BLACKBOX RIO REISER ist der gewaltige Teil von Rio Reisers Werk, der bisher im Dunkeln lag, künftig aber eine ähnliche Bedeutung erlangen könnte, wie die Songs seiner legendären Band Ton Steine Scherben und die seiner Solozeit. Sie ist aber auch eine gewaltige Leistung des Suchen und Sammelns, des Archivieren, Ordnens und der Revitalisierung eines auch in die Zukunft breit wie tief wirkenden musikalisch-thematischen Erbes einer hoch herausragenden Künstlerpersönlichkeit, die es so außerhalb der dafür sonst üblichen wie notwenigen Subventionen und Intuitionen, wohl nur noch selten gegeben hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.201621. Das Backen der verklebten Bänder
Das muss man auch erst mal schaffen: auf 16 CDs der Sänger oder Texter zu sein, ohne von sich zu singen. Die von dem Freund und zeitweiligen Mitmusiker Rio Reisers, Lutz Kerschowski, herausgegebene und produzierte "Blackbox Rio Reiser" hat natürlich Rio Reiser als Kraftzentrum, und doch geht ihr alles Udohafte ab, heiße er nun Jürgens oder Lindenberg. Die Blackbox dokumentiert oder, genauer: reorganisiert und bringt das private Tonarchiv von Rio Reiser in sehr gut hörbare Form. Das ist zum einen auch eine Geschichte aus der Steinzeit der Ton- und Musiktechnik, in der es auch um das "Backen" und "Waschen" von alten und nicht materialgerecht gelagerten Tonbändern und Kassetten geht. Und wie der Tontechniker Ekki Strauss in dem ebenso schön gestalteten wie satt informierenden dicken und großen Begleitbuch der Blackbox vom Backen der verklebten Bänder in einem für die Gen- und Biotechnik gebauten Brutschrank erzählt, das fügt sich in die Geschichte dieser Sammlung von mehr als 350 Songs aus dreißig Jahren.
Dabei geht es technisch wie thematisch um Kämpfe, die sich teilweise erledigt haben und teilweise nicht. Wenn Reiser singt "Wir können mehr, als ihr erlaubt" und immer wieder betont: "Wir bringen alles mit", geht es um die Jugend nicht nur als soziologische Erscheinung. Und diesen Kampf hat er, wenn auch bestimmt nicht allein, gewonnen. Um die Anerkennung der Jugend als Potential und Form muss heute niemand mehr kämpfen; eher muss sich jeder Ältere fragen, wie viel Jugend in ihm steckt, wenn er noch im Kampf ist um jene Dinge, die sich nicht erledigt haben. Im "Chefsong" erzählt Reiser von diesen Dingen: von Rasenmähern, Autos, Waschmaschinen, Mixern, die, wenn sie einem gehören, das Glück versprechen. Und von den Kämpfen zwischen dem Erkennen der eigenen Potentiale und den Gefahren ihres Verlustes in den Dingen, die so schön glänzen, wenn man sie kaufen soll, kann immer noch niemand so hell und deutlich singen wie Rio Reiser. Es ist schließlich "doch besser, wenns weiter ist", wie er in dem Lied "Alaska" über Alaska als Sehnsuchtsort singt, das besser als Paris ist, weil es weiter weg ist.
Damit ist man im überzeitlichen Terrain der Reiserschen Kämpfe angekommen: dem Kampf um die Sprache. Die Blackbox dokumentiert auf ihrer ersten CD englisch gesungene, an Klassikern des angelsächsischen Pop orientierte Lieder, die er nur mit der Gitarre oder am Klavier begleitet. Sie sind der Teil der Box, an dem der Notiz- und Übungscharakter am klarsten erscheint. Mehr als erfreulich ist aber auch hier, dass es, wie auf der gesamten Box, nicht ein Gitarrensolo von Reiser zu hören gibt. Nicht mal mit dem Instrument allein wird er zum narzisstischen Helden. Dieses Projekt ist, vom oft besungenen "wir" bis zur ausgesprochenen Aufforderung "Macht kaputt, was euch kaputt macht", ein soziales oder emanzipatorisches, das immer um die Bedeutung der Aktion der Körper im Raum weiß. Heute würde man Reisers erste Aktionsform wahrscheinlich als performativ bezeichnen, sie geht aber immer über die bloße Aktion hinaus. Und dabei war das Theater von immenser Bedeutung. Es war eine Auftrittssituation, in der er zuerst begriff, dass der deutsch gesungene Pop- und Kampfsong funktionieren könnte. Und es war seine Zusammenarbeit mit Theatergruppen wie "Hoffmanns Comic Theater" oder der schwulen Agitationstruppe "Brühwarm", die ihn in die Formen einführten, seine Sätze und Lieder immer auch "zu spielen". Dass die Blackbox die theatralen oder performativen Übungen Reisers auch mit sehr guten Fotos dokumentiert, macht sie zu einem eigenständigen Werk, das nicht nur ein Zusatz zur großen Ton-Steine-Scherben-Werkausgabe ist. Zu einem im Kleinen wie Großen sehr gelungenen Werk.
