Produktdetails
- Anzahl: 1 Vinyl
- Erscheinungstermin: 17. Juni 2011
- Hersteller: 375 Media GmbH / 4AD/BEGGARS GROUP / INDIGO,
- EAN: 0652637311716
- Artikelnr.: 33362808
- Herstellerkennzeichnung
- Beggars UK Ltd.
- 375 Media GmbH
- Schachthofstraße 36a
- 21079 Hamburg
- https://375media.com/
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2011Wir sind nicht mehr in Kansas
Erst ging er in den Wald, jetzt in die Welt: Justin Vernon, genannt Bon Iver, hat eine große und weite Platte gemacht
Dennis Hopper wollte immer wissen, wohin die Züge fahren. Er ist an den Gleisen groß geworden, die quer durch den Wilden Westen gelegt wurden, in Dodge City, das liegt in Kansas: "Rauchende Colts" spielte hier, die Cowboyserie aus der Zeit, als die kleine Stadt noch Grenzposten zum großen Nirgendwo war. Hier fangen Geschichten an, Hopper hat ein paar von ihnen erzählt.
In den ersten, undeutlichen, verwehten Sekunden der neuen Platte von Bon Iver, die, je länger sie dauert, immer deutlicher zu einer der besten amerikanischen Platten seit langer, wirklich langer Zeit wird, hört man die Glocken eines Bahnübergangs. Ein Zug. Aber bevor man ihn auch hören kann, legt sich eine Gitarre in den Weg, und dann beginnt ein Lied, das sich weit und weiter auftürmt, erst kommt noch eine Gitarre und dann der Gesang dazu, hellstes Falsett, dann noch ein Schlagzeug, irgendwann auch Bläser, bis das Lied ungefähr so groß ist wie Kansas. Justin Vernon hat dieses Lied geschrieben. Es heißt "Perth" (also ein ganz anderer wilder Westen, der von Australien nämlich). Justin Vernon war erst allein Bon Iver, jetzt ist daraus eine Band geworden. Vernon kommt aus Wisconsin. Er will auch wissen, wohin die Züge fahren.
Man hat, seit Vernon 2008 mit seinem Debüt "For Emma, Forever Ago" zur Renaissance des Folk aus dem Geiste des Punk beigetragen hat, die jetzt schon ein paar Jahre länger anhält, seine Geschichte oft erzählt: wie der arme Kerl, verlassen von seiner damaligen Band und Liebe, zurückgekehrt ist nach Eau Claire, seiner Heimatstadt in Wisconsin. Wie er in die Wälder ging, sich in einer Hütte einquartierte, dort monatelang litt und trank und auf die Jagd ging und bei alledem ein paar Songs an der Grenze zur Empfindsamkeitshysterie schrieb, und manche auch drüber hinaus.
Diese erste Platte - Vernon mit Gitarre, manchmal gab es Bläser, das war es aber schon - steckt irgendwo auch noch in dieser zweiten von Bon Iver, aber beide verhalten sich zueinander wie Kammermusik zu Oper. Wie etwas ganz Kleines zu etwas ganz Großem. Die Motive der ersten Platte, Liebe, Verlust, Trauer, Selbstmitleid, Einsicht, Zurandekommen, hat Vernon für die neue Platte hochkopiert, und dabei wurden sie seltsamerweise schärfer. Wenn er mit seiner Band im Juli auf Tour geht, werden sie zu neunt sein.
Justin Vernon ist mit dem Rapper Kanye West befreundet, den viele für ein Genie halten, die beiden haben auf Wests letzter Platte zusammengearbeitet, irgendwas haben die beiden aneinander gefunden, aber was es auch ist: Man findet es nicht sofort auf "Bon Iver". Dafür findet man Orte (Perth, Lisbon in Ohio, Minnesota, Calgary) und ganze Zeitalter (das Holozän). Die Songtitel, "Holocene" also und "Lisbon, OH" oder "Calgary", wirken wie Arbeitstitel, hingeschrieben, weil das Kind einen Namen brauchte, Steno für irgendwas anderes, wie überhaupt Justin Vernon sehr viele, sehr seltene Worte benutzt in seinen neuen Songs, "acrost" zum Beispiel oder "gamut" und "young habitat!".
