß ist als Erzähler zweier schmaler Bücher schon mehrfach der Vorwurf gemacht worden, er schreibe zu essayistisch, mit einer mehr oder weniger verborgenen Agenda konservativer Kulturkritik. Das Urteil über die „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ ist zu pauschal, ganz falsch ist es nicht. Im ersten Buch fällt auf, dass die katholischen Sündenfälle, die durchgespielt werden, von der Wollust bis zum Hochmut, gerade in ihrer ambivalenten Darstellung keineswegs die Versprechen auf Exzess und wildes Leben einlösen, wie es sich der testbereite Biedermann vorstellen mag.
Und in Buch über Rom geht das obligate Wunschprogramm von Größe, Ewigkeit und Schönheit der Stadt im Getriebe der hektischen Stipendientage auch nicht auf. Es mag ein unfreiwilliger Effekt sein, aber das schmale Buch erzählt mehr über den modernen Wandel von Machtrepräsentation und Größenfantasien, als dem erhaben gestimmten Autor lieb sein kann. Beide Bücher wirken überfrachtet von der Prätention, die fortdauernde Wirksamkeit alter religiöser und kulturgeschichtlicher Praktiken und Repräsentation zu inszenieren. Sie sind dazu weder antik noch heutig genug.
Umso eigentümlicher, dass Simon Strauß nun in „Zu zweit“ dieses Vorhaben noch weiter zuspitzt, bis sich eine durch und durch allegorische, sowohl biografisch wie zivilisationsgeschichtlich zu lesende Katastrophenerzählung ergibt. Ein noch junger einsamer Teppichhändler liegt schlaflos in seinem Dachzimmer, es regnet ohne Unterlass, er erlebt seine Einsamkeit als eine kulturelle Entmündigung.
Er ist nicht einfach ängstlich und unkommunikativ, er leidet an der „Wiederkehr des Immergleichen ... dass es nichts Neues, nichts Unverhofftes in seinem Leben gibt“. Sein Vater, Teppichhändler auch er, erscheint in der Erinnerung ausschließlich als Kreuzworträtsellöser, „dem es darauf ankam zu zeigen, dass alle Rätsel dieser Welt lösbar seien und jede Rede von Unerklärlichem und Geheimem nur eine faule Ausrede wäre“. Die Mutter hingegen „glaubte sehr wohl an Sphären jenseits der Vernunft, an Zufälle und Wunder, an die Unendlichkeit des Alls etwa oder ein Leben nach dem Tod“. Sie hatte Matthias Claudius‘ „Abendlied“ vorgetragen und sorgt damit in der Novelle für eine explizite Romantikreverenz, öffnet die klassische Dichotomie von Aufklärung und Geheimnis/Gefühl (die bekanntlich auch immer ‚zu zweit‘ erscheinen).
Zur eigenen Position in diesem alles durchdringenden Kulturkampf denkt es im Teppichverkäufer: „Als kleines Kind hatte er sich lange geweigert, in den aufrechten Gang zu kommen. Am Boden krabbelnd, nur hin und wieder staunende Blicke nach oben werfend, unterlief er so die gewöhnlichen Gesetze des Fortschritts.“ Ein Rebell gegen die vernünftige Welt, bevor er laufen lernt!
Ein personaler Erzähler lässt uns die sozial isolierte Existenz des Verkäufers in kurzen Szenen, knackigen Sentenzen und düsterer Bildhaftigkeit spüren. Die Welt ist den Träumern feindlich. Doch das unablässige Klatschen des Regens auf die Dachziegel ruft auch das Bild einer jungen Frau herauf, die eines völlig verregneten Tages durchnässt in den heimischen Teppichladen gestürzt war, um sich dort sturzbachartig plaudernd in jeder Hinsicht auszuschütten. Eine Schöne, die sich das Regenwasser aus den kurzen braunen Haaren streift, fortan trocken „Die Vertreterin“ genannt.
Der stumme Verkäufer ist von der flüssig beredten Frau berührt, die Flut bricht los und schwemmt Stadt und Land davon, gewaltsam, unaufhaltsam, und der Teppichhändler, nun auf der Straße, treibt mit. Alles fließt, nur die alten hoch ragenden Kirchtürme stehen stolz im Untergang und geben die nötige Vertikalspannung der Transzendenz. Um es mit einer alten Songzeile von Peter Gabriel zu sagen: „Lord, here comes the flood / We’ll say goodbye to flesh and blood“. Die biblisch dimensionierte Flutkatastrophe bildet das Herzstück der Novelle.
