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Trackliste
CD
1Ob rechts, ob links, vorwärts oder rückwärts00:04:51
2Ohne zu fragen?00:04:46
3Gleichviel! Weiter!00:03:54
4Du bist immerhin zufrieden mit dir00:02:09
5Dies Entweder und dies Oder00:03:54
6Gegen seinen und euren Willen00:02:25
7Ich sollte nicht näher, denn ich verliere dabei00:05:40
8Herr, verzeih meine Überhebung00:05:10
9Herr, mein ganzes Leben lang00:03:30
10Nahst du wieder dem Licht?00:03:25
11Groáes symphonisches Zwischenspiel00:07:37
12Kammersinfonie Nr. 100:19:53
13Begleitmusik zu einer Lichtspielszene Op. 3400:08:24
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2015

Angstgegner packe man beim Horn

Das Musikfest Berlin beginnt mit einem Bekenntnis zur Moderne: Daniel Barenboim und seine Staatskapelle dirigieren ein reines Arnold-Schönberg-Programm, vor ausverkauftem Haus.

Großartig geht das los: mit Arnold Schönberg, der Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim. Und zumal den musikalischen und sozialen Fähigkeiten des Letzteren verdankt es sich, dass dieses Eingangskonzert zum diesjährigen Musikfest Berlin zu einem triumphalen Erfolg wird. Immerhin, es wird nur Musik von Schönberg gespielt, "dem größten Angstgegner des bürgerlichen Konzertpublikums", wie der "Tagesspiegel" noch am Konzerttag warnend schrieb.

Von solch schweren Gedanken ist das Konzert in der Philharmonie naturgemäß frei. Zu hell der Glanz, der seit langem über dem Musikfest mit seinen sorgfältig ausgedachten Programmen liegt, zu deutlich die Vorfreude auf insgesamt dreißig Veranstaltungen bis zum 20. September, mit aus aller Welt herbeieilenden Spitzenorchestern: dem San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas, dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta, dem Royal Danish Orchestra unter Michael Boder oder dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter François-Xavier Roth. Nicht zu vergessen das Arditti Quartet oder das Solistenensemble Kaleidoskop, das eine "Sterbeübung" nach Monteverdis "Orfeo" in den Martin-Gropius-Bau bringen wird, koproduziert mit der Ruhrtriennale. Hinzu kommen die großen Berliner Orchester, wie überhaupt einer der Festivalschwerpunkte, neben Musik von Schönberg und Mahler, das Werk des Dänen Carl Nielsen ist, für das wiederum Sir Simon Rattle sich im Vorfeld in besonderer Weise engagiert hatte.

Die Staatskapelle kam in diesem Sinne einer selbstverständlichen gastgeberischen Aufgabe nach. Leicht hatte sie es nicht. Subtrahiert man die Untertöne, die zum Bekenntnis vom Angstgegner gehören, so blieb für sie noch immer eine Musik, die durch alle Verwandlungsformen hindurch große, ja größte Anforderungen an ihre Interpreten stellt. Wer mochte, konnte sich an diesem Abend umgekehrt durch die Kompositionen Arnold Schönbergs hindurchhören wie durch ein tönendes Lebensgemälde: Aha, um 1900 komponierte er noch großzügig tonal, wenig später frei atonal, endlich zwölftönig.

So wenig gesichert diese Fiktion einer glatten Aufeinanderfolge ist, so zweifelhaft die Annahme, man könne Schönbergs Musik von ihren tonalen Anfängen aus begreifen und dann einfach immer so weiterspielen, im Wissen darum, dass die eigene Musikalität es schon richten werde, und dass sich an den Aufzeichnungsmodalitäten (an Notensystemen, Tonhöhen, Tondauern, Vortragsanweisungen) nicht viel geändert habe. Das ist zwar möglich. Außerdem hat die Staatskapelle viel Erfahrung, mit der Oper und der Virtuosität, aber auch mit der Art und Weise, ein einzigartig schimmerndes orchestrales Timbre zu erzeugen, mit dem Wechsel zwischen den Idiomen und selbstredend auch mit der Jahrhundertwende. Und doch ist das nicht die ganze Wahrheit.

Schönbergs Komposition "Verklärte Nacht" zum Beispiel, die in der Fassung für Streichorchester von 1917 gespielt wurde, fällt auf jeden Fall in das Revier dieses Orchesters. Spuren der älteren Fassung für Streichsextett ließen die wunderbaren Solisten der Staatskapelle hören, allen voran Konzertmeister Wolfram Brandl. Und gerade der Anfang klang sensationell. Barenboim zog die Klänge heran wie aus uralter Zeit (fast glaubte man das Es-Dur-Rauschen des Rheins zu hören) und hielt den Faktor "Zeit" über die Dauer dieser wunderbar gesetzten, in der Großfassung nur minimal zum Ausfasern neigenden Komposition ständig präsent, in der sorgsamen Anlage der Melodiezüge, in den unzähligen Zäsuren und dem steten Atemholen, aus dem die zu höchster Erregung sich steigernden Passagen erst ihre Kraft entwickelten.

Dieselben Strategien allerdings versagten bei den Fünf Orchesterstücken op.16, die viel mehr als einen sauberen Schlag und den Willen zur Schönheit, Analyse und Durchdringung brauchen. Zumal aus den "Farben" an dritter Stelle, in denen ein Akkord durch die Stimmen wandert (ein visionäres Exerzitium mit den Möglichkeiten jenseits der Parameter "Tonhöhe" und "Tondauer"), wurde kaum mehr als ein ratloses Aufblättern von Klängen. Zugleich zeigte sich gerade hier, wie viele Wege es bei der Vermittlung von Musik tatsächlich geben kann, denn Daniel Barenboim winkte nach Ende dieses Stückes sozusagen sämtliche Stimmführer und Stimmen einzeln hervor, ein unnachahmlich kluges Manöver, um für die mangelnde Transparenz seiner Interpretation nachträglich aufzukommen und die Komplexität dieser Musik noch einmal vor Augen zu führen.

Dass die vollends zwölftönigen, hochvirtuosen Variationen für Orchester op. 31 besser gelangen, verwundert vor diesem Hintergrund nicht: viele Töne, viel Hitzigkeit, doch vor allem ein herrlich sangliches, mit einer Prise Zack genommenes Thema, dessen Spuren in jeder Variation hörbar blieben. Ein überwältigender dodekaphonischer Schlussakkord! Und nur wenig zuvor ein geradezu insistierendes Tonbuchstaben-Zitat, ein B-A-C-H-Verweis, der etwaige noch Ungläubige wird bekehrt haben und auf ganz eigene Weise spüren ließ, wie positiv rückwärtsgewandt Schönberg, der Fortschrittliche, immer war. Rauschender Beifall. Barenboim dankt und verbeugt sich, wie nach einem Kampf. Alsdann eilt er mit der Staatskapelle weiter nach Bonn, wo es tags darauf das Beethovenfest zu eröffnen gilt, mit Schönberg.

CHRISTIANE TEWINKEL

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