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  • Hersteller: AIG,
  • EAN: 5099925234725
  • Artikelnr.: 61086516
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2023

Nie passte Mettigel so gut zu Oper

MAINZ Wenn der Clown mit Margit Sponheimer in Mainz Bus fährt: Gewitzter Gegenwartsrealismus prägt Verena Stoibers virtuose Inszenierung von Puccinis "Le Villi" und Leoncavallos "Bajazzo" am Staatstheater.

Von Axel Zibulski

Der Mettigel, diese kulinarische Ungeheuerlichkeit längst vergangener Partys, erlebt zur ausgelassenen Verlobungsfeier von Anna und Roberto ein Revival. Obwohl es im Übrigen doch ganz heutig zugeht in diesem Schwarzwald-Chalet, dessen Zimmer in einem bühnengroßen, offenen und durchlässigen Setzkasten angeordnet sind. Er prägt Susanne Gschwenders Bühnenbild zu Giacomo Puccinis gerade eine Stunde dauerndem Opernerstling "Le Villi". Später, im zweiten Teil dieser Doppelproduktion italienischer Kurzopern, wird für Ruggero Leoncavallos "Bajazzo" sogar noch ein Stockwerk draufgesetzt, sodass wir auf die offene Wand eines Mietshauses blicken, dessen Bewohner in ihren Zimmern zugleich Kulisse und Zeugen des veristischen Eifersuchtsdramas sind, das am Staatstheater Mainz einmal nicht wie sonst so oft zusammen mit Pietro Mascagnis "Cavalleria rusticana" auf die Bühne kommt.

So ganz ernst nimmt Regisseurin Verena Stoiber bei ihrem Mainzer Debüt den ersten Teil des Doppels, Puccinis ziemlich krudes Operndebüt, nicht. Dass Roberto im Libretto von Puccinis Zeitgenosse Ferdinando Fontana aus nebensächlichem Grund aus dem Schwarzwald just nach Mainz berufen wird, dient ihr als Steilvorlage für eine lokale Einfärbung. In einer Videoeinspielung sehen wir Roberto in einem Mainzer Linienbus in Gesellschaft der örtlichen Ehrenbürgerin und Fastnachtsgröße Margit Sponheimer: Leicht lassen sich die närrischen Gelegenheiten vorstellen, bei denen ihm, librettogemäß, eine "Sirene" so den Kopf verdreht, dass zu Hause im Schwarzwald die Braut voller Gram stirbt und ihre Seele sich mit Naturgeistern, den titelgebenden Willis, vereinigt.

Puccini schildert das etwas verworren schlaglichthaft, mit einem zwischengeschalteten Erzähler (Ivan Krutikov), und Regisseurin Stoiber geht dem assoziationsreich nach, hetzt dem heimkehrenden Roberto gleich ein halbes Dutzend Braut-Dämonen an den Hals. Doch Komponist und Regisseurin nehmen in den Arien die Gefühle der Protagonisten bitterernst, der tenorale Nachdruck von Vincenzo Costanzo als Roberto und Lauren Margisons durchschlagender Sopran in der Partie der Anna beglaubigen das.

Ebenfalls im Linienbus sitzt - und auf diese Klammer muss man erst einmal kommen - ein trauriger Clown, der sich im zweiten Teil des Abends als Canio entpuppt, Leiter der Komödiantentruppe in Leoncavallos "Pagliacci" und hoch eifersüchtiger Gatte Neddas (wieder Lauren Margison). Eine weitere personelle Klammer gibt es in der Person von Strippenzieher Tonio (wieder Ivan Krutikov), mit seinem Prolog und Epilog ebenfalls eine Art Erzähler.

Clown Canio (Kostüme: Sophia Schneider) ist eine tragische Figur, der im Video morgens noch die Tochter aus der Mainzer Neustadtwohnung in die Schule bringt, um sich dann in der Fußgängerzone hinter dem Theater ein paar Groschen zu verdienen. Für die bittere Zuspitzung der Handlung, in der Canio seine Frau im Leben wie im Spiel in flagranti ertappt, findet Stoiber eine ganz heutige Entsprechung der kleinen Leute, die das Personal veristischer Opern wie des "Bajazzo" bilden: Im selben Mietshaus, in dem Nedda fremdgeht, tummeln sich Familien, Freaks und Freunde, die abends alle dieselbe Cartoon-Serie als moderne Variante der Commedia dell'arte anschauen - "Folge 1892", die das Uraufführungsjahr der Oper zitiert, flimmert in der Animation von Clara Hertel und Jonas Dahl über die vielen Bildschirme auf der Bühne und in die Stuben.

Dass diese kühnen Gegenwarts-Parallelführungen zur Vorlage insgesamt aufgehen, mag überraschen, liegt aber wesentlich in der handwerklich virtuosen Inszenierung Stoibers begründet. Denn sosehr die ständigen, bis in den Zuschauerraum verlagerten szenischen Aktionen die Konzentration binden, verliert Leoncavallos schmissig eingängige Partitur in der geschliffenen und drängenden Auslegung des Mainzer Kapellmeisters Daniel Montané nichts an Präsenz. Und eine überbordende Spielfreude, die mit perfektem Timing und theatralisch satten Tableaus den ganz überwiegenden Teil der Premierenbesucher ansteckte, teilt das Ensemble aus Chor, Extrachor und Kinderchor mit den Solisten, unter denen Antonello Palombis melancholisch gefärbter Canio so typengerecht besetzt ist wie Brett Carters schön viriler Rivale Silvio.

Le Villi / Der Bajazzo Staatstheater Mainz, weitere Vorstellungen am 21. und 30. April, 3. und 27. Mai.

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