Vom Metereologischen zum Metaphysischen ist es nur ein Schritt. Sie ist der Einbruch des ganz anderen, sie ist die Apokalypse, die das menschliche Begehren nach Ordnung, Zwang und Gesetz durchkreuzt, Strafe und Erlösung zugleich, von der alttestamentarischen Sintflut ebenso animiert wie von den Sieben Plagen in der Apokalypse des Johannes. Die alte, die schlechte Welt geht unter. Ein urgnostisches Motiv: We’ll say goodbye to flesh and blood. Ein ganzer Zoo treibt tot vorbei.
Wie wird bei so viel flüssig erzähltem Katastrophismus das Motiv der Erlösung erzählerisch aufbereitet? Es ist der Sprung des alten Adam, des Verkäufers, in den Abgrund, von einer Brücke in die Fluten, ein Opfer, das sich im tödlich scheinenden Flug als Beitrag zur Erlösung verklärt. „Die Lampe verlöscht. Mit einem jähen Schrei wirft er sie in die Flut. Dann klettert er auf die Brüstung. Sucht das Gleichgewicht. Schließt die Augen. Vielleicht ist das die gerechte Strafe für ihre Blindheit, denkt er, für ihr unablässiges Reden, ihre höhnische Vernunft. Er hebt beide Arme, streckt sie nach links und nach rechts, wie zum Kreuz. Wartet. Zögert. Dann holt er Luft. Tief Luft. Und springt.“
Man zögert einen Moment: Welchem Subjekt wird hier Blindheit attestiert? Es kann nur die Taschenlampe selbst sein, die physikalisch eindeutige Agentin der Aufklärung! Er selbst aber, der christusikonologisch stürzende Teppichhändler, landet unbeschadet auf einem Floß, mit dem wundersamerweise seine von fern angebetete, regennasse unbekannte Geliebte unterwegs ist, samt Gefährt mitgerissen von den Wassermassen.
Er landet heil im Gewebe eines verrutschten Teppichs, und als die Vertreterin ihn findet, liegt er wie ein Embryo da, eingewickelt in Stoff und Gewölle. Es folgt die Auferstehung: „Und weil er nichts anderes zur Hand hat, um sich zu schützen, steht er mit einem Ruck auf, hebt den Teppich vom Boden und legt ihn um wie eine Rüstung. Er wickelt sich ganz in den schweren Stoff ein. Zieht ihn hoch über seine Brust bis ans Kinn. So steht er da mit wackligen Beinen, wie ein kleiner schiefer Turm.“ Die „unerhörte Begebenheit“ als Kennzeichen der Novelle ist hier zum strukturellen Ausnahmezustand erweitert. In diesem Sinne sind alle Endzeitromane und Katastrophenfilme Novellen at large. Mit „Zu zweit“ haben wir dafür ein gutes Anschauungsbeispiel. Auch wenn der heftig fließende Text gegen Ende ein gutes Stück zurückrudert: Die weltflüchtige Haltung weicht wie die Wassermassen selbst vor dem intimen Tête-à-Tête der beiden einzigen Menschen zurück. Verkäufer und Vertreterin. Sie durchlaufen einen Parcours der aufgereihten Elemente: nach der Flut der brennende Baum, der fächelnde Wind, der das Leben selbst besänftigende Schneefall.
Das Menschenpaar gerät in eine verlassene Villa, wo es in inniger Umarmung eine Familiengeschichte mit totem Kind imaginiert. Erneut in kursiver Schrift: diesmal kein allgemeines Erzählprogramm, sondern im Gegenteil: konkrete erzählerische Elemente eines kleinfamiliären Plots mit Hitchcock-Flair auf den letzten Seiten. Was soll das an dieser Stelle? Ja, es soll das eigene Sprechen der Villa bedeuten, die Beredtheit der materiellen Außenwelt; es soll das Erzählen der Dinge erzählen.
Doch es ist bereits zu spät. Die Großmetapher, die dieses Buch ist, unterdrückt die häufig beschworene Magie der Einzeldinge. Wenn man das ästhetische Problem in religiösen Begriffen reformulieren müsste, könnte man auf die erste Todsünde verweisen, superbia. Aber alle katholischen Todsünden würden in modernen Beichtstühlen unter der Hand (Gottes) als lässliche Sünden verstanden. Es handelt sich also lediglich um ein veniale peccatum. Zehn Vaterunser könnten zur Buße folgen.
