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  • Hersteller: Sakkaris Rec,
  • EAN: 4011222992796
  • Artikelnr.: 58092521
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2022

Amina will den Mann nicht mehr
Triumph der jungen Stimmen: Das Teatro Real zeigt Bellinis "Sonnambula" / Von Paul Ingendaay, Madrid

Unter den begründeten Einwänden gegen eine Aufführung von Vincenzo Bellinis Semiseria-Oper "La Sonnambula" (aus dem Jahr 1831) wiegen zwei besonders schwer: dass die Titelpartie höllisch fordernd ist, weshalb man die Sache auf mittlerem Niveau gleich vergessen kann; und dass die Handlung weder originell noch plausibel, sondern ziemlich an den Haaren herbeigezogen ist.

Dem ersten Problem begegnete das Madrider Teatro Real, wo es schon seit 22 Jahren keine "Sonnambula" mehr gegeben hatte, indem es zwei junge, brillante Stimmen zusammenspannte: Nadine Sierra als Amina und den international viel weniger bekannten, erst 27 Jahre alten Basken Xabier Anduaga. Sierras geschmeidiger Sopran, der auch in der Höhe noch kraftvoll leuchtet, während er die Pianissimi so innig wie ergreifend gestaltet, trug die Oper von Anfang bis Ende, begleitet von Maurizio Beninis elegantem Dirigat und dem Chor und Orchester des Teatro Real. Da die Amerikanerin portugiesisch-puertorikanischer Herkunft auch noch enorme Bühnenpräsenz hat, war das Spiel musikalisch schon früh gewonnen. Anduagas Liebesarie "L'anel ti dono" lockte auch für den Männerpart den Szenenapplaus hervor, den Nadine Sierra bis dahin schon mehrfach erhalten hatte.

Um der Handlung einen Hauch moderner Psychologie zu geben und Amina als Frau verständlich werden zu lassen, traf die katalanische Regisseurin Bárbara Lluch mehrere eingreifende Entscheidungen. Das Dorf, das wir uns sonst als Schauplatz einer blassen Pastorale vorstellen, wird in Cristof Hetzers Bühnenbild zu einem Ort zwischen Rückständigkeit und den Verwüstungen der Industrialisierung, bewohnt von harten, abergläubischen Menschen. Wie in einem Film der Coen-Brüder hängen zwei aufgeknüpfte Figuren hoch oben in einem einsam herumstehenden Baum. Die Mitglieder des Chors, der eine aggressive Präsenz entfaltet, wirken durch ihr Mienenspiel wie entrückte Eiferer, die paar Kinder auf der Bühne verstockt und verschlossen. Bis in dieses Niemandsland der Provinz hat es die Kunde, dass Menschen schlafwandeln und in diesem Zustand seltsame Dinge tun könnten, noch nicht geschafft, und die moralische Verurteilung, die das Dorf gegen Amina wegen ihres vermeintlichen Fehltritts ausspricht, ist so harsch wie selbstgerecht.

Da hat die gefährliche Vereinsamung der Titelfigur schon längst begonnen. Immer wieder begegnet Amina ihren eigenen Dämonen in Gestalt von Tänzern mit geschwärzten Gesichtern, die sie wie agile Großreptilien umschwirren, ergreifen, bedrängen und von hierhin nach dorthin tragen (für die Choreographie sorgten Iratxe Ansa und Igor Bacovich). Es ist die Kunst der zehn Tänzer, die Szenen mit Amina in der Ambivalenz zu belassen: Während sie die hilflose Frauenfigur im einen Augenblick zu überwältigen scheinen, sehen sie im nächsten aus wie ihre persönliche Leibgarde und ein Schutzmantel gegen die feindliche Welt. Unter allen Figuren ist Amina die einzige, der die Inszenierung von Bárbara Lluch ein Unbewusstes erlaubt.

Zwei weitere Akzente der Regie sorgten beim älteren Publikum für Gemurmel: einmal die Suggestion, Graf Rodolfo könne die zufällig in sein Gemach getappte Schlafende vergewaltigt haben. Und dann der Schluss der Oper, der uns das rasch geflickte Glück der beiden Liebenden verweigert. Natürlich steht es so nicht in Felice Romanis Libretto, das sich seinerseits auf eine Ballettpantomime von Eugène Scribe stützt; aber die Frau in Weiß, die hoch oben auf dem Dach der Kirche so filigran und entrückt ihr bewegendes "Non credea mirarti" singt, ist schon so weit aus ihrem engen Kreis hinausgeschritten, dass es kein Zurück mehr gibt und man sich einfach nicht vorstellen kann, sie könnte es mit dem Dörfler Elvino aushalten.

Die "Sonnambula" ist das Angebot des Teatro Real für die Weihnachtszeit mit dreizehn Aufführungen in drei Wochen. Schluss ist am Dreikönigstag. Weil das für die Hauptdarsteller von der stimmlichen Belastung her nicht zu schaffen wäre, musste eine zweite Besetzung von ähnlich hoher Qualität her: mit Jessica Pratt als Amina und Francesco Demuro als Elvino.

Lustig sind die kleinen Unterschiede zwischen den Abenden. Der zweite Graf Rodolfo (Fernando Radó) hat einen so muskulösen Oberkörper, dass er ihn auf der Bühne länger spazieren trägt und Amina halb nackt bedrängen darf, während der erste Graf Rodolfo, nachdem er der Badewanne entstiegen ist, sich züchtig verhüllt. Dafür ist er - nämlich Rodolfo Tagliavini - ein Nachkomme des großen Ferruccio Tagliavini, der uns 1952 mit Lina Pagliughi und Cesare Siepi bei Cetra eine der schönsten "Sonnambulas" überhaupt hinterließ. Gemeinsam war beiden Abenden, dass Banausen und Banausinnen wüst in hauchzarte Pianissimi hineinhusteten, als gehörten sie selbst in das tumbe Dorf, das wir auf der Bühne sahen. Man kennt das Phänomen in Madrid so gut, dass die Zeitungen es schon lange nicht mehr kommentieren. So wurde der Bellini-Abend in der Presse nahezu wirklichkeitsgemäß als das beschrieben, was er war: ein Triumph.

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