Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 7. Februar 2003
- Hersteller: Universal Vertrieb - A Divisio / Virgin,
- EAN: 0724358123920
- Artikelnr.: 22623310
CD | |||
1 | Future Proof | ||
2 | What Your Soul Sings | ||
3 | Everywhen | ||
4 | Special Cases | ||
5 | Butterfly Caught | ||
6 | A Prayer For England | ||
7 | Small Time Shot Away | ||
8 | Name Taken | ||
9 | Antistar |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2003Hertzrhythmusmassage
Briten vor Fensterlandschaft: Massive Attacks Unvollendete
Daß alle großen Männer Melancholiker sind, wissen wir seit Theophrast, aber ebenso, daß die Schwarzgalligkeit, bei der das Dunkel des Kosmos in die Seele ragt, zu Höchstleistungen antreibt. "Massive Attack", die ersten unbewegten Beweger des Trip-Hop, durchmessen mit ihrem vierten Album diese kosmische Schwärze und stoßen in ihrem Zenit auf den Trost der alles überstrahlenden Seele. Fünf lange Jahre sind seit dem letzten Album "Mezzanine" vergangen; die Rehabilitierung der Langsamkeit ist ihre Profession. Immer war ihnen dabei auch das Rettende zur Hand, "Safe from harm" hieß der Auftakt zu "Blue Lines" (1991), und auf "Protection" (1995) agiert eine Schutzmantelmadonna. Diesmal, den Krieg vor Augen, spielen die Engländer als Heilsbringer auf, hypnotisch, psychedelisch.
Hörbar liquider als alle früheren Alben, wird "100th Window" von einem magmatischen Urgrund durchwallt, aus dem sich die Klänge erheben und bald zurücksinken. Rhythmen, Stimmen tauchen auf, Sätze, Befehle, manchmal nur Wortfetzen, schmelzen wieder ein, Finsternis liegt über der Urflut, und der Geist Bristols schwebt über dem Wasser. Während "Mezzanine", das Zwischengeschoß auf der Reise ins Zentrum, noch hörbar dem natürlichen Herzschlag folgte - nirgends beeindruckender als in "Teardrop" -, nutzen die Elektroschocker auf "100th Window" den tiefen Dub-Reggae zur aktiven Hertzrhythmusmassage. Orientalische Streicher, die als Meister der kordialen Harmonie gleich auf den Saiten der Seele spielen, schleichen sich ein durch jenes hundertste Fenster - eigentlich eine Metapher für Sicherheitslücken im Cyberspace -, das trotz aller Monaden-Taktik der Ich-Armee für einen Moment ungeschützt blieb.
"Future Proof", das Eröffnungsstück, kommt gleich in der subtilen Vielschichtigkeit daher, die das ganze Album auszeichnet; die sphärisch-synthetischen Aquarelle werden von einem nervösen Perkussionssystem eher unterminiert als unterlegt, und weit draußen im Meer arbeitet eine Gitarre einsam an ihrem Riff. Der orakelnde Text Robert Del Najas, untertreibend 3D genannt, durchkreuzt schließlich in der vierten Dimension das Geflecht.
Del Naja hat das Album beinahe im Alleingang produziert, der Star an der Fensterfront aber ist Sinéad O'Connor. Drei verheißungsvollen Stücken haucht sie buchstäblich ihre irische Seele ein, neben der ersten Singleauskoppelung "Special Cases" den atmosphärischen Gebeten "What Your Soul Sings" sowie "A Prayer For England". Fürchte dich nicht, sind denn auch die ersten Worte, mit denen der Engel des Soul sich ans Volk wendet. Die beiden anderen Vokalisten, 3D und Horace Andy, der jamaikanische Veteran, sprechen dagegen in eigener Sache und in der ersten Person. Andys Klageruf "Fade away" im bedrohlichen "Name Taken" benennt präzise den Zug des Albums ins Ungeschiedene, unterläuft aber durch einen einzigen Tonlagenwechsel alle Teleologie: aus away wird a way, ein Weg nach irgendwo.
Die Komplexität des Albums erschließt sich nicht auf Anhieb. Erst nach und nach merkt man, wie sorgfältig Lage über Lage geschichtet, Schwebungen, Gegenläufe, Verstärkungen arrangiert sind. Konsequent verfolgen "Massive Attack" ihren Weg weiter, obwohl vom ursprünglichen Trio nur noch Del Naja übrig ist. Immer länger wurden die Alben bisher schon, die Stücke zunehmend getragener - mit "100th Window" ist ein Maximum erreicht an Länge wie Langsamkeit. Der Melancholiker in seiner mania war immer schon der Antiheld der Geschichte, alle historische Größe kulminiert hier in der Tragik des Wissens: im abschließenden Stück, "Massive Attacks" Unvollendeter, die im James-Bond-Sound beginnt, läuft ein Antistar solcherart ins Leere. Nach und nach setzen die Instrumente aus, bis die Melodie sich zuletzt an eine einzige Saite klammert, von der sie abrupt weggerissen wird. Ein Ozean aber, gerät er einmal in Wallung, steht nicht plötzlich still, nur weil ein starker Arm das will. Und so beruhigt sich auch das massiv irritierte Klangmeer erst allmählich, läuft aus in einer elfminütigen Baßlinie der verebbenden Sehnsucht. Die muß man zur Gänze durchbebt haben. Wer vorher aufgibt, weiß nicht, was Melancholie ist.
