Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 12. Januar 1990
- Hersteller: EMI Music Germany GmbH & Co KG / HMV / (P,
- EAN: 5099925222524
- Artikelnr.: 36815569
CD | |||
1 | Boléro | ||
2 | La Valse | ||
3 | Rapsodie espagnole | ||
4 | Menuet antique | ||
5 | Pavane pour une infante défunte | ||
6 | Alborada del gracioso | ||
7 | Un barque sur l'océan | ||
8 | Pavane pour une infante defunte | 00:07:04 | |
9 | Alborada del gracioso (aus "Miroirs") | 00:07:39 | |
10 | Une barque sur l'ocean (aus "Miroirs") | 00:07:38 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2015Wenn die Männer-Welle bricht
Beim Musikfestival in Verbier kooperieren Stars und der Nachwuchs: Valery Gergiev macht aus Ravels "Boléro" eine Hommage an Maja Plissezkaja, Thomas Quasthoff dirigiert die Matthäus-Passion.
VERBIER, Ende Juli
Wer von der Schweiz spricht, meint oft auch die spektakulär-mondänen Ski-Orte St. Moritz und Zermatt: Höhenlage, pittoreskes Panorama, riesiges Revier und Nobel-Exlusivität fallen hier in eins. Doch Ski-Fans hören auch einen anderen Namen mit freudiger Erregung: Verbier, im französischsprachigen Teil des Wallis im Zentrum der "Vier Täler", vis à vis dem Eisriesen Grand Combin und mit dem 3330 Meter hohen Mont Fort als sportlicher Herausforderung, gilt nicht minder als Spitzenregion. Doch anders als St. Moritz wird Verbier weniger durch monumentale Hotelpaläste bestimmt: Chalets prägen das Bild der weitläufigen Sonnen-Terrasse. Es ist eine reiche, teure Gegend. Doch damit wollte man sich nicht begnügen. Analog zu Gstaad, wo Yehudi Menuhin sein Festival etablierte, hat auch Verbier seit 1994 seinen Musiksommer, die Attraktivität von Lage, Panorama und Klima wird auch für die Kunst genutzt.
Durch Sponsoren gut alimentiert, verbindet das Festival prestigeträchtiges Star-Defilee mit intensiver Nachwuchspflege. Dirigenten wie James Levine, Zubin Mehta, Charles Dutoit, Valery Gergiev waren hier oft zu Gast, Martha Argerich spielte hier gern zusammen mit anderen Musikern. Diesmal war sie nicht dabei, doch das Pianisten-Aufgebot ist enorm: Andras Schiff (mit den letzten Haydn-, Mozart-, Beethoven- und Schubert-Sonaten, dem dritten Bartók-Konzert), Grigory Sokolov, dazu die jüngere russische Klavier-Elite. Meister-Kurse, Kammermusik-Kombinationen sorgten dafür, dass Renommierte und Talentierte zusammenfanden. Hauptfaktor ist das stark besetzte Festival-Orchester aus internationalen Musikern im Alter zwischen neunzehn und 29 Jahren, zu dem noch ein Kammerorchester gehört. Das Bild ist facettenreich. Das Publikum kommt hauptsächlich aus der frankophonen Westschweiz, bringt auch ein wenig diskreten Charme der Bourgeoisie mit. Deutsche trifft man kaum; vielleicht ist die französische Sprache ein Hemmnis. Allerdings sind die traditionell hohen Preise durch die Franken-Aufwertung auch noch um ein gutes Fünftel gestiegen. So wirbt eine Boutique damit, diese entsprechend reduzieren zu wollen.
