Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 29. August 2008
- Hersteller: NRW Vertrieb / ECM Records,
- EAN: 0602517754621
- Artikelnr.: 24729028
CD | |||
1 | Olivia | 00:06:38 | |
2 | Song Of Ruth | 00:06:42 | |
3 | Wooden Church | 00:07:01 | |
4 | M | 00:07:59 | |
5 | Chiquilin De Bachin | 00:08:04 | |
6 | Pages | 00:13:40 | |
7 | Don's Kora Song | 00:05:08 | |
8 | A Fixed Goal | 00:04:12 | |
9 | Love I've Found You | 00:03:12 | |
10 | Liebesode | 00:08:36 | |
11 | Song Of Ruth | 00:06:47 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2008Apoll hörte auf beiden Ohren sehr gut
Klavierjazz von Brad Mehldau und Bobo Stenson
Schon früh hat Stockholm in der europäischen Jazzgeschichte eine wichtige Rolle gespielt. Bobo Stenson war an der Entwicklung dahin in allen Phasen beteiligt, doch zu einem Stilbildner ist er erst in den letzten fünfzehn Jahren auf den großen Alben seines Trios wie "Serenity" oder "Goodbye" gereift. Mit "Cantando" veröffentlicht das Trio nun eine Aufnahme, in die einige der subtilsten ästhetischen Erfahrungen eingeflossen sind, die den europäischen Jazz zu dem gemacht haben, was er heute sein kann: eine radikal offene, vielschichtig gewobene Musik, die mit Leib und Seele auf der Höhe ihrer Zeit gespielt wird und sich nahezu jeden Stoff anverwandeln kann.
Brad Mehldau ist ein Vierteljahrhundert jünger als der 1944 geborene Stenson. Dass er trotz dieser relativen Jugend seit einem Jahrzehnt zu den bedeutendsten Jazzpianisten weltweit zählt, verdankt auch der Amerikaner seinem Beitrag zum Genre des Klaviertrios, dessen Ausdruckspotentiale er Ende der Neunziger wiederentdeckte. Verwurzelt in der amerikanischen Tradition, gehört Mehldau mit Stefano Bollani zu einem neueren Typus klassisch ausgebildeter Pianisten, die mit großer Selbstverständlichkeit das Erbe der europäischen Klavierliteratur einfließen lassen. Mit seiner harmonischen Kühnheit und kontrapunktischen Finesse ist insbesondere Brahms zu einer Schlüsselerfahrung für Mehldau geworden. Diese wirkt in dessen Harmonik und Formbewusstsein fort und prägt die mal ironische, mal sehnsüchtige Emotionalität seines Spiels.
Auf der Doppel-CD "Live", die den Entwicklungsstand des Mehldau Trios anlässlich eines Konzerts im Village Vanguard festhält, ist dieses Erbe auch dann präsent, wenn der Amerikaner im Kontext eines rauhen Hardbop seiner Kunst kontrapunktischen Improvisierens freien Lauf lässt: Mehr denn je ist Mehldau nicht bloß die Summe von Monk und Brahms, sondern ähnelt in seinem schillernden Spiel einer Funktion, in der diese beiden Extremwerte durch die lässige Notwendigkeit eines ästhetischen Apriori verbunden sind. Auf derselben Kurve wie Monk und Brahms lagen für Mehldau stets auch britische Rocker. Mit seinem frühen Meisterwerk "Songs" war er 1998 einer der ersten Jazzer, die dank der dichten Songarchitekturen Radioheads den Pop entdeckten. Nur Kompositionen des selbstbewusst-naiven Paul McCartney vom Weißen Album hat Mehldau ähnlich oft re-interpretiert.
