Produktdetails
- EAN: 4026411115979
- Artikelnr.: 28533752
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2021Womit sollen die Zyklopen spielen?
Barbara Frey eröffnet die Ruhrtriennale mit einem Edgar-Allan-Poe-Abend
Auf den ersten Blick scheint es eine gute Idee, die diesjährige Ruhrtriennale und damit eine neue, dreijährige Intendanz mit einer Bearbeitung von Edgar Allan Poes "Untergang des Hauses Usher" zu eröffnen. Das Haus bezeichnet zugleich den Stammsitz der Ushers und den Stamm selbst. Verfall einer Familie und Niedergang eines Anwesens fallen zusammen. Am Anfang des 2002 ins Leben gerufenen Festivals stand der Einfall, dass Industrieruinen geborene Kunstorte seien. Barbara Frey, die aus Zürich geholte Intendantin, fand bei ihrer Inspektion der Spielstätten, wie sie im WDR erzählte, "monumentale Bühnenbilder oder sogar Kunstwerke" vor, "Zyklopenspielzeug" wie die Fördermaschinen in der Halle der Zeche Zweckel in Gladbeck.
Das Ziegelgebäude mit den großen Rundbogenfenstern stellt nun also das Haus Usher dar. Zwei langhaarige Pianisten produzieren zunächst fünfzehn Minuten lang im Wechsel einfachste Akkorde. Diese Doppelschläge führen das Zwillingsmotiv der Kurzgeschichte ein und sind gleichzeitig der nachhallende Urlaut des Industriezeitalters, Schicksalsformel einer rhythmisch koordinierten Produktionsweise. Man wird in eine Trance versetzt, vergleichbar dem vom Erzähler beschworenen Opiumrausch.
Dann treten sechs Schauspieler im Anzug auf, drei Männer und drei Frauen, fest aneinandergeklammert. Im Wechsel tragen sie die Eröffnung der Geschichte vor, die Beschreibung des Hauses. Als kompakte Einheit geben sie zugleich ein Bild des Hauses ab, obwohl es der Ich-Erzähler ist, der hier spricht. So bringt die Furcht bei Poe das Furchterregende hervor. Das Doppelgängermotiv verdoppelt sich: Der namenlose Erzähler ist ein weiterer Zwilling. Das ist ein starker Anfang. Sollte das Spektakel vollständig aus dem Vortrag des Textes entwickelt werden? Leo Spitzer hat davor gewarnt, das Theatralische von Poes Machart zu überschätzen. Seine Requisiten seien abgegriffene Wörter, die Klischees des Schauerromans. Er montiert eine Ballade und weiteres Werkstückwerk im Stil romantischer Standardgenres ein.
Frey nimmt diese Einsätze heraus und ersetzt sie durch andere Texte Poes. Auf einen Schlag zerfällt dadurch das Haus. Die Doppelungen verlieren durch unbegrenzte Vermehrung ihr Unheimliches. Man muss nicht ins Jenseits des öffentlichen Nahverkehrs vordringen, um sich enthüllen zu lassen, dass Poe auch anderenorts von lebendig begrabenen Jungfrauen phantasiert. Seine "Unbegreiflichen Ereignisse und geheimnißvollen Thaten", die ein Schulkamerad Hanno Buddenbrooks im Religionsunterricht studierte, sind im Netz greifbar.
Freys Ensemble stellt Gesten kultivierten Entsetzens aus, als gäbe es für Horror in den hybriden Erzählkünsten keinen state of the art. Ein literarischer Künstler soll laut Poe einen einheitlichen Effekt ins Auge fassen und an ihm die Erfindung der Handlung ausrichten. Ob Poe mit dieser Theorie die industrielle Technik kopieren oder parodieren wollte, ist umstritten. Barbara Frey hat sich jedenfalls nicht überlegt, welche Wirkung sie will. PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barbara Frey eröffnet die Ruhrtriennale mit einem Edgar-Allan-Poe-Abend
Auf den ersten Blick scheint es eine gute Idee, die diesjährige Ruhrtriennale und damit eine neue, dreijährige Intendanz mit einer Bearbeitung von Edgar Allan Poes "Untergang des Hauses Usher" zu eröffnen. Das Haus bezeichnet zugleich den Stammsitz der Ushers und den Stamm selbst. Verfall einer Familie und Niedergang eines Anwesens fallen zusammen. Am Anfang des 2002 ins Leben gerufenen Festivals stand der Einfall, dass Industrieruinen geborene Kunstorte seien. Barbara Frey, die aus Zürich geholte Intendantin, fand bei ihrer Inspektion der Spielstätten, wie sie im WDR erzählte, "monumentale Bühnenbilder oder sogar Kunstwerke" vor, "Zyklopenspielzeug" wie die Fördermaschinen in der Halle der Zeche Zweckel in Gladbeck.
Das Ziegelgebäude mit den großen Rundbogenfenstern stellt nun also das Haus Usher dar. Zwei langhaarige Pianisten produzieren zunächst fünfzehn Minuten lang im Wechsel einfachste Akkorde. Diese Doppelschläge führen das Zwillingsmotiv der Kurzgeschichte ein und sind gleichzeitig der nachhallende Urlaut des Industriezeitalters, Schicksalsformel einer rhythmisch koordinierten Produktionsweise. Man wird in eine Trance versetzt, vergleichbar dem vom Erzähler beschworenen Opiumrausch.
Dann treten sechs Schauspieler im Anzug auf, drei Männer und drei Frauen, fest aneinandergeklammert. Im Wechsel tragen sie die Eröffnung der Geschichte vor, die Beschreibung des Hauses. Als kompakte Einheit geben sie zugleich ein Bild des Hauses ab, obwohl es der Ich-Erzähler ist, der hier spricht. So bringt die Furcht bei Poe das Furchterregende hervor. Das Doppelgängermotiv verdoppelt sich: Der namenlose Erzähler ist ein weiterer Zwilling. Das ist ein starker Anfang. Sollte das Spektakel vollständig aus dem Vortrag des Textes entwickelt werden? Leo Spitzer hat davor gewarnt, das Theatralische von Poes Machart zu überschätzen. Seine Requisiten seien abgegriffene Wörter, die Klischees des Schauerromans. Er montiert eine Ballade und weiteres Werkstückwerk im Stil romantischer Standardgenres ein.
Frey nimmt diese Einsätze heraus und ersetzt sie durch andere Texte Poes. Auf einen Schlag zerfällt dadurch das Haus. Die Doppelungen verlieren durch unbegrenzte Vermehrung ihr Unheimliches. Man muss nicht ins Jenseits des öffentlichen Nahverkehrs vordringen, um sich enthüllen zu lassen, dass Poe auch anderenorts von lebendig begrabenen Jungfrauen phantasiert. Seine "Unbegreiflichen Ereignisse und geheimnißvollen Thaten", die ein Schulkamerad Hanno Buddenbrooks im Religionsunterricht studierte, sind im Netz greifbar.
Freys Ensemble stellt Gesten kultivierten Entsetzens aus, als gäbe es für Horror in den hybriden Erzählkünsten keinen state of the art. Ein literarischer Künstler soll laut Poe einen einheitlichen Effekt ins Auge fassen und an ihm die Erfindung der Handlung ausrichten. Ob Poe mit dieser Theorie die industrielle Technik kopieren oder parodieren wollte, ist umstritten. Barbara Frey hat sich jedenfalls nicht überlegt, welche Wirkung sie will. PATRICK BAHNERS
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