Als Paternoster bezeichnet man auch ein senkrecht drehbares Gestell zur Präsentation verschiedener Teppiche. Ein solches liebt der Sohn des Teppichhändler in seiner Kindheit am meisten im Reich seines Vaters. Bei der ersten Lesung aus seiner Novelle saß Simon Strauß in einem Teppichgeschäft in einem Berliner Hinterhof auf einem Berg von Teppichrollen vor dem Hintergrund eines deckenhohen Paternosters. Er war leider kaputt.
Ein einsamer Teppichhändler
leidet an der
Wiederkehr des Immergleichen
Nach der Flut der brennende
Baum, der das Leben
selbst besänftigende Schneefall
Simon Strauß:
Zu zweit.
Novelle.
Tropen Verlag,
Stuttgart 2023.
160 Seiten, 22 Euro.
Versprechen auf Exzess: der Autor und Theaterkritiker Simon Strauß, fotografiert 2017 von Anne Schönharting für die Reihe „Habitat“.
Foto: Anne Schönharting
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In Simon Strauß’ Novelle „Zu zweit“
kommt das Weltenende in Form einer Flutkatastrophe
VON HUBERT WINKELS
Am Anfang ist die Idee. Buchstäblich steht sie da, auf einer kursiv gesetzten Seite: Der Zufall, die Menge, die schiere Kontingenz verhindert unendlich viele mögliche Begegnungen von Menschen mit Menschen, selbst in nächster Nähe. Einer sehnt sich, die andere geht vorbei; einer stürzt, der Nachbar feiert. Und welch ein Wunder schließlich, „dass am Ende Namen von zweien auf einem Stein stehen, die am Anfang gar nichts voneinander wussten“. Vom Chaos zum gemeinsamen Grabstein in zweiundzwanzig Zeilen. Das reicht als Kurzbeschreibung des sozialen Lebens überhaupt. Aber es ist vor allem die programmatische Idee der Strauß-Novelle „Zu zweit“.
Dem Theaterkritiker Simon Strauß ist als Erzähler zweier schmaler Bücher schon mehrfach der Vorwurf gemacht worden, er schreibe zu essayistisch, mit einer mehr oder weniger verborgenen Agenda konservativer Kulturkritik. Das Urteil über die „Sieben Nächte“ und „Römische Tage“ ist zu pauschal, ganz falsch ist es nicht. Im ersten Buch fällt auf, dass die katholischen Sündenfälle, die durchgespielt werden, von der Wollust bis zum Hochmut, gerade in ihrer ambivalenten Darstellung keineswegs die Versprechen auf Exzess und wildes Leben einlösen, wie es sich der testbereite Biedermann vorstellen mag.
Und in Buch über Rom geht das obligate Wunschprogramm von Größe, Ewigkeit und Schönheit der Stadt im Getriebe der hektischen Stipendientage auch nicht auf. Es mag ein unfreiwilliger Effekt sein, aber das schmale Buch erzählt mehr über den modernen Wandel von Machtrepräsentation und Größenfantasien, als dem erhaben gestimmten Autor lieb sein kann. Beide Bücher wirken überfrachtet von der Prätention, die fortdauernde Wirksamkeit alter religiöser und kulturgeschichtlicher Praktiken und Repräsentation zu inszenieren. Sie sind dazu weder antik noch heutig genug.
Umso eigentümlicher, dass Simon Strauß nun in „Zu zweit“ dieses Vorhaben noch weiter zuspitzt, bis sich eine durch und durch allegorische, sowohl biografisch wie zivilisationsgeschichtlich zu lesende Katastrophenerzählung ergibt. Ein noch junger einsamer Teppichhändler liegt schlaflos in seinem Dachzimmer, es regnet ohne Unterlass, er erlebt seine Einsamkeit als eine kulturelle Entmündigung.
