Produktdetails
Trackliste
CD
1Bolero00:14:54
2La Valse (Tanzdichtung)00:12:25
3Prélude à la nuit00:04:09
4Malagueña00:02:03
5Habanera00:02:54
6Feria00:05:58
7Prélude00:03:19
8Forlane00:06:06
9Menuet00:04:49
10Rigaudon00:03:26
11Alborada del gracioso00:07:23
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2018

Die wahren Patrioten sitzen im Orchestergraben
Beim Musikfestival in Pärnu führt Paavo Järvi das Estonian Festival Orchestra zu europäischer Exzellenz

PÄRNU, 14. August

In den Gärten von Pärnu, hinter bunt bemalten Holzzäunen, tragen die Bäume schwer an der Last der Sommeräpfel. In dichten Trauben hängen sie an den Ästen, üppiges Laub gibt ihnen Schatten, den man auch hier in Estland in diesem Sommer gern aufsucht. Braungebrannt sind die Menschen, die abends in die Konzerte des Musikfestivals gehen, nach einem Tag an der Ostsee (die hier Westsee heißt), und auch programmatisch-künstlerisch hängen die Bäume mittlerweile voll. Im achten Jahr hat das Pärnu Musikfestival, gegründet vom Dirigenten Paavo Järvi gemeinsam mit seinem ebenfalls dirigierenden Vater Neeme, eine neue Stufe erreicht. Im Januar bereits war das Estonian Festival Orchestra, das von Paavo Järvi betreute Herzstück des Festivals, erstmals auf Tour durch Europa. Offizieller Anlass war der hundertste Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Esten im Februar 1918. Gleichzeitig erschien die erste CD. Erstmals geht das Orchester in diesem Jahr auch direkt nach dem Sommerfestival auf Tour. Ein Auftritt bei den Proms in London folgte, an diesem Mittwoch spielt das Orchester schon in der Hamburger Elbphilharmonie. Im kommenden April wird das Ensemble in Japan gastieren. Ein beschaulicher Badeort macht Weltkarriere.

Die verstärkte Außentätigkeit erzeugt auch ein Paradoxon. Denn größer soll das Festival eigentlich nicht werden. Kann es auch kaum, denn der feine Konzertsaal, der hier auf Initiative von Vater Järvi 2002 gebaut wurde, hat nur tausend Sitzplätze. Und steht ein großes Orchesterwerk auf dem Programm, ist die Bühne dicht besetzt; kommt die Musik dazu (der es unter Paavo Järvis Leitung nie an Kraft mangelt), kann es im Raum eng werden. Warum also geht das Orchester auf Tournee? "Damit es besser wird", lautet Järvis erste Antwort. "Weil es ein Botschafter Estlands ist", heißt seine zweite Antwort. Die Reihenfolge mag verwundern, verdeutlicht aber, dass Järvi am Urlaubsort seiner Kindheit, an dem er als Zehnjähriger einst den ebenfalls urlaubenden Dmitri Schostakowitsch traf, künstlerisch ehrgeizige Ziele verfolgt.

Die Musiker, die Järvi von jenen Orchestern mitbringt, die er gegenwärtig leitet (etwa die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen) oder die er früher geleitet hat (das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks und das Orchestre de Paris), sollen sich mit Musikern aus Estland zu einem Ensemble verbinden, in dem der kernige, auf den ganz persönlichen Input jedes Einzelnen setzende Järvi-Stil ideal verwirklicht wird. An einer Hierarchie nach Qualität rüttelt der Dirigent dabei nicht. An den ersten Pulten sitzen die Musiker aus den großen Orchestern: Philippe Aïche etwa als Konzertmeister vom Orchestre de Paris, der fabelhafte Matthew Hunt von der Kammerphilharmonie an der Solo-Klarinette, José Luis García Vegara als Solo-Oboist vom Hessischen Rundfunkorchester. Die estnischen Musiker ordnen sich dahinter ein.

Dabei entsteht ein Klangkörper von beeindruckenden Möglichkeiten. Die kammermusikalische Duftigkeit und Beweglichkeit, mit der im ersten Konzert Maurice Ravels "La Valse" gespielt wird, ist verführerisch. Die Entschiedenheit, mit der Järvi und seine Musiker das Klavierkonzert von Edvard Grieg als hochdramatisches Stück vorstellen, nimmt gefangen. Elisabeth Leonskaja als Solistin ist eine energische Partnerin, die ebenfalls weniger das Poetische sucht in Griegs Musik als den herzhaften und herzlichen Ausdruck. Und wenn kurz vor Ende des Stückes plötzlich eine Volksmelodie auftaucht, einsam in der Flöte wie eine Erinnerung, und diese wenig später - so endet das Werk - triumphal mit dem ganzen Orchester wiederholt wird, so erscheint das hier als patriotischer Ausdruck, der wiederum auf den Themenschwerpunkt des diesjährigen Festivals verweist: das Jubiläum der estnischen Unabhängigkeit.

Jüri Reinvere, der in Tallinn geborene, mittlerweile in Frankfurt lebende Komponist, fasste in seinem Stück "Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen", uraufgeführt als Auftragswerk des Festivals, den Rahmen allerdings deutlich weiter. Es geht um Zivilisationsmüdigkeit und einen Tanz in den Untergang, dargestellt in einem fulminanten Werk: glänzend instrumentiert, fesselnd erzählt, heftig und engagiert in seinem Appell, wenn schließlich vier Trommler im brutalen Marsch vollenden, was sich im übermürben Ton der Streicher ankündigt und im Drohen der tiefen Hörner. Das Orchester spielt das Werk mit spürbarer Begeisterung, im Verbund mit Ravels Endzeitwalzer "La Valse" ergibt sich eine beklemmende Aussage bei einem Festival, das sich sonst von allem Politischen fernhält. Sehr selbstverständlich gehören auch Musiker aus Russland, dem seit jeher beargwöhnten Nachbarn der Esten, zum Orchester-Kosmos von Pärnu. Gleichwohl spielt die estnische Musik hier eine hervorgehobene Rolle. Neben Reinvere und Arvo Pärt wurden auch Werke von Eduard Tubin, Rudolf Tobias, Heino Eller und Erkki-Sven Tüür gespielt. Kombiniert werden sie in Pärnu gern mit Komponisten aus anderen Ostsee-Ländern. So stand im episch langen Abschlusskonzert Witold Lutoslawskis "Konzert für Orchester" auf dem Programm, vom Festivalorchester mit rhythmischer Macht dargeboten, und Jean Sibelius' fünfte Symphonie in einer etwas ungenauen Fassung. Das gemeinsame Feiern, das in Pärnu gleichberechtigt neben dem gemeinsamen Proben steht, forderte hier, am Ende der Woche, wohl seinen Tribut.

Und Midori spielte Sibelius' Violinkonzert: streng eingefasst in Ton und Gestus, als ein Selbstgespräch, zu dem auch die Selbstzerfleischung gehört. Die großen Solisten kommen mittlerweile gern in den Badeort, wo das Rauschen der Linden und Birken zusammengeht mit dem Rauschen der Brandung.

CLEMENS HAUSTEIN

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