Produktdetails
Trackliste
CD
1Atom Bomb00:02:30
2Demons00:04:30
3Talk About Suffering00:04:18
4I Know I've Been Converted00:02:42
5Old Blind Barnabas00:03:31
6Spirit In The Sky00:03:05
7Faith And Grace00:03:07
8New Born Soul00:02:56
9Presence Of The Lord00:02:32
10Moses00:03:56
11Keine Titelinformation (Data Track)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2005

Die Heiligen frohlocken, die Sünder klagen
Der Tag, da der Herr kommt: Ben Harper lädt mit den "Blind Boys of Alabama" zur Gospelmesse

"Ihre Stimmen erhoben sich voll und weich. Es gab keine Orgel in der kleinen Kirche, denn es war keine Orgel nötig: Über der leidenschaftlichen Harmonie von Baß- und Baritonstimmen schwebte ein klarer Sopran - wie ein goldener Schwarm von Himmelsvögeln." Mit diesen Worten beschrieb William Faulkner 1926 in seinem Erstlingsroman "Soldier's Pay" die aufstörende Erfahrung beim Besuch eines Gospel-Gottesdiensts. Clarence Fountain, Jimmy Carter und George Scott kamen ein paar Jahre später zur Welt, zwei von ihnen blind von Geburt an. Fountain erblindete im Alter von fünf Jahren, nachdem seine Stiefmutter versucht hatte, eine harmlose Bindehautentzündung mit einem Hausmittel zu kurieren. Auch sie erlebten die ekstatischen Gospelgesänge in den Messen der Black Church des amerikanischen Südens als heilende Himmelfahrten.

1939 trafen sich die drei im Alabama Institute for the Negro Blind und riefen die Gospel-Gruppe "The Blind Boys of Alabama" ins Leben. Seitdem verkörpern sie den Geist schwarzer Gesangstradition: Pathos und Stille, Ernst und Überschwang, Außersichsein, Wehklagen und Triumphgeheul - all das durchdringt sich hier. Nachdem die Gruppe mehr als vierzig Jahre lang durch die Gospelszene der Vereinigten Staaten gereist war, kam 1983 mit ihrer Rolle in dem erfolgreichen Broadway-Musical "The Gospel at Colonus" ein neuerlicher Karriereschub. Seitdem kultivieren die "Blind Boys of Alabama" ohne alle Berührungsängste ihr Gospelizing von Songklassikern aus Folk, Rock und Pop. Sie enträtseln ihre spirituellen Potenzen und bringen zugleich die Kirchenmusik auf den Dancefloor der Clubs.

"Wenn die ,Blind Boys' ihre Münder öffnen, ist das, was ihnen entströmt, älter als Errettung, älter als Erlösung. Es sind Sounds der Unterdrückung und des Widerstands. Es sind Sounds der Offenbarung und Befreiung. Es ist ein Klang, so alt wie die Zeit selbst." Diese Hommage stammt von Ben Harper, der die Gospel-Soul-Bewahrer erst vor vier Jahren kennenlernte und ihren betörenden Harmoniegesängen ebenso verfallen ist wie Tom Waits, Lou Reed, Ibrahim Ferrer, Solomon Burke, Peter Gabriel oder Prince - um nur ein paar der davon inspirierten Musiker zu nennen. Zwischen den "Blind Boys" und Ben Harper entstand schon bald eine musikalische Seelenverwandtschaft: Ebenso wie der "Weissenborn-Wizard" seit Jahren nach den Wurzeln von Blues, Funk und Folkrock gräbt, so suchen die drei hochbetagten Gospel-Grenzgänger nach der spirituellen Essenz schwarzer Musik. Das gemeinsam aufgenommene Studioalbum "There Will Be A Light" wurde gerade erst mit dem Grammy ausgezeichnet - für die "Blind Boys" war es bereits der vierte.

Doch jetzt haben Harper und seine säkularen Feldforscher noch eins draufgesetzt: Ihr Konzert im New Yorker Apollo-Theater - dem Harlemer Musentempel, in dem bereits Billie Holiday, James Brown und B. B. King Musikgeschichte schrieben - entpuppt sich als Lehrstück über innerweltliche Transzendenz.

Mit einer fahl leuchtenden Blues-Meditation im Stil von Blind Willie Johnson auf einer Lap-Steel-Hybridgitarre - einer Kreuzung aus der Vollholz-Weissenborn und einer Dobro mit Metallresonator - eröffnet Harper den Auftritt. Schon das nachfolgende "Well, Well, Well", geschrieben von Bob Dylan und Danny O'Keefe, setzt den Standard des ganzen Konzerts. Harper umgarnt seinen flehenden Gesang mit sanften Slide-Licks, während die "Blind Boys" ihm mit ihrem Ruf-Antwort-Gesang eine harmonische Hängematte liefern. "I Want to be Ready" kommt wie ein lautmalerischer Sonnenaufgang daher. Diese fragile Selbstermutigung Ben Harpers findet sich ebensowenig auf dem Studioalbum wie der Titel "Give a Man a Home". Mit rauchiger Raspelstimme liefert Clarence Fountain hier ein betörendes Bekenntnis zum Altruismus, und das heißt für ihn auch: zum Kampf um den eigenen Seelenfrieden in einer entseelten Welt.

