Er liebt das Nachbarmädchen mit dem tizianroten Haar und dem Leberfleck am Bein. Er sieht hinüber in ihr Zimmer, wo sie sitzt und zeichnet. Sie hat die verstörende Gewohnheit, sich die Haare auszureißen. Sie beobachtet den Nachbarjungen, der sich beim Lesen unaufhörlich Notizen macht. Hinter dem Glas seines Fensters scheint er sich am sichersten zu fühlen. Genau wie sie. Wie zwei Gefangene hängen sie für den anderen Botschaften ins Fenster. Am liebsten in fünf Silben, weil das schön klingt. Als sie irgendwann lächelt, ist das für ihn, als würde in einem heruntergekommenen Haus das Licht wieder angehen. Und beide wissen: Sie werden es besser machen.
buecher-magazin.de"Dad hat unserem Hund beigebracht, Mum zu beißen." Ein schlichter erster Satz, lakonisch, und enthält doch eine ganze Welt. Der Junge, der ihn sagt, wird in der Schule Creepy genannt, weil er unheimlich wirkt. Unauffälligkeit ist seine Überlebensstrategie. Creepy liebt die Nachbarstochter Maud. Er beobachtet sie vom Fenster aus, sieht, wie sie zeichnet und wie sie sich die Haare ausreißt, bis Blut kommt. Er schreibt ihr eine Nachricht auf Papier, das er an die Fensterscheibe klebt. Maud schreibt zurück. In der Schule gerät sie in Schwierigkeiten, weil sie Comics zeichnet und sagt, was sie denkt. Als sie suspendiert und auf Psychopharmaka gesetzt wird, greift Creepy ein. Abwechselnd aus der Perspektive von Creepy und Maud wird eine zarte Liebesgeschichte zwischen unberechenbaren Lebenden erzählt, zugleich das Porträt einer lieblosen Vorstadtgesellschaft. Die Erwachsenen wirken unter dem scharfen Blick ihrer Kinder bedrohlich, mitleiderregend. Jens Wawrczeck gibt Creepy diesen kalten Unterton, der in jede Richtung ausschlagen könnte und eine große Verletzlichkeit verbirgt. Svenja Pages trifft Mauds Sarkasmus, ihre Angst, aber auch den stumpfen Ton eines Kindes auf Valium.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)