Er ist nicht einfach ängstlich und unkommunikativ, er leidet an der „Wiederkehr des Immergleichen ... dass es nichts Neues, nichts Unverhofftes in seinem Leben gibt“. Sein Vater, Teppichhändler auch er, erscheint in der Erinnerung ausschließlich als Kreuzworträtsellöser, „dem es darauf ankam zu zeigen, dass alle Rätsel dieser Welt lösbar seien und jede Rede von Unerklärlichem und Geheimem nur eine faule Ausrede wäre“. Die Mutter hingegen „glaubte sehr wohl an Sphären jenseits der Vernunft, an Zufälle und Wunder, an die Unendlichkeit des Alls etwa oder ein Leben nach dem Tod“. Sie hatte Matthias Claudius‘ „Abendlied“ vorgetragen und sorgt damit in der Novelle für eine explizite Romantikreverenz, öffnet die klassische Dichotomie von Aufklärung und Geheimnis/Gefühl (die bekanntlich auch immer ‚zu zweit‘ erscheinen).
Zur eigenen Position in diesem alles durchdringenden Kulturkampf denkt es im Teppichverkäufer: „Als kleines Kind hatte er sich lange geweigert, in den aufrechten Gang zu kommen. Am Boden krabbelnd, nur hin und wieder staunende Blicke nach oben werfend, unterlief er so die gewöhnlichen Gesetze des Fortschritts.“ Ein Rebell gegen die vernünftige Welt, bevor er laufen lernt!
Ein personaler Erzähler lässt uns die sozial isolierte Existenz des Verkäufers in kurzen Szenen, knackigen Sentenzen und düsterer Bildhaftigkeit spüren. Die Welt ist den Träumern feindlich. Doch das unablässige Klatschen des Regens auf die Dachziegel ruft auch das Bild einer jungen Frau herauf, die eines völlig verregneten Tages durchnässt in den heimischen Teppichladen gestürzt war, um sich dort sturzbachartig plaudernd in jeder Hinsicht auszuschütten. Eine Schöne, die sich das Regenwasser aus den kurzen braunen Haaren streift, fortan trocken „Die Vertreterin“ genannt.
Der stumme Verkäufer ist von der flüssig beredten Frau berührt, die Flut bricht los und schwemmt Stadt und Land davon, gewaltsam, unaufhaltsam, und der Teppichhändler, nun auf der Straße, treibt mit. Alles fließt, nur die alten hoch ragenden Kirchtürme stehen stolz im Untergang und geben die nötige Vertikalspannung der Transzendenz. Um es mit einer alten Songzeile von Peter Gabriel zu sagen: „Lord, here comes the flood / We’ll say goodbye to flesh and blood“. Die biblisch dimensionierte Flutkatastrophe bildet das Herzstück der Novelle.
Vom Metereologischen zum Metaphysischen ist es nur ein Schritt. Sie ist der Einbruch des ganz anderen, sie ist die Apokalypse, die das menschliche Begehren nach Ordnung, Zwang und Gesetz durchkreuzt, Strafe und Erlösung zugleich, von der alttestamentarischen Sintflut ebenso animiert wie von den Sieben Plagen in der Apokalypse des Johannes. Die alte, die schlechte Welt geht unter. Ein urgnostisches Motiv: We’ll say goodbye to flesh and blood. Ein ganzer Zoo treibt tot vorbei.
Wie wird bei so viel flüssig erzähltem Katastrophismus das Motiv der Erlösung erzählerisch aufbereitet? Es ist der Sprung des alten Adam, des Verkäufers, in den Abgrund, von einer Brücke in die Fluten, ein Opfer, das sich im tödlich scheinenden Flug als Beitrag zur Erlösung verklärt. „Die Lampe verlöscht. Mit einem jähen Schrei wirft er sie in die Flut. Dann klettert er auf die Brüstung. Sucht das Gleichgewicht. Schließt die Augen. Vielleicht ist das die gerechte Strafe für ihre Blindheit, denkt er, für ihr unablässiges Reden, ihre höhnische Vernunft. Er hebt beide Arme, streckt sie nach links und nach rechts, wie zum Kreuz. Wartet. Zögert. Dann holt er Luft. Tief Luft. Und springt.“
Man zögert einen Moment: Welchem Subjekt wird hier Blindheit attestiert? Es kann nur die Taschenlampe selbst sein, die physikalisch eindeutige Agentin der Aufklärung! Er selbst aber, der christusikonologisch stürzende Teppichhändler, landet unbeschadet auf einem Floß, mit dem wundersamerweise seine von fern angebetete, regennasse unbekannte Geliebte unterwegs ist, samt Gefährt mitgerissen von den Wassermassen.