Man fragt sich, was all das nur heißen soll, könnte es jetzt umständlich nachschlagen, aber was soll's, es klingt ja wunderschön, und nichts anderes soll es am Ende wohl auch: "Bet / is hardly shown / scraped / across the foam / like they stole it / and oh, how they hold it / Claire, we nearly forfeit." Tolle Vorstellung, dass Leute, die überhaupt kein Englisch können, diese Texte genauso gut verstehen wie Leute, die glauben, es zu tun.
Und dann diese Musik. In "Perth", das manchmal wie Porzellan klingt, legt plötzlich ein Schlagzeug los, auf das Metallica stolz wären. Die Platte endet mit einem Keyboardsong, derartig billig, als hätte sich Justin Vernon bei Saturn oder im Media Markt wahllos an einen Synthesizer gesetzt, auf den erstbesten Knopf gedrückt und dann losgeklimpert. Konservenware. Ein bisschen zu clever vielleicht. Ein fast schon arrogantes Statement für eine Platte, auf der Bon Iver sonst ziemlich gut hinter einer Wolkenfront größter Gefühle verstecken können, wie hervorragend gespielt und produziert das ist, was sie hier tun. Es ist die einzige Stelle auf der neuen Platte, die nervt.
Dass er im Falsett singen kann, hat Justin Vernon erst nach und nach entdeckt, sagt er. Und dann überrascht festgestellt, "welche Informationen ich in all diesen höheren Tonlagen besitze", wie sich da also etwas freisetzte, von dem er gar nicht wusste, dass er es wusste. Ganz ähnlich scheint es mit der Band zu sein, zu der Bon Iver jetzt geworden ist: In der DNA seiner Lieder, zum Beispiel bei "Skinny Love" von der ersten Platte, steckte schon das Cinemascope des neuen Songs "Michicant".
Seit den "Unplugged"-Sendungen von MTV, seit ungefähr zwanzig Jahren also, ist es ein typischer Kunstgriff gelangweilter Großgruppen des Rock, akustische Versionen ihrer Songs aufzunehmen, um so zu tun, als gäbe es da eine höhere Wahrhaftigkeit, die nur herauspräpariert werden kann, wenn man vorher den Strom abstellt. Als seien sie alle am Ende auch nur fahrendes Volk, Straßenmusikanten, jeder ein Hobo, ein Woody Guthrie. Bon Iver hat es andersherum gemacht. Er hat zu der einen Gitarre aus seiner Hütte in den Wäldern noch eine elektrische und noch eine andere gepackt und ein Schlagzeug, Bläser, Synthesizer. Und dass dabei nichts verlorenging an Innigkeit, widerlegt auf schönste Art und Weise den Kulturkonservativismus handgemachter Duplikate. Es ist nicht so, als versteckte sich die Seele nirgendwo anders als im Bauch einer Holzgitarre. Die Gitarre, das wusste dieser große Folksänger Woody Guthrie, ist nämlich auch eine Maschine, und sie kann Faschisten killen.
Entschuldigung, wo waren wir stehengeblieben? Irgendwo in Amerika, mit Bon Iver. "You're in Milwaukee, off your feet", singt er auf der neuen Platte, in einer der wenigen Zeilen, die man leicht versteht. Diese Bodenlosigkeit seiner Songs, Staub, der in der Luft hängt und sich leise bewegt: Man erkrankt heftig an Metaphern, wenn man versucht, den Schwebezustand von "Bon Iver" mit Worten einzufangen. Eigentlich, und das ist immer ein gutes Zeichen für gute Musik, sind diese zehn neuen Lieder erst mal nämlich unbeschreiblich anders. Und auf eine unaufdringliche Weise neu. Es gibt sicher Leute, die sagen, hier wirkt Justin Vernon ein bisschen so wie der andere große amerikanische Songwriter Sufjan Stevens, wenn Sufjan Stevens denn noch wissen wollte, wohin die Züge fahren (er will jetzt wissen, wohin die Raumschiffe fliegen, das ist nicht ganz das Gleiche). Und dort, im Falsett, ist meinetwegen auch ein Echo von Neil Young zu hören.
