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  • EAN: 5030073027029
  • Artikelnr.: 39838623
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2014

Fischvergiftung mit Bach in Bremen

Garstig konnte Wolfgang Amadé Mozart werden, wenn er sich in seinen Kernkompetenzen auf Platz zwei verwiesen sah. Etwa 1781, als Kaiser Joseph II. in Wien einen jungen Pianisten empfing und ihn zu einem Wettstreit mit Mozart aufforderte. Das heikle Ergebnis: Mozart war dem Rivalen technisch unterlegen. Flugs beeilte er sich, in Briefen diesen Kollegen als einen "Mechanicus" und "Scharlatan" zu verunglimpfen. Sein Name: Muzio Clementi. Etwas von Mozarts Zetern blieb doch lange noch an ihm kleben. Jetzt kam beim Label Accord (Naxos) ein neues Album mit einem Querschnitt durch Clementis Klavierschaffen heraus, eingespielt von dem polnischen Pianisten Piotr Kepinski (sprich: Kempinski). Da finden sich unter anderem die ausdrucksstarke, kühne fis-Moll-Sonate sowie Beispiele des italienischen Volkstanzes Monferrina, aber auch Variationen sowie Übungen aus Clementis bei Klavierschülern berüchtigtem Studienwerk "Gradus ad Parnassum". Mit kraftvollem, aber wendigem Klavierklang rast Kepinski durch das Prestissimo der A-Dur-Sonate op. 10 Nr. 1 - ein Husarenstreich von Beethovenscher Verwegenheit. Den Schluss bildet die B-Dur-Sonate op. 24 Nr. 2. Deren Anfangsthema hat Mozart später für die "Zauberflöten"-Ouvertüre entlehnt. Die Niederlage muss ihm unvergesslich gewesen sein.

jbm.

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Aus den genreübergreifenden Phantasien des Stefan Winter ist eine Doppel-CD von ganz eigener Eindringlichkeit entsprungen. Regisseur Werner Herzog liest aus dem Tagebuch zu seinem Films "Fitzcarraldo", in dem ein Schiff zwischen zwei Flüssen über einen Berg im Urwald geschoben wird. Die musikalische Einrahmung dieser "Eroberung des Nutzlosen" (Winter & Winter) übernahm der holländische Cellist Ernst Reijseger, dessen Kompositionen nur noch randständig dem Jazz zuzuordnen sind. Der Herzog-Tonfall einer gewissen schicksalsergebenen Larmoyanz in dem Bericht über die drohenden Gefahren und Geheimnisse des Urwaldes in Verbindung mit einer Musik, die nie illustriert oder kommentiert, sondern ihre eigene Gesetzlichkeit in unsere Psyche und (Alb-)Träume versenkt - diese Mischung ist umwerfend, genial, verstörend, teilweise abgründig-erheiternd. Die Musik verschafft dem mit Elektronik, Klavier, Cello und Geräuschen ein magisches Reich, zumal durch eine Gruppe des sardischen Männergesangs der "Tenores"-Tradition. Die hat ihren ganz und gar eigenen, archaischen Klang. Die zweite CD dieses Albums (Aufnahme einer öffentlichen Veranstaltung) geht etwas mehr auf den Drehalltag ein und schonungslos auf Hauptdarsteller Kinski, mit seinen inszenierten Tobsuchtsanfällen.

u.o.

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So wunderbar gelangweilt hat seit den Tagen, als Nico bei der Band The Velvet Underground sang, wohl keine Frau mehr gesungen: Die 1988 geborene Australierin Courtney Barnett trägt zudem einen Vornamen, der an die Grunge-Braut Courtney Love erinnert. Ennui und Hang zur Selbstzerstörung werden auf ihrem nun auch in Deutschland veröffentlichten Debüt "A Sea of Split Peas" (Caroline/Universal) allerdings eher augenzwinkernd vorgetragen. Das fast schon kabarettistisch anmutende, großartige Stück "The Avant Gardener", das von einem allergischen Schock im Grünen mit katastrophalen Folgen handelt, hat Qualitäten eines traditionellen Talking Blues, nur dass Barnett eine ziemlich psychedelisch hallende Stromgitarre dazu anschlägt. "I'm not that good at breathing in", singt sie mit ihrem Down-under-Akzent, hat aber dann doch noch Luft für elf weitere abgründig-witzige Rocksongs.

wiel

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Aus "Buß und Reu" wird "Weh und Ach". Statt "Blute nur, du liebes Herz!" heißt es jetzt: "Zage nur, du treues Land!" Es war für Picander eine Leichtes, neue Texte zu erfinden für die Arien der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Den ereilte 1728 in Leipzig der Auftrag, eine Trauermusik zu verfassen für das Begräbnis seines vormaligen Herrn, des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen. Da im Todesfall normalerweise nicht viel Zeit bleibt, bestahl Bach sich kurzerhand selbst und übernahm bereits vorhandene Musiken (aus der Matthäuspassion sowie aus der Trauerode BWV 198, die er ein Jahr zuvor auf den Tod der sächsischen Kurfürstin geschrieben hatte). Solch ein Patchwork-Parodie-Verfahren war nicht ehrenrührig, vielmehr allgemein üblich. Diese "Köthener Trauermusik" ist unter der BWV-Nummer 244a längst rubriziert. Nur wird sie nie aufgeführt. Jetzt haben das Pariser Ensemble Pygmalion und sein Leiter Raphaël Pichon die Rezitativlücken in dem Fundstück nach allen Regeln der Kunst aufgefüllt und es mit Feuer und Akkuratesse gleich auch ersteingespielt (harmonia mundi). Allerdings: Als sie diese Trauermusik probehalber beim Bremer Musikfest vorführten, erstmalig auf deutschem Boden seit 1728, wurden gleich acht Leute im Publikum ohnmächtig. Nicht aus Protest gegen Bach-Verballhornung; auch nicht Macht der Musik halber. Es ging, wie Pichon später erfuhr, nur gerade eine Fischvergiftung um in Bremen.

eeb

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