Ursprünglich sollte James Levine das Eröffnungskonzert mit Richard Strauss, Hector Berlioz, Franz Schubert dirigieren, musste aber absagen. Vier nicht von Glamour dominierte Tage hinterlassen vielfältige Eindrücke, belebt durch Raritäten. Wann hört man schon einmal Schumanns fragile Variationen für zwei Klaviere op. 46 im Original mit zusätzlich zwei Celli und Horn - und dem Geister-Effekt-Reflex des "Seit ich ihn gesehen" aus "Frauenliebe und -leben"? Oder, als Gegenwelt, Strauss' "Frühlingsstimmen-Walzer" in der Frühfassung für Koloratursopran, fabelhaft serviert von der Südafrikanerin Pretty Yende? Für Kammerbesetzungen ist die Salle des Combins nicht optimal. Vielleicht lag es daran, dass Schuberts "Forellenquintett" ein wenig routiniert klang.
Zwei Abende bescherten erhebliche Überraschungen. Valery Gergievs Konzert mit dem Festival-Orchester zeugt vom effizienten Engagement des ubiquitären Dirigenten; wobei sich wieder einmal zeigt, dass die Unterschiede bei Tschaikowskys "Pathétique" zwischen Spitzen-, Provinz- und Nachwuchs-Orchestern nicht so immens sein müssen, wie es die Fama will. Gergiev hat, wie viele Dirigenten, als Pianist angefangen, und erinnert sich dessen hier. In Mozarts Konzert für drei Klaviere dirigiert er vom Flügel aus, den leichteren, quasi "Katzen-Klavier"-Part, sicher absolvierend, während Denis Matsuev und Daniil Trifonow virtuos beseelt duettieren.
Die Sensation freilich ist Maurice Ravels "Boléro", nicht nur als orchestrale Kraftleistung, sondern als leibhaftig werdende Hommage an die überragende russische Ballerina Maja Plissezkaja. Maurice Béjart hat seine epochale Choreographie von 1961 mit ihr 1975 im Film festhalten lassen, der nun zur Live-Aufführung gezeigt wird. Der Eindruck, vierzig Jahre später, ist überwältigend: Allein auf einem runden Tisch plaziert, beginnt sie mit absolut minimalistischen Armbewegungen, die ganz allmählich zum Handspiel wie von balinesischen Tempeltänzerinnen übergehen. Frappierend die Analogie zur etwa gleichzeitig aufkommenden Zeitlupen-Ästhetik von Robert Wilson, auch in den unendlich langsam sich steigernden, immer wieder gleichsam zurückschaltenden Bewegungs-Variationen. Ein erotisches Zusammenspiel mit dem sie umringenden Tänzerkollektiv beschränkt sich auf einige Flamenco-Andeutungen. Schließlich bricht sie zusammen - und die Männer-Welle stürzt kreisförmig vernichtend über sie: ein anderer "Sacre"-Schluss. Eine schier apokalyptische Bild-Musik-Eskalation.
Dass Sänger zu dirigieren anfangen, ist nicht ganz ungewöhnlich: Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier, auch Plácido Domingo haben dies praktiziert, ohne darüber das Singen aufzugeben. Der Bassbariton Thomas Quasthoff hat seine Solisten-Laufbahn beendet, unterrichtet vermehrt und hat sich entschieden, seine immense Erfahrung als Sänger nun auch noch in anderer Weise zu nutzen: als Dirigent. Seine Behinderung prädestiniert ihn nicht für die Rolle des Pultstars. Deshalb hat er sich für sein Debüt ein Werk ausgesucht, bei dem es mehr auf innere Überzeugung, vielfältige Kenntnisse, vokales Übertragungs-Charisma ankommt und das als sakralmusikalisches Spitzenwerk immer wieder bestürzt: Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, die in Verbier erstmals erklang.
Quasthoff standen der vorzügliche Rias-Kammerchor und das Festival-Kammerorchester zur Verfügung. Mehr mit dem ganzen Oberkörper als mit dem Taktstock Impulse gebend, setzte er auf zügige, antipathetische Tempi und konnte sich vor allem auf den Chor verlassen. Gleichwohl gewann der Ablauf erst allmählich an Konsistenz. Der Eingangs-Chor glich der Momentaufnahme einer mobilen Situation. Nachdem der erste Teil obendrein von einem Gewitter mit Donner und prasselndem Regen heimgesucht wurde, gewann im zweiten Teil die Aufführung an Schubkraft, bis zum durchdrungenen, bezwingenden Schlusschor. Unter den glänzenden Solisten beeindrucken zumal der Tenor Mark Padmore als Evangelist und die Sopranistin Christiane Karg mit ihrem ebenso intensiven wie unaffektiert reinen Gesang. Das Publikum feiert die selbstverständlich französisch übertitelte Aufführung mit Emphase.
