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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2024

Godzilla im Hermelingewand
Hier haut das mit der "Frischzellenkur" ausnahmsweise hin: Deep Purple machen ein Rock-Monster-Album mit allen möglichen Schweinereien

Was soll oder kann denn eine Rockband noch komponieren, die das Ewigliche scharf streifende Alben wie "In Rock" (1970), "Burn" (1974), "Perfect Strangers" (1984) und, aus jüngerer Zeit, "Infinite" (2017) zuwege gebracht hat? Beziehungsweise die in Granit gemeißelte LP "Machine Head" (1972), auf der, während einer Jamsession unter der Ägide des Produzenten Martin Birch in zwei Wochen in einem stillgelegten Hotel in Montreaux zusammengeschraubt, die unverwüstlichen Krawall- und Stampfnummern "Smoke On The Water" und "Space Truckin'" herumrumpeln und -randalieren?

Im März ist ein weiterer Remix davon erschienen, eine gewissermaßen bibliophile Luxusedition. Dweezil Zappa, Sohn des heute beinahe vergessenen oder jedenfalls von den Soldaten der Wokeness in Grund und Boden geächteten freakin' Frank, hat die Originalbänder durch die Wundermaschinen der Studiotechnik geschleust und ein klangliches Gemälde mit Pinzette und Pinsel renoviert, sodass man plötzlich "Sachen hört, von denen du nicht wusstest, dass sie existieren": schöne Quatscheinfälle von Ritchie Blackmore, Schlagzeugeinsätze von Ian Paice, die kleinen Finger von Jon Lord auf den Keyboardtasten. Die Dumpfheit damaliger Aufnahmen ward verscheucht, die Platte erstrahlt in einer organischen Klarheit wie am ersten Tag der Schöpfung, unbefleckt und in einem Gestus des freundlichen Übermuts.

Man nähert sich dem dreiundzwanzigsten Studioalbum von Deep Purple, "=1" (ausgesprochen "equals one"), am besten über die der geringfügig teureren CD-Version beiliegende Dokumentation "Access All Areas", ein einstündiges Tourtagebuch, in dem den Technikern, den Roadies, den Arbeitern im Hintergrund, ohne die kein großes Konzert jemals stattfinden könnte, sehr würdevoll die Reverenz erwiesen wird. Deep Purple waren stets, bei allen Turbulenzen und all den hässlichen, von der Musikpresse gierig ausgeschabten Seelenschlachten, eine sympathische Band ohne Allüren, die einer wohligen Idee des britischen Proletariats zu einem kunstvollen Ausdruck verhalf - keine albernen Klamotten, keine hysterischen Posen, dafür solide Darbietungen und zugleich geradezu atemabschnürende Virtuosität. Der kleine Mann, er kann was können, und er verfügt über einen "sense of humour", den Ian Gillan als "sehr dunkel" bezeichnet - Gegenwehr durch Monty Python, durch einen Snobismus, der sich nicht ernst nimmt. No message, just music.

Der bescheidene und glücklich wirkende Bassist Roger Glover meint, Deep Purple hätten nie ein Rezept besessen, nie eine von der Kulturindustrie injizierte Regel befolgt. "Wir leben von Naivität und Finesse", sagt er, und oberstes Gebot war allezeit, sich nicht zu langweilen. Diese in die Wirklichkeit verliebte Musikantengruppierung huldigt dem höchsten Gut, das dem Menschen gegeben: der Freiheit zu tun, was man mag, ohne anderen einen Harm anzutun. "=1" demonstriert das nun in, tja, vollendeter Form. Die Platte ist ein Godzilla im Hermelingewand, ein giftspuckendes, kreischendes Überwesen, geerdet durch graziöse Harmonien und umärmelt von warmen Melodien und der Hammond B3, die "das Herz und die Seele von Deep Purple in ihren Tiefen trägt" (Don Airey), sowie der Stimme schlechthin, vom altersreifen Timbre Ian Gillans, dem Weisen vom Berge, der mittlerweile dreinschaut, als wolle er bloß noch lachen übers Geschick des Menschengeschlechts.

Der Opener "Show Me" ist eine lupenreine Schweinerei, eine Riff-Radikalitätsveranstaltung, die an Rage Against The Machine erinnert und in die sich ein Leitmotivlick hineinmogelt, der an Falcos "Der Kommissar" erinnert. Der Bass pumpt, der Moog-Synthesizer quengelt Yes-affin, und die Hookline schleicht schmerzlos in die Transzendenz hinein. Deep Purple haben sich, nachdem Steve Morse aus persönlichen Gründen im Sommer 2022 ausgeschieden war, mit ihrem neuen Gitarristen Simon McBride gegen Ende ihrer Tage zur Heavy-Metal-Band mit Get-on-with-it-Gefühl gemausert. Verwaltet wird nichts, kein Erbe, kein Ruhm. Wo Morse bisweilen etwas mehlig, sämig, etwas wollig, etwas gefällig klang, brüllt und sägt der Nordire McBride in einen Titel wie "A Bit On The Side" umstandslos hinein, zerhackt das durch Double-Bass-Drum-Gehämmer und Buddy-Rich-artige Fills zusammengezimmerte Gefüge via üble, aus dem Unterleib emporsteigende Saitenbeschwerden, und die Erde liegt vor dir als ein Sammelsurium von Schrunden, und das ist sie wohl.

Man hat ja die abgewetzten Formulierungen zur Hand: "Sie erfinden sich noch einmal neu", "Frischzellenkur" und so weiter. Allerdings passen sie hier. "Pictures of Home", ein Mirakel der Musikgeschichte, erschien auf "Machine Head". Einundzwanzig Jahre danach fand sich auf "Bananas" der Song "Pictures of Innocence", ein wütend groovendes Pamphlet gegen die Political Correctness. Und jetzt, erneut einundzwanzig Jahre später, erklingt "Pictures of You", really MOR oder AOR, aber das ist egal, denn die Akkordwechsel, Bridges und Fad-ins und Fade-outs sind da wie bei keiner anderen Gruppe da draußen in der unbekannten Welt, in der zudem beschwingt stolpernde Kneipenjazzkracher wie "Old-Fangled Thing" und gemütszermalmende Balladen wie "If I Were You" eine Heimstatt finden.

Und wenn von dieser Band etwas bleiben wird, ist es nicht nur "Child in Time", sondern der dicke Edelstein mit vierhundert Kanten am Ende, das majestätische, betörend virtuose Vermächtnisvexierbild "Bleeding Obvious", dieses Monster von Stück, das noch einmal alles schillern und aufscheinen lässt, was Rockmusik einst war: Genesis, Iron Maiden, Rush ("YYZ"), Steve Vai, Dream Theater. Möge der Tagtraum gleichwohl nicht enden. JÜRGEN ROTH

Deep Purple:

"=1"

Earmusic

(edel)

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