Das New Yorker Konzert des Trios beginnt indessen nicht mit "Blackbird" oder "Paranoid Android", sondern einem frühen Oasis-Hit namens "Wonderwall". Die Pinseligkeit der Briten ist flugs vergessen. Während Lenny Grenadier eine phänomenal im 7/4-Takt groovende Basslinie gegen Klavier und Schlagzeug stanzt, kitzelt Mehldau einen federnden Blues aus dem vormals alarmistisch blökenden Strophenteil. Im Refrain folgt eine Epiphanie musikalischer Dekonstruktion, die den literarischen Kern der Ironie Mehldaus enthüllt: Wo man einst das metallische Geklapper von Bajonetten im semantischen Klangfeld des Britpop-Hymnus zu hören meinte, vertont Mehldau das Reifen der Liebe, indem er den Chorus als gediegen reharmonisierten Tanztee voller Nachsicht und Milde serviert.
Zur Bestform läuft das Trio allerdings erst im zweiten Teil des bald dreistündigen Konzerts auf. In brillanten Eigenkompositionen wie dem vielschichtigen "Fit Cat" und Klassikern wie Coltranes "Countdown" präsentiert sich Mehldau als Houdini des Jazzklaviers, der gern am Siedepunkt improvisatorischer Themenverdichtung spielt und dort auch mal zum Selbstentfesselungskünstler wird, der mit der rechten Hand ein ostinates Arpeggio zwischen seinen dahinfliegenden Mitstreitern festzurrt, um sich langsam mit der linken Hand zu befreien und vorsichtig erst einen, dann zwei, dann drei melodische Gedanken zu entwickeln, die schließlich als Fuge im Fahrtwind verglühen.
Mehldaus tonaufwendige Kunst der An- und Abspannung des Zeitempfindens würde den Klangraum erschüttern, in dem Bobo Stenson musiziert. Die letzten Werke seines Trios sind auf Grund ihrer aufgeräumten Transparenz und satten Brillanz allesamt dazu prädestiniert, beim Boxenkauf mächtig mit audiophilem Feinschmeckertum anzugeben, oder auf Verkäuferseite beliebt, um Dutzendware erlesen klingen zu lassen. Aufgenommen von Stefano Amerio, gehört "Cantando" zu den Einspielungen, die langsam den Genius loci tangibel machen, der sich im Luganer Auditorium von Radio Svizzera Italiana Gehör verschafft. Dieser muss freilich erst durch eine ihm kongeniale Musizierweise wachgeküsst werden.
Es ist ein langer Zungenkuss: Das Bobo Stenson Trio umspielt so filigran und nuancenreich den freien melodischen Ideenstrom seines Pianisten, als gälte es, die Modulationen der Lichtverhältnisse einer Herbstlandschaft in Klang-Holografien zu konservieren. Auch die Technik Stensons, die linke Hand oft nur bei Einführung der Themen einzusetzen, um den rollenden Gesang seines Tons nicht zu beschweren, gefällt dem Genius loci. Ohne mit der Wimper zu zucken, verleiht er diesem Klavier gern jenen jubilierenden Ton, für den Pat Metheny einen Schrank voller Effektgeräte braucht. Beeindruckend auch, wie der junge Drummer Jon Fält und der große Bassist Anders Jormin, der oft fast zum Cellisten wird, wenn er zum Bogen greift, das Klangspektrum ihrer Instrumente nutzen, um mit dem Ziel größtmöglicher Plastizität Töne ein- und ausatmen zu lassen, die eine Art schimmernden Klangrand um sich ausbilden.
In der Fähigkeit, auch und gerade im Zusammenspiel einen solchen auratischen Raum zu erzeugen, besteht die hohe Kunst des Bobo Stenson Trios, das seine Musik in Stücken wie "Pages" gemäß einer betont szenischen Dramaturgie der Orte zu organisieren weiß. Ohne die Erfahrung der klassischen Avantgarde wäre dieses Spiel mit dem Raum wohl undenkbar. Ob das Trio dann tatsächlich in Gestalt der "Liebesode" ein Frühwerk Bergs spielt, sich mit dem süffig-swingenden "Chiquilín de Bachín" den lateinamerikanischen Melodien, Rhythmen und Texturen eines Astor Piazzolla hingibt oder zu "A Fixed Goal" von Ornette Coleman in die Muttererde des Jazz zurückkehrt, ist fast sekundär. Entscheidend ist die apollinische Hellhörigkeit, in und mit der diese delikaten Stücke gleichsam aus dem Raum herausgeschnitten werden.