Aber Neil Young hätte sicher kaum gesagt, dass er dank seiner hohen Stimme die Frau in sich entdeckt hätte. Justin Vernon sagt das aber. Er kommt aus dem 21. Jahrhundert, und das ist einfach herrlich, weil es nämlich bedeutet, dass er seine Fanfaren, diese Schrankwände aus Sound nicht unbedingt von Stockhausen haben muss, sondern theoretisch auch von Van Halen. Aus dem Formatradio der achtziger Jahre. Aus einem immer größer werdenden Repertoire, das sich zum Glück nie zu einem Kanon angesammelt hat; in dem nichts vorsortiert ist, eingestuft, etikettiert, abgeheftet. Deshalb arbeiten Kanye West und Justin Vernon zusammen, ein Rapper aus Atlanta und eine Heulsuse aus dem Mittleren Westen: Sie kommen beide aus demselben Jahrhundert.
Andererseits würde man sicher lieber mit den Songs von Kanye West durch die Stadt fahren als mit denen von Bon Iver, dessen Lieder klar aufs Land gehören, egal in welchem Jahrhundert, irgendwohin, wo sich über einem viel Himmel wölbt. Wenn man auf "For Emma, Forever Ago" noch die Hütte zu hören glaubte, in der Bon Ivers Lieder geschrieben wurden, die Klaustrophobie und Einsamkeit, spürt man hier eine Offenheit, die man gleich mit der Landschaft verbindet, in der "Bon Iver" entstanden ist. Justin Vernon redet selbst von Jahreszeiten, vom Winter, den seine Band im Namen trägt, vom Werden und Vergehen.
Das kann alles sein, genau wie die Sache mit den Zügen und ihren unbekannten Zielen. Aber was diese Platte so besonders, so großartig macht, was einen dazu bringt, immer wieder an ihren Anfang zurückzugehen, es bimmelt, doch der Zug kommt nie an, das ist eher der gewaltige Raum, den Bon Ivers Songs von ganz allein bilden, der Platz, den sie schaffen. Diese Geographie aus Tönen. Unten ein Schlagzeug, oben die Stimme, in der Ferne Bläser. Man stellt sich vor, die Band wiederum habe sich ihre Platte so vorgestellt, wie man ein Zimmer einrichtet. Popmusik als Raumplanung. Und mitten drin: der Mensch.
TOBIAS RÜTHER
"Bon Iver" von Bon Iver erscheint am Freitag bei 4AD / Beggars Group / Indigo.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erst ging er in den Wald, jetzt in die Welt: Justin Vernon, genannt Bon Iver, hat eine große und weite Platte gemacht
Dennis Hopper wollte immer wissen, wohin die Züge fahren. Er ist an den Gleisen groß geworden, die quer durch den Wilden Westen gelegt wurden, in Dodge City, das liegt in Kansas: "Rauchende Colts" spielte hier, die Cowboyserie aus der Zeit, als die kleine Stadt noch Grenzposten zum großen Nirgendwo war. Hier fangen Geschichten an, Hopper hat ein paar von ihnen erzählt.
In den ersten, undeutlichen, verwehten Sekunden der neuen Platte von Bon Iver, die, je länger sie dauert, immer deutlicher zu einer der besten amerikanischen Platten seit langer, wirklich langer Zeit wird, hört man die Glocken eines Bahnübergangs. Ein Zug. Aber bevor man ihn auch hören kann, legt sich eine Gitarre in den Weg, und dann beginnt ein Lied, das sich weit und weiter auftürmt, erst kommt noch eine Gitarre und dann der Gesang dazu, hellstes Falsett, dann noch ein Schlagzeug, irgendwann auch Bläser, bis das Lied ungefähr so groß ist wie Kansas. Justin Vernon hat dieses Lied geschrieben. Es heißt "Perth" (also ein ganz anderer wilder Westen, der von Australien nämlich). Justin Vernon war erst allein Bon Iver, jetzt ist daraus eine Band geworden. Vernon kommt aus Wisconsin. Er will auch wissen, wohin die Züge fahren.