GERHARD R. KOCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beim Musikfestival in Verbier kooperieren Stars und der Nachwuchs: Valery Gergiev macht aus Ravels "Boléro" eine Hommage an Maja Plissezkaja, Thomas Quasthoff dirigiert die Matthäus-Passion.
VERBIER, Ende Juli
Wer von der Schweiz spricht, meint oft auch die spektakulär-mondänen Ski-Orte St. Moritz und Zermatt: Höhenlage, pittoreskes Panorama, riesiges Revier und Nobel-Exlusivität fallen hier in eins. Doch Ski-Fans hören auch einen anderen Namen mit freudiger Erregung: Verbier, im französischsprachigen Teil des Wallis im Zentrum der "Vier Täler", vis à vis dem Eisriesen Grand Combin und mit dem 3330 Meter hohen Mont Fort als sportlicher Herausforderung, gilt nicht minder als Spitzenregion. Doch anders als St. Moritz wird Verbier weniger durch monumentale Hotelpaläste bestimmt: Chalets prägen das Bild der weitläufigen Sonnen-Terrasse. Es ist eine reiche, teure Gegend. Doch damit wollte man sich nicht begnügen. Analog zu Gstaad, wo Yehudi Menuhin sein Festival etablierte, hat auch Verbier seit 1994 seinen Musiksommer, die Attraktivität von Lage, Panorama und Klima wird auch für die Kunst genutzt.
Durch Sponsoren gut alimentiert, verbindet das Festival prestigeträchtiges Star-Defilee mit intensiver Nachwuchspflege. Dirigenten wie James Levine, Zubin Mehta, Charles Dutoit, Valery Gergiev waren hier oft zu Gast, Martha Argerich spielte hier gern zusammen mit anderen Musikern. Diesmal war sie nicht dabei, doch das Pianisten-Aufgebot ist enorm: Andras Schiff (mit den letzten Haydn-, Mozart-, Beethoven- und Schubert-Sonaten, dem dritten Bartók-Konzert), Grigory Sokolov, dazu die jüngere russische Klavier-Elite. Meister-Kurse, Kammermusik-Kombinationen sorgten dafür, dass Renommierte und Talentierte zusammenfanden. Hauptfaktor ist das stark besetzte Festival-Orchester aus internationalen Musikern im Alter zwischen neunzehn und 29 Jahren, zu dem noch ein Kammerorchester gehört. Das Bild ist facettenreich. Das Publikum kommt hauptsächlich aus der frankophonen Westschweiz, bringt auch ein wenig diskreten Charme der Bourgeoisie mit. Deutsche trifft man kaum; vielleicht ist die französische Sprache ein Hemmnis. Allerdings sind die traditionell hohen Preise durch die Franken-Aufwertung auch noch um ein gutes Fünftel gestiegen. So wirbt eine Boutique damit, diese entsprechend reduzieren zu wollen.
Ursprünglich sollte James Levine das Eröffnungskonzert mit Richard Strauss, Hector Berlioz, Franz Schubert dirigieren, musste aber absagen. Vier nicht von Glamour dominierte Tage hinterlassen vielfältige Eindrücke, belebt durch Raritäten. Wann hört man schon einmal Schumanns fragile Variationen für zwei Klaviere op. 46 im Original mit zusätzlich zwei Celli und Horn - und dem Geister-Effekt-Reflex des "Seit ich ihn gesehen" aus "Frauenliebe und -leben"? Oder, als Gegenwelt, Strauss' "Frühlingsstimmen-Walzer" in der Frühfassung für Koloratursopran, fabelhaft serviert von der Südafrikanerin Pretty Yende? Für Kammerbesetzungen ist die Salle des Combins nicht optimal. Vielleicht lag es daran, dass Schuberts "Forellenquintett" ein wenig routiniert klang.
