Produktdetails
- Anzahl: 7 Audio-Cassettes
- Erscheinungstermin: 1. März 1996
- Hersteller: Universal Vertrieb - A Divisio / Deutsche G,
- EAN: 0028944968149
- Artikelnr.: 42272027
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2024Auf geht's zum Weltfest des Todes
Claudia Bossards Münchner Bühnen-Ritt über Thomas Manns "Zauberberg"
Als das Ende naht, ist das Chaos perfekt: Vetter Joachim hat sich aus dem Tuberkulose-Tod reinkarniert und als Geist am "guten Russentisch" Platz genommen, um in bestgelauntem Schweizerdeutsch Nero d'Avola zur Stangensellerie zu bestellen. Hofrat Behrens, Dr. Krokowski und der langhaarige Concierge ohrfeigen einander, um wieder im kranken Albtraum ihrer Sanatoriumsfarce aufzuwachen. Humanist Settembrini und Faschist Naphta teilen sich eine Zigarette, um sich gleich darauf auf der langen Anstaltstafel zu duellieren und schließlich im innig inklusiven Bruderkuss selbst zu verraten. Die russische Diva und der niederländische Kolonialherr schlürfen Wodka mit Blue Curaçao und feiern schwärmerisch die Freiheit des Gefühls. Ein Schuss löst sich und trifft den Falschen.
Mehrere Gegenschüsse lösen hier, an Ort und Stelle des Luftkurortes, am höchsten zivilen Zipfel Europas, stellvertretend den Ersten Weltkrieg aus. Im Nebel der Coda zieht Hans Castorp als Kanonenfutter ins Flachland, "des Lebens treuherziges Sorgenkind" ins "Weltfest des Todes".
Es ist das Finale eines aufregenden Ritts über Thomas Manns "Zauberberg". Die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard hat diesen fürs Münchner Volkstheater auf die bis in die Hinterbühne hinein aufgerissene, fast leere Bühne gehievt. Dort in der Ferne, gewissermaßen am horizontalen Gipfel in 37 Metern Höhe, schlägt das akustische Herz der Inszenierung. Indem er den dröhnenden Unterton wie den Puls des Spiels und seiner Protagonisten in einzelnen Beats, virtuosen Soli und Soundcollagen mit aufzeichnet, könnte der Live-Schlagzeuger Alexander Yannilos im Duett mit den weiteren musikalischen Einlagen durchgehend als Erzählinstanz des dramatisierten Prosaabends fungieren. Was die Regisseurin daran hindert, ist wohl der buchstäbliche Respekt vor dem 2024 hundertjährigen tausendseitigen "humanistischen Denkwerk".
Ein Bildungsroman? Ein Anti-Bildungsroman? Darüber scheiden sich nicht nur die Geister - auch Claudia Bossard und ihr Dramaturg Leon Frisch vermögen sich nicht zu entscheiden zwischen einem tief diskursiv inhalierten Ernst aus Geist und Materie, Menschsein und Kranksein, Intellekt und Affekt, Leben, Lieben oder Tod und einem eher flach geatmeten, pointenreichen Spaß hinsichtlich einer geradezu märchenhaften "Bummelei" unter der hochgradig abgeschiedenen Glasglocke der Davoser Anstalt.
Die große Stärke der Inszenierung liegt in der Darstellung der Absurditäten und Kuriositäten. Als dort, wo die Zeit unendlich lang scheint, auf einmal der Raum knapp wird, findet sich der Humanist auf verlorenem Posten wieder: "Wenn in Potsdam Worte fallen von Remigration, was soll ich Ihnen dann noch erzählen?"
Statt mit zwei Männern sind die beiden Führungskräfte des "Berghofs" schlau mit zwei Frauen besetzt. Die eine, Luise Deborah Daberkow als Hofrat Behrens, überfährt die wehrlose Energie der fiebrig glänzenden Insassen mit falsch-freundlichen Sprachsalven. Die andere, Nina Steils als Dr. Krokowski, übt den gleichen Druck unterschwellig als lieblich säuselnde Ergotherapieparodie aus.