OLIVER JUNGEN.
Massive Attack, 100th Window. EAN/UPC 58132120 (EMI/Virgin)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Briten vor Fensterlandschaft: Massive Attacks Unvollendete
Daß alle großen Männer Melancholiker sind, wissen wir seit Theophrast, aber ebenso, daß die Schwarzgalligkeit, bei der das Dunkel des Kosmos in die Seele ragt, zu Höchstleistungen antreibt. "Massive Attack", die ersten unbewegten Beweger des Trip-Hop, durchmessen mit ihrem vierten Album diese kosmische Schwärze und stoßen in ihrem Zenit auf den Trost der alles überstrahlenden Seele. Fünf lange Jahre sind seit dem letzten Album "Mezzanine" vergangen; die Rehabilitierung der Langsamkeit ist ihre Profession. Immer war ihnen dabei auch das Rettende zur Hand, "Safe from harm" hieß der Auftakt zu "Blue Lines" (1991), und auf "Protection" (1995) agiert eine Schutzmantelmadonna. Diesmal, den Krieg vor Augen, spielen die Engländer als Heilsbringer auf, hypnotisch, psychedelisch.
Hörbar liquider als alle früheren Alben, wird "100th Window" von einem magmatischen Urgrund durchwallt, aus dem sich die Klänge erheben und bald zurücksinken. Rhythmen, Stimmen tauchen auf, Sätze, Befehle, manchmal nur Wortfetzen, schmelzen wieder ein, Finsternis liegt über der Urflut, und der Geist Bristols schwebt über dem Wasser. Während "Mezzanine", das Zwischengeschoß auf der Reise ins Zentrum, noch hörbar dem natürlichen Herzschlag folgte - nirgends beeindruckender als in "Teardrop" -, nutzen die Elektroschocker auf "100th Window" den tiefen Dub-Reggae zur aktiven Hertzrhythmusmassage. Orientalische Streicher, die als Meister der kordialen Harmonie gleich auf den Saiten der Seele spielen, schleichen sich ein durch jenes hundertste Fenster - eigentlich eine Metapher für Sicherheitslücken im Cyberspace -, das trotz aller Monaden-Taktik der Ich-Armee für einen Moment ungeschützt blieb.
"Future Proof", das Eröffnungsstück, kommt gleich in der subtilen Vielschichtigkeit daher, die das ganze Album auszeichnet; die sphärisch-synthetischen Aquarelle werden von einem nervösen Perkussionssystem eher unterminiert als unterlegt, und weit draußen im Meer arbeitet eine Gitarre einsam an ihrem Riff. Der orakelnde Text Robert Del Najas, untertreibend 3D genannt, durchkreuzt schließlich in der vierten Dimension das Geflecht.
Del Naja hat das Album beinahe im Alleingang produziert, der Star an der Fensterfront aber ist Sinéad O'Connor. Drei verheißungsvollen Stücken haucht sie buchstäblich ihre irische Seele ein, neben der ersten Singleauskoppelung "Special Cases" den atmosphärischen Gebeten "What Your Soul Sings" sowie "A Prayer For England". Fürchte dich nicht, sind denn auch die ersten Worte, mit denen der Engel des Soul sich ans Volk wendet. Die beiden anderen Vokalisten, 3D und Horace Andy, der jamaikanische Veteran, sprechen dagegen in eigener Sache und in der ersten Person. Andys Klageruf "Fade away" im bedrohlichen "Name Taken" benennt präzise den Zug des Albums ins Ungeschiedene, unterläuft aber durch einen einzigen Tonlagenwechsel alle Teleologie: aus away wird a way, ein Weg nach irgendwo.
Die Komplexität des Albums erschließt sich nicht auf Anhieb. Erst nach und nach merkt man, wie sorgfältig Lage über Lage geschichtet, Schwebungen, Gegenläufe, Verstärkungen arrangiert sind. Konsequent verfolgen "Massive Attack" ihren Weg weiter, obwohl vom ursprünglichen Trio nur noch Del Naja übrig ist. Immer länger wurden die Alben bisher schon, die Stücke zunehmend getragener - mit "100th Window" ist ein Maximum erreicht an Länge wie Langsamkeit. Der Melancholiker in seiner mania war immer schon der Antiheld der Geschichte, alle historische Größe kulminiert hier in der Tragik des Wissens: im abschließenden Stück, "Massive Attacks" Unvollendeter, die im James-Bond-Sound beginnt, läuft ein Antistar solcherart ins Leere. Nach und nach setzen die Instrumente aus, bis die Melodie sich zuletzt an eine einzige Saite klammert, von der sie abrupt weggerissen wird. Ein Ozean aber, gerät er einmal in Wallung, steht nicht plötzlich still, nur weil ein starker Arm das will. Und so beruhigt sich auch das massiv irritierte Klangmeer erst allmählich, läuft aus in einer elfminütigen Baßlinie der verebbenden Sehnsucht. Die muß man zur Gänze durchbebt haben. Wer vorher aufgibt, weiß nicht, was Melancholie ist.
OLIVER JUNGEN.
Massive Attack, 100th Window. EAN/UPC 58132120 (EMI/Virgin)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main