Zwei Abende bescherten erhebliche Überraschungen. Valery Gergievs Konzert mit dem Festival-Orchester zeugt vom effizienten Engagement des ubiquitären Dirigenten; wobei sich wieder einmal zeigt, dass die Unterschiede bei Tschaikowskys "Pathétique" zwischen Spitzen-, Provinz- und Nachwuchs-Orchestern nicht so immens sein müssen, wie es die Fama will. Gergiev hat, wie viele Dirigenten, als Pianist angefangen, und erinnert sich dessen hier. In Mozarts Konzert für drei Klaviere dirigiert er vom Flügel aus, den leichteren, quasi "Katzen-Klavier"-Part, sicher absolvierend, während Denis Matsuev und Daniil Trifonow virtuos beseelt duettieren.
Die Sensation freilich ist Maurice Ravels "Boléro", nicht nur als orchestrale Kraftleistung, sondern als leibhaftig werdende Hommage an die überragende russische Ballerina Maja Plissezkaja. Maurice Béjart hat seine epochale Choreographie von 1961 mit ihr 1975 im Film festhalten lassen, der nun zur Live-Aufführung gezeigt wird. Der Eindruck, vierzig Jahre später, ist überwältigend: Allein auf einem runden Tisch plaziert, beginnt sie mit absolut minimalistischen Armbewegungen, die ganz allmählich zum Handspiel wie von balinesischen Tempeltänzerinnen übergehen. Frappierend die Analogie zur etwa gleichzeitig aufkommenden Zeitlupen-Ästhetik von Robert Wilson, auch in den unendlich langsam sich steigernden, immer wieder gleichsam zurückschaltenden Bewegungs-Variationen. Ein erotisches Zusammenspiel mit dem sie umringenden Tänzerkollektiv beschränkt sich auf einige Flamenco-Andeutungen. Schließlich bricht sie zusammen - und die Männer-Welle stürzt kreisförmig vernichtend über sie: ein anderer "Sacre"-Schluss. Eine schier apokalyptische Bild-Musik-Eskalation.
Dass Sänger zu dirigieren anfangen, ist nicht ganz ungewöhnlich: Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier, auch Plácido Domingo haben dies praktiziert, ohne darüber das Singen aufzugeben. Der Bassbariton Thomas Quasthoff hat seine Solisten-Laufbahn beendet, unterrichtet vermehrt und hat sich entschieden, seine immense Erfahrung als Sänger nun auch noch in anderer Weise zu nutzen: als Dirigent. Seine Behinderung prädestiniert ihn nicht für die Rolle des Pultstars. Deshalb hat er sich für sein Debüt ein Werk ausgesucht, bei dem es mehr auf innere Überzeugung, vielfältige Kenntnisse, vokales Übertragungs-Charisma ankommt und das als sakralmusikalisches Spitzenwerk immer wieder bestürzt: Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, die in Verbier erstmals erklang.
Quasthoff standen der vorzügliche Rias-Kammerchor und das Festival-Kammerorchester zur Verfügung. Mehr mit dem ganzen Oberkörper als mit dem Taktstock Impulse gebend, setzte er auf zügige, antipathetische Tempi und konnte sich vor allem auf den Chor verlassen. Gleichwohl gewann der Ablauf erst allmählich an Konsistenz. Der Eingangs-Chor glich der Momentaufnahme einer mobilen Situation. Nachdem der erste Teil obendrein von einem Gewitter mit Donner und prasselndem Regen heimgesucht wurde, gewann im zweiten Teil die Aufführung an Schubkraft, bis zum durchdrungenen, bezwingenden Schlusschor. Unter den glänzenden Solisten beeindrucken zumal der Tenor Mark Padmore als Evangelist und die Sopranistin Christiane Karg mit ihrem ebenso intensiven wie unaffektiert reinen Gesang. Das Publikum feiert die selbstverständlich französisch übertitelte Aufführung mit Emphase.
GERHARD R. KOCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main