Dem haben die intellektuellen Wortgefechte von Steffen Links Joachim, Jakob Immervolls Settembrini und Alexandros Koutsoulis' Naphta nur Unkomödiantisches entgegenzusetzen. Behauptung trifft auf Suada trifft auf Behauptung, und in der dünnen handlungsarmen Höhenluft des Mann'schen "Menschheitsbuches" mit "pädagogischer Neigung" geht dem Zuhörenden bald die Puste aus.
Gleichzeitigkeit ist Programm in dieser Inszenierung. Nicht immer geht sie so gut auf wie im furiosen Schlussbankett, wenn mit Pascal Fligg als großfüßigem Mynheer Peeperkorn im ozeanblauen Langhaarplüschmantel auch noch ein neuer Charakter eingeführt wird oder wenn im Stakkato von Mozarts "Alla Turca" zugleich Basketbälle geprellt und Tischdecken ausgeschüttelt werden. Wahlweise gute Ohren oder starke Nerven braucht das Publikum etwa in der "Walpurgisnacht": Während auf der Hinterbühne der Faschingsrave tobt, kann Liv Stapelfeldts Madame Chauchat, die hier völlig unbeeindruckt von der Männerwelt ihr Ding durchzieht, vorn mit dem spröden Hamburger Gast anbandeln. Jan Meeno Jürgens spielt diesen Hans Castorp, der statt des dreiwöchigen Besuchs bei Vetter Joachim am Ende für sieben Jahre in der Höhenluft bleibt, als aufgeweckten, aber nicht engagierten, zunehmend erschlaffenden privilegierten Raushälter. Wenn der nicht weiterweiß, weil ihn irritiert, dass er etwas fühlt, verflucht er sich selbst: "MannMann-Mann-Mann-Mann."
Dramatisch spannend bleiben ausgerechnet die beiden vermeintlich neutralen Figuren, die es so bei Mann nicht gibt. Lorenz Hochhuth informiert als gut gelaunt maskierter Concierge über das Vergehen der Wochentage. Anton Nürnberg füllt als ausdruckslose Saaltochter die Passivität des weiten Raumes von Romy Springsguth durch das unablässige Eindecken und Servieren. Sie schwafeln nicht, sie kränkeln nicht. Sie suchen nicht. Und: die beiden einzigen kurzen Momente wahrhaftiger Empathie gehören ihnen. Von ihnen hätte Hans Castorp lernen können. TERESA GRENZMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claudia Bossards Münchner Bühnen-Ritt über Thomas Manns "Zauberberg"
Als das Ende naht, ist das Chaos perfekt: Vetter Joachim hat sich aus dem Tuberkulose-Tod reinkarniert und als Geist am "guten Russentisch" Platz genommen, um in bestgelauntem Schweizerdeutsch Nero d'Avola zur Stangensellerie zu bestellen. Hofrat Behrens, Dr. Krokowski und der langhaarige Concierge ohrfeigen einander, um wieder im kranken Albtraum ihrer Sanatoriumsfarce aufzuwachen. Humanist Settembrini und Faschist Naphta teilen sich eine Zigarette, um sich gleich darauf auf der langen Anstaltstafel zu duellieren und schließlich im innig inklusiven Bruderkuss selbst zu verraten. Die russische Diva und der niederländische Kolonialherr schlürfen Wodka mit Blue Curaçao und feiern schwärmerisch die Freiheit des Gefühls. Ein Schuss löst sich und trifft den Falschen.
Mehrere Gegenschüsse lösen hier, an Ort und Stelle des Luftkurortes, am höchsten zivilen Zipfel Europas, stellvertretend den Ersten Weltkrieg aus. Im Nebel der Coda zieht Hans Castorp als Kanonenfutter ins Flachland, "des Lebens treuherziges Sorgenkind" ins "Weltfest des Todes".
Es ist das Finale eines aufregenden Ritts über Thomas Manns "Zauberberg". Die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard hat diesen fürs Münchner Volkstheater auf die bis in die Hinterbühne hinein aufgerissene, fast leere Bühne gehievt. Dort in der Ferne, gewissermaßen am horizontalen Gipfel in 37 Metern Höhe, schlägt das akustische Herz der Inszenierung. Indem er den dröhnenden Unterton wie den Puls des Spiels und seiner Protagonisten in einzelnen Beats, virtuosen Soli und Soundcollagen mit aufzeichnet, könnte der Live-Schlagzeuger Alexander Yannilos im Duett mit den weiteren musikalischen Einlagen durchgehend als Erzählinstanz des dramatisierten Prosaabends fungieren. Was die Regisseurin daran hindert, ist wohl der buchstäbliche Respekt vor dem 2024 hundertjährigen tausendseitigen "humanistischen Denkwerk".
