Produktdetails
Trackliste
LP
1When Sex Was Dirty00:03:50
2Deeper And Deeper00:04:03
3Call It What It Is00:03:48
4How Dark Is Gone00:03:39
5Shine00:03:56
6All That Has Grown00:03:26
7Pink Balloon00:02:22
8Finding Our Way00:04:15
9Bones00:03:22
10Dance Like Fire00:03:10
11Goodbye To You00:05:07
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2016

Wer zahlt schon freiwillig Pigment-Steuer?

Im Geiste der Stax-Helden: Ben Harper hat sich mit seiner Band versöhnt und ein beeindruckendes Zeugnis schwarzer Selbstermächtigung vorgelegt.

Zweimal in seinem Leben ist der amerikanische Sänger und Gitarrist Ben Harper bereits Opfer polizeilicher Willkür geworden - "weil ich in den Vereinigten Staaten als Farbiger automatisch verdächtig war". Zuletzt geriet der Grammy-Preisträger und hochdekorierte Bluesmusiker Ende 1999 auf dem Weg zu neuen Studioaufnahmen - er wollte seinen späteren Hit "Steal My Kisses" in Burbank, Kalifornien, einspielen - völlig grundlos ins Visier der Ordnungshüter: "Auf dem Parkplatz vorm Studio sah ich mich plötzlich von zwanzig Polizisten und Scharfschützen umzingelt, während ein Helikopter nur wenige Meter über mir kreiste. Ich wurde mit massiver körperlicher Gewalt zu Boden geworfen und gefesselt." Natürlich war nichts dran an den Verdächtigungen: Man hatte einen als gestohlen gemeldeten blauen Van mit Harpers goldfarbenem Van verwechselt. Immerhin entschuldigte sich der örtliche Polizeichef später bei Harper, doch die Übergriffe weißer Polizisten auf Farbige in Amerika reißen trotzdem nicht ab.

Deshalb kann es einen Beobachter der amerikanischen Sozialbeziehungen auch kaum verwundern, dass jene Zumutungen, denen man heute als Farbiger in Amerika ausgesetzt ist - "als müssten wir eine Art Pigment-Steuer zahlen" - , im Fokus von Ben Harpers neuem Album "Call It What It Is" stehen. Im Titelsong gibt eine betörende Blues-Figur auf der geliebten Weissenborn-Lap-Steel-Gitarre die Richtung vor: "They shot him in the back, now it's a crime to be black." Und Harper nennt das Unrecht im Refrain beim Namen: "Call it what it is: murder." Animiert wurde der Sechsundvierzigjährige zu diesen expliziten Zeilen im Stoner-Skate-Park in Los Angeles. Harper, seit seiner Jugend selbst passionierter Skateboard-Fahrer, erinnert damit an das Schicksal der beiden von der Polizei erschossenen Skater Michael Brown und Ezell Ford. Zugleich greift der Slidevirtuose mit der seelenvollen Gesangsstimme hier ein Thema auf, das er bereits 1993 in seinem Song "Like A King" verhandelt hatte: Rassismus als systemisches Phänomen. Damals hatte sich Martin Luther Kings Traum für den Afroamerikaner Rodney King zu einem Albtraum entwickelt, nachdem er das Opfer unverhältnismäßiger Polizeigewalt geworden war. Als die weißen Polizisten, die ihn mit Stockschlägen und Fußtritten brutal traktiert hatten, ein Jahr später freigesprochen wurden, brachen in Los Angeles Rassenunruhen aus, die sich tage- und nächtelang hinzogen.