ALESSANDRO TOPA
Brad Mehldau Trio, Live. Nonesuch 79956 (Warner)
Bobo Stenson Trio, Cantando. ECM 2023 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klavierjazz von Brad Mehldau und Bobo Stenson
Schon früh hat Stockholm in der europäischen Jazzgeschichte eine wichtige Rolle gespielt. Bobo Stenson war an der Entwicklung dahin in allen Phasen beteiligt, doch zu einem Stilbildner ist er erst in den letzten fünfzehn Jahren auf den großen Alben seines Trios wie "Serenity" oder "Goodbye" gereift. Mit "Cantando" veröffentlicht das Trio nun eine Aufnahme, in die einige der subtilsten ästhetischen Erfahrungen eingeflossen sind, die den europäischen Jazz zu dem gemacht haben, was er heute sein kann: eine radikal offene, vielschichtig gewobene Musik, die mit Leib und Seele auf der Höhe ihrer Zeit gespielt wird und sich nahezu jeden Stoff anverwandeln kann.
Brad Mehldau ist ein Vierteljahrhundert jünger als der 1944 geborene Stenson. Dass er trotz dieser relativen Jugend seit einem Jahrzehnt zu den bedeutendsten Jazzpianisten weltweit zählt, verdankt auch der Amerikaner seinem Beitrag zum Genre des Klaviertrios, dessen Ausdruckspotentiale er Ende der Neunziger wiederentdeckte. Verwurzelt in der amerikanischen Tradition, gehört Mehldau mit Stefano Bollani zu einem neueren Typus klassisch ausgebildeter Pianisten, die mit großer Selbstverständlichkeit das Erbe der europäischen Klavierliteratur einfließen lassen. Mit seiner harmonischen Kühnheit und kontrapunktischen Finesse ist insbesondere Brahms zu einer Schlüsselerfahrung für Mehldau geworden. Diese wirkt in dessen Harmonik und Formbewusstsein fort und prägt die mal ironische, mal sehnsüchtige Emotionalität seines Spiels.
Auf der Doppel-CD "Live", die den Entwicklungsstand des Mehldau Trios anlässlich eines Konzerts im Village Vanguard festhält, ist dieses Erbe auch dann präsent, wenn der Amerikaner im Kontext eines rauhen Hardbop seiner Kunst kontrapunktischen Improvisierens freien Lauf lässt: Mehr denn je ist Mehldau nicht bloß die Summe von Monk und Brahms, sondern ähnelt in seinem schillernden Spiel einer Funktion, in der diese beiden Extremwerte durch die lässige Notwendigkeit eines ästhetischen Apriori verbunden sind. Auf derselben Kurve wie Monk und Brahms lagen für Mehldau stets auch britische Rocker. Mit seinem frühen Meisterwerk "Songs" war er 1998 einer der ersten Jazzer, die dank der dichten Songarchitekturen Radioheads den Pop entdeckten. Nur Kompositionen des selbstbewusst-naiven Paul McCartney vom Weißen Album hat Mehldau ähnlich oft re-interpretiert.
Das New Yorker Konzert des Trios beginnt indessen nicht mit "Blackbird" oder "Paranoid Android", sondern einem frühen Oasis-Hit namens "Wonderwall". Die Pinseligkeit der Briten ist flugs vergessen. Während Lenny Grenadier eine phänomenal im 7/4-Takt groovende Basslinie gegen Klavier und Schlagzeug stanzt, kitzelt Mehldau einen federnden Blues aus dem vormals alarmistisch blökenden Strophenteil. Im Refrain folgt eine Epiphanie musikalischer Dekonstruktion, die den literarischen Kern der Ironie Mehldaus enthüllt: Wo man einst das metallische Geklapper von Bajonetten im semantischen Klangfeld des Britpop-Hymnus zu hören meinte, vertont Mehldau das Reifen der Liebe, indem er den Chorus als gediegen reharmonisierten Tanztee voller Nachsicht und Milde serviert.