Ein Bildungsroman? Ein Anti-Bildungsroman? Darüber scheiden sich nicht nur die Geister - auch Claudia Bossard und ihr Dramaturg Leon Frisch vermögen sich nicht zu entscheiden zwischen einem tief diskursiv inhalierten Ernst aus Geist und Materie, Menschsein und Kranksein, Intellekt und Affekt, Leben, Lieben oder Tod und einem eher flach geatmeten, pointenreichen Spaß hinsichtlich einer geradezu märchenhaften "Bummelei" unter der hochgradig abgeschiedenen Glasglocke der Davoser Anstalt.
Die große Stärke der Inszenierung liegt in der Darstellung der Absurditäten und Kuriositäten. Als dort, wo die Zeit unendlich lang scheint, auf einmal der Raum knapp wird, findet sich der Humanist auf verlorenem Posten wieder: "Wenn in Potsdam Worte fallen von Remigration, was soll ich Ihnen dann noch erzählen?"
Statt mit zwei Männern sind die beiden Führungskräfte des "Berghofs" schlau mit zwei Frauen besetzt. Die eine, Luise Deborah Daberkow als Hofrat Behrens, überfährt die wehrlose Energie der fiebrig glänzenden Insassen mit falsch-freundlichen Sprachsalven. Die andere, Nina Steils als Dr. Krokowski, übt den gleichen Druck unterschwellig als lieblich säuselnde Ergotherapieparodie aus.
Dem haben die intellektuellen Wortgefechte von Steffen Links Joachim, Jakob Immervolls Settembrini und Alexandros Koutsoulis' Naphta nur Unkomödiantisches entgegenzusetzen. Behauptung trifft auf Suada trifft auf Behauptung, und in der dünnen handlungsarmen Höhenluft des Mann'schen "Menschheitsbuches" mit "pädagogischer Neigung" geht dem Zuhörenden bald die Puste aus.
Gleichzeitigkeit ist Programm in dieser Inszenierung. Nicht immer geht sie so gut auf wie im furiosen Schlussbankett, wenn mit Pascal Fligg als großfüßigem Mynheer Peeperkorn im ozeanblauen Langhaarplüschmantel auch noch ein neuer Charakter eingeführt wird oder wenn im Stakkato von Mozarts "Alla Turca" zugleich Basketbälle geprellt und Tischdecken ausgeschüttelt werden. Wahlweise gute Ohren oder starke Nerven braucht das Publikum etwa in der "Walpurgisnacht": Während auf der Hinterbühne der Faschingsrave tobt, kann Liv Stapelfeldts Madame Chauchat, die hier völlig unbeeindruckt von der Männerwelt ihr Ding durchzieht, vorn mit dem spröden Hamburger Gast anbandeln. Jan Meeno Jürgens spielt diesen Hans Castorp, der statt des dreiwöchigen Besuchs bei Vetter Joachim am Ende für sieben Jahre in der Höhenluft bleibt, als aufgeweckten, aber nicht engagierten, zunehmend erschlaffenden privilegierten Raushälter. Wenn der nicht weiterweiß, weil ihn irritiert, dass er etwas fühlt, verflucht er sich selbst: "MannMann-Mann-Mann-Mann."
Dramatisch spannend bleiben ausgerechnet die beiden vermeintlich neutralen Figuren, die es so bei Mann nicht gibt. Lorenz Hochhuth informiert als gut gelaunt maskierter Concierge über das Vergehen der Wochentage. Anton Nürnberg füllt als ausdruckslose Saaltochter die Passivität des weiten Raumes von Romy Springsguth durch das unablässige Eindecken und Servieren. Sie schwafeln nicht, sie kränkeln nicht. Sie suchen nicht. Und: die beiden einzigen kurzen Momente wahrhaftiger Empathie gehören ihnen. Von ihnen hätte Hans Castorp lernen können. TERESA GRENZMANN
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