Von Anfang an entfaltet die Begleitband "The Innocent Criminals" eine leichthändige, ja lässige Präzision, die die ganze Songfolge wie eine einzige organische Einheit vibrieren läßt. Die behutsam pochende Perkussion von Oliver Charles und Leon Mobley verleiht den Stücken einen hypnotischen Fluß. Der elfte Song des Konzerts entpuppt sich dann als richtiger Nackenhaarsträuber: "I Shall not Walk Alone" - ebenfalls nicht auf dem preisgekrönten "There Will Be A Light"-Album enthalten - bezaubert durch berstende Intimität. Mit minutenlangen melodischen Schreien reichert Jimmy Carter seine Gesangsimprovisationen an; der wunderbare DVD-Mitschnitt des Konzerts fängt hier einen wahrhaft anrührenden Moment ein: Der blinde Carter, hoch in den Siebzigern, läßt sich von seiner eigenen Intensität so mitreißen, daß er fast über den Bühnenrand stürzt und immer wieder von dem Blind Boy George Scott fürsorglich-sanft, aber bestimmt an der Schulter zurückgezogen werden muß. Das Publikum gerät völlig aus dem Häuschen und läßt mit seinen verzückten Rufen das Konzert in eine kathartische Gospelmesse münden. Die dunkle Baritonstimme George Scotts belebt auch den hoffnungsfrohen Ohrwurm "There Will be a Light", eine Harper-Komposition, die bei aller überweltlichen Emphase erdenschwere Ernüchterung ausstrahlt.

Leider wurde das Apollo-Konzert zum letzten großen Auftritt von George Scott. Er verstarb fünfundsiebzigjährig im vergangenen Monat, spielt aber noch eine Hauptrolle auf dem jetzt zeitgleich erschienenen neuen Studioalbum der "Blind Boys of Alabama". Der Titelsong "Atom Bomb" geht auf ein Lied der "Pilgrim Travellers" aus den Zeiten des Kalten Kriegs in den fünfziger Jahren zurück. Die "Blind Boys" ergänzen den keineswegs veralteten Slogan "Everybody's worried about that atom bomb" durch die Zeile "and no one worried about the day my Lord shall come". Doch alles religiös Bekennerhafte wird auf dem neuen Album durch Loops, Raps und röhrende Blues-Gitarren gebrochen.

Während der Rapper "Gift of Gab" von der Formation "Blackalicious" dem Titel "Demons" ebendiese austreibt, sorgt der "Los Lobos"-Gitarrist David Hidalgo mit seinem sämig angezerrten Saitenspiel für eine beinahe bedrohliche Atmosphäre. In Norman Greenbaums Gospel-Rock-Hymne "Spirit in the Sky" entlockt Hidalgo den Saiten ein unwirkliches Stöhnen und Dröhnen, sein Meisterstück liefert er allerdings mit einem übersteuerten Tremolo seines Instruments in dem bluesigen "Faith and Grace".

Genüßlich kosten die "Blind Boys" die Reibungen zwischen der samtigen Schwärze ihrer Stimmen und den hitzigen Mundharmonikagesängen von Charlie Musselwhite aus. Das ganze Album besitzt eine Aura süßer Unausweichlichkeit. Mit seiner schwelgenden Hammond-B3-Orgel grundiert Billy Preston "Presence of the Lord", jenen ersten von Eric Clapton selbst geschriebenen, arrangierten und gesungenen Song, der 1969 den Höhepunkt des einzigen "Blind Faith"-Albums markierte und jetzt mit sprödem Sprechgesang von Clarence Fountain wiederbelebt wird.

"Es gibt keine Musik wie diese, es gibt kein Drama wie dieses, wenn die Heiligen frohlocken und die Sünder klagen und heulen, wenn die Tamburins rasseln und sich all diese Sounds zu einem einzigen heiligen Aufschrei vereinigen." Vielleicht hatte James Baldwin im Jahre 1962 ein Konzert der "Blind Boys of Alabama" im Ohr, als er mit diesen Zeilen seines aufrüttelnden Essays zur Rassenfrage "The Fire Next Time" - der Titel ist einem uralten Negro-Spiritual entnommen - seine eigenen Gospel-Erlebnisse beschrieb.

PETER KEMPER

Ben Harper and The Blind Boys of Alabama, Live at the Apollo. Virgin Records 7333123.

Ben Harper and The Blind Boys of Alabama, Live at the Apollo. DVD mit Bonus-Material. Virgin Records 44397 97.

The Blind Boys of Alabama, Atom Bomb. Realworld/EMI 563960.

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