Man hat, seit Vernon 2008 mit seinem Debüt "For Emma, Forever Ago" zur Renaissance des Folk aus dem Geiste des Punk beigetragen hat, die jetzt schon ein paar Jahre länger anhält, seine Geschichte oft erzählt: wie der arme Kerl, verlassen von seiner damaligen Band und Liebe, zurückgekehrt ist nach Eau Claire, seiner Heimatstadt in Wisconsin. Wie er in die Wälder ging, sich in einer Hütte einquartierte, dort monatelang litt und trank und auf die Jagd ging und bei alledem ein paar Songs an der Grenze zur Empfindsamkeitshysterie schrieb, und manche auch drüber hinaus.
Diese erste Platte - Vernon mit Gitarre, manchmal gab es Bläser, das war es aber schon - steckt irgendwo auch noch in dieser zweiten von Bon Iver, aber beide verhalten sich zueinander wie Kammermusik zu Oper. Wie etwas ganz Kleines zu etwas ganz Großem. Die Motive der ersten Platte, Liebe, Verlust, Trauer, Selbstmitleid, Einsicht, Zurandekommen, hat Vernon für die neue Platte hochkopiert, und dabei wurden sie seltsamerweise schärfer. Wenn er mit seiner Band im Juli auf Tour geht, werden sie zu neunt sein.
Justin Vernon ist mit dem Rapper Kanye West befreundet, den viele für ein Genie halten, die beiden haben auf Wests letzter Platte zusammengearbeitet, irgendwas haben die beiden aneinander gefunden, aber was es auch ist: Man findet es nicht sofort auf "Bon Iver". Dafür findet man Orte (Perth, Lisbon in Ohio, Minnesota, Calgary) und ganze Zeitalter (das Holozän). Die Songtitel, "Holocene" also und "Lisbon, OH" oder "Calgary", wirken wie Arbeitstitel, hingeschrieben, weil das Kind einen Namen brauchte, Steno für irgendwas anderes, wie überhaupt Justin Vernon sehr viele, sehr seltene Worte benutzt in seinen neuen Songs, "acrost" zum Beispiel oder "gamut" und "young habitat!".
Man fragt sich, was all das nur heißen soll, könnte es jetzt umständlich nachschlagen, aber was soll's, es klingt ja wunderschön, und nichts anderes soll es am Ende wohl auch: "Bet / is hardly shown / scraped / across the foam / like they stole it / and oh, how they hold it / Claire, we nearly forfeit." Tolle Vorstellung, dass Leute, die überhaupt kein Englisch können, diese Texte genauso gut verstehen wie Leute, die glauben, es zu tun.
Und dann diese Musik. In "Perth", das manchmal wie Porzellan klingt, legt plötzlich ein Schlagzeug los, auf das Metallica stolz wären. Die Platte endet mit einem Keyboardsong, derartig billig, als hätte sich Justin Vernon bei Saturn oder im Media Markt wahllos an einen Synthesizer gesetzt, auf den erstbesten Knopf gedrückt und dann losgeklimpert. Konservenware. Ein bisschen zu clever vielleicht. Ein fast schon arrogantes Statement für eine Platte, auf der Bon Iver sonst ziemlich gut hinter einer Wolkenfront größter Gefühle verstecken können, wie hervorragend gespielt und produziert das ist, was sie hier tun. Es ist die einzige Stelle auf der neuen Platte, die nervt.
Dass er im Falsett singen kann, hat Justin Vernon erst nach und nach entdeckt, sagt er. Und dann überrascht festgestellt, "welche Informationen ich in all diesen höheren Tonlagen besitze", wie sich da also etwas freisetzte, von dem er gar nicht wusste, dass er es wusste. Ganz ähnlich scheint es mit der Band zu sein, zu der Bon Iver jetzt geworden ist: In der DNA seiner Lieder, zum Beispiel bei "Skinny Love" von der ersten Platte, steckte schon das Cinemascope des neuen Songs "Michicant".