Cord Riechelmann
Rio Reiser: "Blackbox" (Limited and Numbered Edition, 16 CDs, 1 Buch; Möbius)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das muss man auch erst mal schaffen: auf 16 CDs der Sänger oder Texter zu sein, ohne von sich zu singen. Die von dem Freund und zeitweiligen Mitmusiker Rio Reisers, Lutz Kerschowski, herausgegebene und produzierte "Blackbox Rio Reiser" hat natürlich Rio Reiser als Kraftzentrum, und doch geht ihr alles Udohafte ab, heiße er nun Jürgens oder Lindenberg. Die Blackbox dokumentiert oder, genauer: reorganisiert und bringt das private Tonarchiv von Rio Reiser in sehr gut hörbare Form. Das ist zum einen auch eine Geschichte aus der Steinzeit der Ton- und Musiktechnik, in der es auch um das "Backen" und "Waschen" von alten und nicht materialgerecht gelagerten Tonbändern und Kassetten geht. Und wie der Tontechniker Ekki Strauss in dem ebenso schön gestalteten wie satt informierenden dicken und großen Begleitbuch der Blackbox vom Backen der verklebten Bänder in einem für die Gen- und Biotechnik gebauten Brutschrank erzählt, das fügt sich in die Geschichte dieser Sammlung von mehr als 350 Songs aus dreißig Jahren.
Dabei geht es technisch wie thematisch um Kämpfe, die sich teilweise erledigt haben und teilweise nicht. Wenn Reiser singt "Wir können mehr, als ihr erlaubt" und immer wieder betont: "Wir bringen alles mit", geht es um die Jugend nicht nur als soziologische Erscheinung. Und diesen Kampf hat er, wenn auch bestimmt nicht allein, gewonnen. Um die Anerkennung der Jugend als Potential und Form muss heute niemand mehr kämpfen; eher muss sich jeder Ältere fragen, wie viel Jugend in ihm steckt, wenn er noch im Kampf ist um jene Dinge, die sich nicht erledigt haben. Im "Chefsong" erzählt Reiser von diesen Dingen: von Rasenmähern, Autos, Waschmaschinen, Mixern, die, wenn sie einem gehören, das Glück versprechen. Und von den Kämpfen zwischen dem Erkennen der eigenen Potentiale und den Gefahren ihres Verlustes in den Dingen, die so schön glänzen, wenn man sie kaufen soll, kann immer noch niemand so hell und deutlich singen wie Rio Reiser. Es ist schließlich "doch besser, wenns weiter ist", wie er in dem Lied "Alaska" über Alaska als Sehnsuchtsort singt, das besser als Paris ist, weil es weiter weg ist.
Damit ist man im überzeitlichen Terrain der Reiserschen Kämpfe angekommen: dem Kampf um die Sprache. Die Blackbox dokumentiert auf ihrer ersten CD englisch gesungene, an Klassikern des angelsächsischen Pop orientierte Lieder, die er nur mit der Gitarre oder am Klavier begleitet. Sie sind der Teil der Box, an dem der Notiz- und Übungscharakter am klarsten erscheint. Mehr als erfreulich ist aber auch hier, dass es, wie auf der gesamten Box, nicht ein Gitarrensolo von Reiser zu hören gibt. Nicht mal mit dem Instrument allein wird er zum narzisstischen Helden. Dieses Projekt ist, vom oft besungenen "wir" bis zur ausgesprochenen Aufforderung "Macht kaputt, was euch kaputt macht", ein soziales oder emanzipatorisches, das immer um die Bedeutung der Aktion der Körper im Raum weiß. Heute würde man Reisers erste Aktionsform wahrscheinlich als performativ bezeichnen, sie geht aber immer über die bloße Aktion hinaus. Und dabei war das Theater von immenser Bedeutung. Es war eine Auftrittssituation, in der er zuerst begriff, dass der deutsch gesungene Pop- und Kampfsong funktionieren könnte. Und es war seine Zusammenarbeit mit Theatergruppen wie "Hoffmanns Comic Theater" oder der schwulen Agitationstruppe "Brühwarm", die ihn in die Formen einführten, seine Sätze und Lieder immer auch "zu spielen". Dass die Blackbox die theatralen oder performativen Übungen Reisers auch mit sehr guten Fotos dokumentiert, macht sie zu einem eigenständigen Werk, das nicht nur ein Zusatz zur großen Ton-Steine-Scherben-Werkausgabe ist. Zu einem im Kleinen wie Großen sehr gelungenen Werk.
Cord Riechelmann
Rio Reiser: "Blackbox" (Limited and Numbered Edition, 16 CDs, 1 Buch; Möbius)
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