Er landet heil im Gewebe eines verrutschten Teppichs, und als die Vertreterin ihn findet, liegt er wie ein Embryo da, eingewickelt in Stoff und Gewölle. Es folgt die Auferstehung: „Und weil er nichts anderes zur Hand hat, um sich zu schützen, steht er mit einem Ruck auf, hebt den Teppich vom Boden und legt ihn um wie eine Rüstung. Er wickelt sich ganz in den schweren Stoff ein. Zieht ihn hoch über seine Brust bis ans Kinn. So steht er da mit wackligen Beinen, wie ein kleiner schiefer Turm.“ Die „unerhörte Begebenheit“ als Kennzeichen der Novelle ist hier zum strukturellen Ausnahmezustand erweitert. In diesem Sinne sind alle Endzeitromane und Katastrophenfilme Novellen at large. Mit „Zu zweit“ haben wir dafür ein gutes Anschauungsbeispiel. Auch wenn der heftig fließende Text gegen Ende ein gutes Stück zurückrudert: Die weltflüchtige Haltung weicht wie die Wassermassen selbst vor dem intimen Tête-à-Tête der beiden einzigen Menschen zurück. Verkäufer und Vertreterin. Sie durchlaufen einen Parcours der aufgereihten Elemente: nach der Flut der brennende Baum, der fächelnde Wind, der das Leben selbst besänftigende Schneefall.
Das Menschenpaar gerät in eine verlassene Villa, wo es in inniger Umarmung eine Familiengeschichte mit totem Kind imaginiert. Erneut in kursiver Schrift: diesmal kein allgemeines Erzählprogramm, sondern im Gegenteil: konkrete erzählerische Elemente eines kleinfamiliären Plots mit Hitchcock-Flair auf den letzten Seiten. Was soll das an dieser Stelle? Ja, es soll das eigene Sprechen der Villa bedeuten, die Beredtheit der materiellen Außenwelt; es soll das Erzählen der Dinge erzählen.
Doch es ist bereits zu spät. Die Großmetapher, die dieses Buch ist, unterdrückt die häufig beschworene Magie der Einzeldinge. Wenn man das ästhetische Problem in religiösen Begriffen reformulieren müsste, könnte man auf die erste Todsünde verweisen, superbia. Aber alle katholischen Todsünden würden in modernen Beichtstühlen unter der Hand (Gottes) als lässliche Sünden verstanden. Es handelt sich also lediglich um ein veniale peccatum. Zehn Vaterunser könnten zur Buße folgen.
Als Paternoster bezeichnet man auch ein senkrecht drehbares Gestell zur Präsentation verschiedener Teppiche. Ein solches liebt der Sohn des Teppichhändler in seiner Kindheit am meisten im Reich seines Vaters. Bei der ersten Lesung aus seiner Novelle saß Simon Strauß in einem Teppichgeschäft in einem Berliner Hinterhof auf einem Berg von Teppichrollen vor dem Hintergrund eines deckenhohen Paternosters. Er war leider kaputt.
Ein einsamer Teppichhändler
leidet an der
Wiederkehr des Immergleichen
Nach der Flut der brennende
Baum, der das Leben
selbst besänftigende Schneefall
Simon Strauß:
Zu zweit.
Novelle.
Tropen Verlag,
Stuttgart 2023.
160 Seiten, 22 Euro.
Versprechen auf Exzess: der Autor und Theaterkritiker Simon Strauß, fotografiert 2017 von Anne Schönharting für die Reihe „Habitat“.
Foto: Anne Schönharting
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Jörg Magenau liest Simon Strauss' Novelle als "Porträt eines Sonderlings". Er folgt hier einem namenlosen Helden, der lustlos den geerbten Teppichladen seiner Eltern führt, den Konsumrausch seiner Mitmenschen verachtet und sich in eine Teppichvertreterin verliebt. Bald verwüstet ein Hochwasser die Stadt, zurück bleibt eine menschenleere Apokalypse, aber immerhin findet das seltsame Paar zueinander. All das ist durchaus genau beobachtet, auch die Gegenstände sind äußerst zart beschrieben, meint der Kritiker. Die Figuren bleiben allerdings recht "blutleer" und so erscheint Magenau die Novelle eher wie eine Kopfgeburt, in der Strauss mit hohem Aufwand das Wunder einer jeden Begegnung vorführen möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Text ist, wie stets bei Strauß, so formbewusst gebaut wie erzählt, in einer melodisch und rhythmisch schwingenden Sprache und voller epigrammatischer Sätze.« Elke Schmitter, die Zeit, 19. Januar 2023 Elke Schmitter Die Zeit 20230119