Seit den "Unplugged"-Sendungen von MTV, seit ungefähr zwanzig Jahren also, ist es ein typischer Kunstgriff gelangweilter Großgruppen des Rock, akustische Versionen ihrer Songs aufzunehmen, um so zu tun, als gäbe es da eine höhere Wahrhaftigkeit, die nur herauspräpariert werden kann, wenn man vorher den Strom abstellt. Als seien sie alle am Ende auch nur fahrendes Volk, Straßenmusikanten, jeder ein Hobo, ein Woody Guthrie. Bon Iver hat es andersherum gemacht. Er hat zu der einen Gitarre aus seiner Hütte in den Wäldern noch eine elektrische und noch eine andere gepackt und ein Schlagzeug, Bläser, Synthesizer. Und dass dabei nichts verlorenging an Innigkeit, widerlegt auf schönste Art und Weise den Kulturkonservativismus handgemachter Duplikate. Es ist nicht so, als versteckte sich die Seele nirgendwo anders als im Bauch einer Holzgitarre. Die Gitarre, das wusste dieser große Folksänger Woody Guthrie, ist nämlich auch eine Maschine, und sie kann Faschisten killen.
Entschuldigung, wo waren wir stehengeblieben? Irgendwo in Amerika, mit Bon Iver. "You're in Milwaukee, off your feet", singt er auf der neuen Platte, in einer der wenigen Zeilen, die man leicht versteht. Diese Bodenlosigkeit seiner Songs, Staub, der in der Luft hängt und sich leise bewegt: Man erkrankt heftig an Metaphern, wenn man versucht, den Schwebezustand von "Bon Iver" mit Worten einzufangen. Eigentlich, und das ist immer ein gutes Zeichen für gute Musik, sind diese zehn neuen Lieder erst mal nämlich unbeschreiblich anders. Und auf eine unaufdringliche Weise neu. Es gibt sicher Leute, die sagen, hier wirkt Justin Vernon ein bisschen so wie der andere große amerikanische Songwriter Sufjan Stevens, wenn Sufjan Stevens denn noch wissen wollte, wohin die Züge fahren (er will jetzt wissen, wohin die Raumschiffe fliegen, das ist nicht ganz das Gleiche). Und dort, im Falsett, ist meinetwegen auch ein Echo von Neil Young zu hören.
Aber Neil Young hätte sicher kaum gesagt, dass er dank seiner hohen Stimme die Frau in sich entdeckt hätte. Justin Vernon sagt das aber. Er kommt aus dem 21. Jahrhundert, und das ist einfach herrlich, weil es nämlich bedeutet, dass er seine Fanfaren, diese Schrankwände aus Sound nicht unbedingt von Stockhausen haben muss, sondern theoretisch auch von Van Halen. Aus dem Formatradio der achtziger Jahre. Aus einem immer größer werdenden Repertoire, das sich zum Glück nie zu einem Kanon angesammelt hat; in dem nichts vorsortiert ist, eingestuft, etikettiert, abgeheftet. Deshalb arbeiten Kanye West und Justin Vernon zusammen, ein Rapper aus Atlanta und eine Heulsuse aus dem Mittleren Westen: Sie kommen beide aus demselben Jahrhundert.
Andererseits würde man sicher lieber mit den Songs von Kanye West durch die Stadt fahren als mit denen von Bon Iver, dessen Lieder klar aufs Land gehören, egal in welchem Jahrhundert, irgendwohin, wo sich über einem viel Himmel wölbt. Wenn man auf "For Emma, Forever Ago" noch die Hütte zu hören glaubte, in der Bon Ivers Lieder geschrieben wurden, die Klaustrophobie und Einsamkeit, spürt man hier eine Offenheit, die man gleich mit der Landschaft verbindet, in der "Bon Iver" entstanden ist. Justin Vernon redet selbst von Jahreszeiten, vom Winter, den seine Band im Namen trägt, vom Werden und Vergehen.
Das kann alles sein, genau wie die Sache mit den Zügen und ihren unbekannten Zielen. Aber was diese Platte so besonders, so großartig macht, was einen dazu bringt, immer wieder an ihren Anfang zurückzugehen, es bimmelt, doch der Zug kommt nie an, das ist eher der gewaltige Raum, den Bon Ivers Songs von ganz allein bilden, der Platz, den sie schaffen. Diese Geographie aus Tönen. Unten ein Schlagzeug, oben die Stimme, in der Ferne Bläser. Man stellt sich vor, die Band wiederum habe sich ihre Platte so vorgestellt, wie man ein Zimmer einrichtet. Popmusik als Raumplanung. Und mitten drin: der Mensch.
TOBIAS RÜTHER
"Bon Iver" von Bon Iver erscheint am Freitag bei 4AD / Beggars Group / Indigo.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main