Wer nun vermutet, Harper habe mit "Call It What It Is", seinem dreizehnten Studioalbum, eine Sammlung wütender Fingerpointing-Songs abgeliefert, irrt. Entscheidend ist oft nicht so sehr, was er sagt, sondern, wie er es sagt: mit einer beschwörenden, sanften Eindringlichkeit, ohne dabei je verbissen oder apologetisch zu wirken. Vielmehr atmen die elf Stücke die Atmosphäre einer verräucherten Südstaaten-Kneipe, wo jemand, wider besseres Wissen, gegen die alltäglichen Erschütterungen, Ängste und bösen Ahnungen ansingt. Schon der Auftakt "When Sex Was Dirty" kommt mit einem brachialen Garage-Rock-Riff daher, schmutzig, bierdurchtränkt und von hinterhältiger Eingängigkeit: Harper erinnert sich an seine abenteuerlustige Jugend in Claremont, heute eine versmogte Industrielandschaft von Los Angeles: "I remember when sex was dirty, and the air was clean." Und an seinem wild schlingernden Slide-Solo gegen Ende des Songs mag man sich gar nicht satthören. Nach acht Jahren mit Heavy-Rock- und Folk-Duo-Experimenten hat sich Harper endlich wieder mit seiner Lieblingsband The Innocent Criminals zusammengerauft. Mit Blick auf seinen Helden Jimi Hendrix nannte er sie erst kürzlich zärtlich "meine Band of Gypsys". Im Jahr 2008 hatte sich das traumwandlerisch eingespielte Kollektiv - nach so wunderbaren Platten wie "Burn To Shine" (1999) oder "Lifeline" (2007) - aufgelöst. Harpers Workaholic-Natur, zu viele Proben, zu viele Soundchecks hatten ihren Tribut gefordert und die Spannungen in der Band - manche der Musiker kennt Harper seit dreißig Jahren - unüberbrückbar erscheinen lassen. Doch schon bald setzte ein vorsichtiger Wiederannährungsprozess ein, und bei einem gemeinsamen Abendessen vor zwei Jahren beschloss man, sich für ein neues Album wieder zu versöhnen. "Da stand sofort wieder ein lang vermisstes Familiengefühl im Raum, alle konnten es spüren", bekennt Harper.

Und die Band-Chemie funktioniert besser als je zuvor und hat mit "Call It What It Is" ein Album hervorgebracht, das keinen einzigen schwachen Song enthält. Während "Deeper and Deeper" rhythmisch vertrackt einsetzt, aber schon bald eine unwiderstehliche Sogwirkung entfaltet, mündet "How Dark Is Gone" mit seinem aggressiven Strumming und einem hypernervösen Rhythmus in ein Lehrstück über Druck- und Schubkraft. Auf die von Marvin Gaye beeinflusste R & B-Nummer "Bones" folgt mit "Dance Like Fire" eine herrlich abgehangene Hommage an das Musik-Biotop des Mississippi Delta mit sinnigen Zeilen wie "If we could dance like fire, we'd never get burned".

Es folgt das eigentliche Glanzstück des Albums: "All That Has Grown" erzählt von einer zwar andauernden, aber zunehmend schwierigen Partnerschaft und erweckt dennoch im Zuhörer eine heitere Gelassenheit, ein unerklärliches Vertrauen in den Gang der Dinge. Es ist ein einfaches, geradezu ergreifendes Stück, in dem Harper allein mit seinem Herzensinstrument, einer Weissenborn-Gitarre aus der ersten Produktionsserie um 1915, intime Zwiesprache hält. Das sanfte melodische Gleiten voll von vibrierender Ruhe und sprechender Stille schafft eine fast unwirkliche Atmosphäre majestätischer Schlichtheit. Der Text erzählt metaphorisch verschlüsselt vom Fluch des Älterwerdens. Und Harper macht sich keine Illusionen: "Viele Musiker glauben, alles, was sie machen, sei großartig! Ist es aber nicht. Man wird zwar älter, aber nicht zwangsläufig besser. Niemand kann dem Verrinnen der Zeit entgehen."

Gleichwohl endet das Album mit einem Höhepunkt: Wer "Goodbye To You" zum ersten Mal hört, fühlt sich schnell in einem süßen Schwindel gefangen. Die Zeitebenen scheinen hier zu verschwimmen, indem verschiedene Klangströme miteinander verblendet werden. Immer wieder taucht hinter dem Song ein zweites Lied schemenhaft auf. Mäandernde Soundsphären schaffen eine fast sakrale, traumverlorene Atmosphäre, in der die Musik für Momente stillzustehen scheint und dennoch unaufhaltsam weitertreibt.

Die schweren Jungs der Innocent Criminals verleihen Harpers Liedern Wärme und Elastizität, sie öffnen leichthändig die Texte und lassen die Musik atmen. Harper braucht sich weder gesanglich noch instrumentaltechnisch zu verausgaben, sondern kann sich ganz dem flow der Klänge überlassen. Deshalb wirkt das ganze Album auch so organisch, mit einem fast beiläufigen Charme. Erschienen ist es übrigens bei Stax Records, dem Heimatlabel von Otis Redding, Issac Hayes und Booker T. Jones - auch dies fast ein politisches Statement, denn der Memphis Soul dieser Stax-Künstler stand schon immer für ein robustes, schwarzes Selbstbewusstsein.

PETER KEMPER.

Ben Harper: "Call It What It Is".

Stax/Caroline 3569702 (Universal)

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