Zur Bestform läuft das Trio allerdings erst im zweiten Teil des bald dreistündigen Konzerts auf. In brillanten Eigenkompositionen wie dem vielschichtigen "Fit Cat" und Klassikern wie Coltranes "Countdown" präsentiert sich Mehldau als Houdini des Jazzklaviers, der gern am Siedepunkt improvisatorischer Themenverdichtung spielt und dort auch mal zum Selbstentfesselungskünstler wird, der mit der rechten Hand ein ostinates Arpeggio zwischen seinen dahinfliegenden Mitstreitern festzurrt, um sich langsam mit der linken Hand zu befreien und vorsichtig erst einen, dann zwei, dann drei melodische Gedanken zu entwickeln, die schließlich als Fuge im Fahrtwind verglühen.
Mehldaus tonaufwendige Kunst der An- und Abspannung des Zeitempfindens würde den Klangraum erschüttern, in dem Bobo Stenson musiziert. Die letzten Werke seines Trios sind auf Grund ihrer aufgeräumten Transparenz und satten Brillanz allesamt dazu prädestiniert, beim Boxenkauf mächtig mit audiophilem Feinschmeckertum anzugeben, oder auf Verkäuferseite beliebt, um Dutzendware erlesen klingen zu lassen. Aufgenommen von Stefano Amerio, gehört "Cantando" zu den Einspielungen, die langsam den Genius loci tangibel machen, der sich im Luganer Auditorium von Radio Svizzera Italiana Gehör verschafft. Dieser muss freilich erst durch eine ihm kongeniale Musizierweise wachgeküsst werden.
Es ist ein langer Zungenkuss: Das Bobo Stenson Trio umspielt so filigran und nuancenreich den freien melodischen Ideenstrom seines Pianisten, als gälte es, die Modulationen der Lichtverhältnisse einer Herbstlandschaft in Klang-Holografien zu konservieren. Auch die Technik Stensons, die linke Hand oft nur bei Einführung der Themen einzusetzen, um den rollenden Gesang seines Tons nicht zu beschweren, gefällt dem Genius loci. Ohne mit der Wimper zu zucken, verleiht er diesem Klavier gern jenen jubilierenden Ton, für den Pat Metheny einen Schrank voller Effektgeräte braucht. Beeindruckend auch, wie der junge Drummer Jon Fält und der große Bassist Anders Jormin, der oft fast zum Cellisten wird, wenn er zum Bogen greift, das Klangspektrum ihrer Instrumente nutzen, um mit dem Ziel größtmöglicher Plastizität Töne ein- und ausatmen zu lassen, die eine Art schimmernden Klangrand um sich ausbilden.
In der Fähigkeit, auch und gerade im Zusammenspiel einen solchen auratischen Raum zu erzeugen, besteht die hohe Kunst des Bobo Stenson Trios, das seine Musik in Stücken wie "Pages" gemäß einer betont szenischen Dramaturgie der Orte zu organisieren weiß. Ohne die Erfahrung der klassischen Avantgarde wäre dieses Spiel mit dem Raum wohl undenkbar. Ob das Trio dann tatsächlich in Gestalt der "Liebesode" ein Frühwerk Bergs spielt, sich mit dem süffig-swingenden "Chiquilín de Bachín" den lateinamerikanischen Melodien, Rhythmen und Texturen eines Astor Piazzolla hingibt oder zu "A Fixed Goal" von Ornette Coleman in die Muttererde des Jazz zurückkehrt, ist fast sekundär. Entscheidend ist die apollinische Hellhörigkeit, in und mit der diese delikaten Stücke gleichsam aus dem Raum herausgeschnitten werden.
ALESSANDRO TOPA
Brad Mehldau Trio, Live. Nonesuch 79956 (Warner)
Bobo Stenson Trio, Cantando. ECM 2023 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main